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Es war eine weite Reise von Belczonka nach Prytyk. Pan Gideon, der kein Freund der Eile war, legte sie gewöhnlich in verschiedenen Etappen zurück, indem er, je nach der Route, die man wählte, in Jedlinka oder in Radom übernachtete. Diesmal schlug man wegen des Tauwetters, des Eisgangs und des Hochwassers den längeren, doch sicherern Weg über Radom ein. Da der Winter ein jähes Ende genommen hatte, reiste man auch nicht im Schlitten, sondern im Wagen, dem zwei schwerbepackte Lastfuhrwerke mit Dienerschaft, Proviant, Bettzeug und Teppichen folgten. Man wollte die Herbergsstuben, wo man schlafen mußte, wenigstens gemütlich machen.
Als man aufbrach, schimmerten noch die Sterne, und am Osthimmel zeigte sich kaum der erste Schimmer des Tages. Frau Winnicka begann die Morgengebete herzusagen, und Pan Gideon murmelte mit Annette schlaftrunken ein eintöniges Amen dazu. Sie waren bis spät in den Abend hinein mit Vorbereitungen zur Reise beschäftigt gewesen und konnten sich nun, übernächtig wie sie waren, der Müdigkeit nicht erwehren.
Aus dem ersten Walde, in dem tausend Krähen ihr Nachtlager hatten, fuhren sie heraus, als eben das Morgenlicht rotschimmernd hervorbrach, und Fräulein Siëninska, von rosigem Schimmer übergossen, entriß sich gewaltsam der Betäubung, ihr Mund wollte sich wieder zu einem Gähnen verziehen, doch sie öffnete plötzlich die Augen weit, sah um sich und grüßte mit munterm Blick den jungen Tag, der ihr Herz mit einer unbestimmten Hoffnung, mit frohem Mut erfüllte.
Ein strahlender, klarer Tag kündete sich an. Wie Frühlingswehen lag es in der Luft. Auf den unerbittlichen Frost, auf den starken Schneefall waren plötzlich laue, sonnige Tage gefolgt. Die Leute sagten, der Winter sei wie mit einem Messer abgeschnitten. Und die Hirten versicherten, es werde keinen Nachwinter geben, da das Vieh im Stalle ungeduldig brülle, vor Sehnsucht nach der Weide.
Ja, der Frühling nahte. In den Ackerfurchen lagen noch lange Streifen Schnee, aber sie verwandelten sich unter der Wärme des Gestirns schon in sickernde Bächlein. Die braunen Felder leuchteten golden. Zuweilen wehte Sturm, aber er brachte eine so intensive Wärme mit sich, daß er sozusagen die Erde mit Sonnenstrahlen zu peitschen schien.
Der Wagen, den sechs schwere Gäule zogen, versank bis zu den Radachsen im Schlamm. Man kam nur langsam vorwärts. Die Sonne stieg höher, und es wurde allmählich so warm, daß Fräulein Siëninska die Schleifen ihrer Kapuze aufband. Gleich darauf warf sie die Kopfbedeckung vollends auf die Schultern zurück und knöpfte auch noch ihr Jäckchen aus Wieselpelz auf.
»So warm ist dir?« fragte Frau Winnicka.
»Es ist ja schon richtiger Frühling, Tante!« antwortete sie.
Und mit dem zerzausten Blondhaar, das wirr aus der Kapuze hervorwallte, mit den lachenden Augen und den rosigen Wangen sah sie so niedlich aus, daß Herrn Pongowskis strenge Augen freundlicher dreinschauten.
Er sah sie ein Weilchen an, als erblickte er sie zum ersten Mal in seinem Leben, dann sagte er halb zu ihr, halb zu sich selbst: »Auch du bist wie der Frühling, wahrhaftig!«
Sie lächelte ihn an.
»Aber wie langsam wir fahren!« rief sie aus. »Was für entsetzliche Wege! Nicht wahr, Herr Vormund, wer eine weite Reise zu machen hat, sollte warten, bis die Straßen ein wenig trocken geworden sind.«
Gideon sah wieder finsterer drein. Ohne auf die Frage zu antworten, neigte er sich zum Kutschenschlag vor und sprach: »Jedlinka.«
»Vielleicht machen wir einen Augenblick an der Kirche Halt?« meinte Frau Winnicka.
»Nein, wir werden uns nicht aufhalten. Erstens wird die Kirche wohl zu sein, weil der Pfarrer in Prytyk ist, und zweitens hat Abt Wonowski mich grausam beleidigt. Ich würde ihm nicht die Hand geben, wenn er mir die seine reichte.«
Und er setzte hinzu: »Ich muß daher Sie, Frau Winnicka, und auch dich, Annette, bitten, jedem Gespräch mit dieser Person aus dem Wege zu gehen.«
Plötzlich klapperten Pferdehufe neben dem Kutschenschlag, und Stimmen erklangen: »Seid gegrüßt! Seid gegrüßt!«
Es waren die Herren Bukojemski.
»Seid gegrüßt!« antwortete Pan Gideon.
»Euer Gnaden fährt wohl nach Prytyk?«
»Wie alljährlich zu derselben Zeit. Und ihr, denke ich auch, meine Herren?«
»Gewiß,« antwortete Markus. »Man muß sich von den Sünden reinigen, ehe man ins Feld zieht.«
»Damit hätte es doch noch Zeit.«
»Wieso noch Zeit?« erwiderte Lukas. »Die Last des Bösen fällt von den Schultern, und das schafft Erleichterung. Was die zukünftigen Sünden anbelangt, die wird uns der Priester im Angesicht des Feindes erlassen – in particulo mortis.wo man ja immer sterben kann.
»In articulo – wollt Ihr wohl sagen?«
»Es kommt nicht auf das Wort an, wenn nur die Buße von Herzen kommt.«
»Wie versteht Ihr das?« fragte Pongowski belustigt.
»Wie ich das verstehe? Gebt acht! – Nach der Beichte hatte uns der Abt je dreißig Geißelhiebe befohlen, wir haben einander fünfzig gegeben, weil wir uns sagten: Wenn das den himmlischen Mächten schmeckt, dann sollen sie eine gute Portion haben.«
Ueber diese Schnurre mußte selbst die fromme Dame Winnicka lachen. Fräulein Siëninska steckte das Gesicht ganz in den Muff, als wollte sie ihr Näschen wärmen.
Lukas und seine Brüder ärgerten sich ein wenig über diese plötzliche Heiterkeit und schwiegen. Eine Zeitlang hörte man nur das Klirren der Wagenketten, das Klappern der Hufe in dem Schlamm, das Wiehern der Pferde und das Krächzen der Raben, die in großen Schwärmen aus den benachbarten Dörfern nach den Waldungen flogen.
»Hei!« sagte dann der jüngste der Brüder, »die Vögel wittern, es wird ihnen nicht mehr lange an Aesung fehlen.«
Pongowski bestritt das.
»Sie wittern gar nichts,« sagte er, »denn der Krieg ist noch fern.«
»Fern oder nah, so kommt er doch sicher.«
»Von wannen kommt euch diese Zuversicht?«
»Von wannen uns diese Zuversicht kommt? Wissen wir denn nicht alle, was für Beschlüsse die einzelnen Landtagssitzungen gefaßt haben, und mit was für Instruktionen sie ihre Vertreter in den bevorstehenden Reichstag schicken werden?«
»Das stimmt. Aber sollten diese Beschlüsse alle so übereinstimmend sein?«
»Pan Przylubski, der unser schönes Königreich von Westen bis zum Osten und vom Norden bis zum Süden durchstreifte, hat uns versichert, daß die Beschlüsse überall die gleichen seien.«
»Was ist das für ein Herr Przylubski?«
»Ein Herr aus dem Kreise Olkusz. Er wirbt ein Fähnlein auf Rechnung des Bischofs von Krakau.«
»Wie? Es werden schon Truppen geworben, ehe noch der Reichstag sich entschieden hat?«
»Gewiß, Pan. Und ist das nicht der beste Beweis dafür, daß der Krieg nahe ist? Seine Eminenz will ein schönes Fähnlein leichter Reiterei stellen. Daher hat Pan Przylubski einen Abstecher nach unserer Gegend gemacht, zumal er wußte, daß er hier unsere bescheidenen Persönlichkeiten finden würde.«
»Meiner Treu, meine Herren, euer Ruf hat sich, wie man sehen kann, in der ganzen Welt verbreitet. Und so nehmt ihr Dienste?«
»Selbstverständlich.«
»Alle vier?«
»Warum nicht alle vier? Wenn es schon gut ist, in Kriegszeiten Freunde an der Seite zu haben. Wer aber Brüder hat, ist noch besser dran.«
»Und der junge Cypryanowicz?«
»Der dient im selben Regiment wie Jakob.«
Bei diesen Worten sah Pan Pongowski sein Mündel an, über dessen Wangen eine jähe Röte huschte. Aber er fragte weiter: »So enge Freunde sind sie schon? Und welcher Hauptmann wird sie zum Siege führen.«
»Zbierchowski.«
»Was ist das für eine Truppe? Dragoner, nicht wahr?«
»Du lieber Himmel, was denkt Ihr! Es ist das Husarenregiment des königlichen Prinzen Alexander.«
»Sieh da! Das lasse ich mir gefallen. Ein schönes Fähnlein! Nicht das erste beste!«
»Taczewski ist ja auch nicht der erste beste!«
Pongowski biß sich auf die Lippen. Er wollte schon bemerken, ein solcher Habenichts könnte doch wohl in einem so vornehmen Regiment nichts weiter als ein Troßbube sein. Aber er verschwieg diese Bemerkung, denn er fürchtete, es könne dann ans Tageslicht kommen, daß sein Brief nicht so reich mit Geld versehen und seine Unterstützung nicht so freigebig gewesen, wie er Fräulein Siëninska hatte glauben gemacht. Er zog ein finsteres Gesicht und antwortete: »Ich weiß, er hat Wyremby verpfändet. Wißt ihr, welche Summe er erhalten hat?«
»Jedenfalls mehr, als Ihr ihm gegeben hättet,« versetzte Markus barsch.
In Pongowskis Augen blitzte eine Flamme auf, aber er beherrschte sich. Es fiel ihm ein, daß ihm nur daran gelegen sein könne, sich noch genauer zu informieren.
»Um so besser,« meinte er. »Da hat er ja obenauf sein müssen.«
»He, he?« rief Lukas ironisch, denn es freute ihn, nun zu zeigen, wie wenig sich Jakob um Pongowski und alles, was Belczonka betraf, kümmerte, »laßt Euch sagen, Herr, er war närrisch vor Freude, als er fortreisen konnte. Er hat so laut gesungen, daß alle Kerzen in der Herberge in den Leuchtern schwankten. Wir haben ja allerdings auch ein tüchtiges Abschiedsfest gefeiert.«
Von neuem sah der Vormund sein Mündel an. Sie saß wie versteinert da. Die Kapuze war ihr auf den Nacken gefallen; die Augen hatte sie geschlossen. Nur das Beben ihrer Nasenflügel und ein leichtes Zucken ihrer Lippen verrieten, daß sie dem Gespräch aufmerksam zuhörte.
Wer sie so sah, mußte Mitleid mit ihr hegen, aber der unerbittliche Alte dachte: »Es muß bis auf den letzten Splitter aus ihrem Herzen gerissen werden.«
Und mit fester Stimme sprach er weiter: »Das habe ich auch vorausgesehen.«
»Was habt Ihr vorausgesehen?«
»Daß ihr zum Abschied euch der Trunksucht hingeben und Herr Taczewski mit Gesang abreisen würde. Potzblitz, ein Glücksritter muß sich eilen, und wenn ihm Fortuna zulächelt, vielleicht erhascht er sie auch.«
»Er wird sein Glück machen,« bemerkte Lukas.
Und Markus setzte hinzu: »Abt Wonowski hat ihm einen Empfehlungsbrief an Oberst Zbierchowski gegeben, denn der ist ein alter Kamerad von ihm. Zbierchow ist ein wundervolles Gut, wo die Zwiebel so üppig gedeiht wie anderswo der Roggen. Und Zbierchowski hat bloß eine Tochter . . . von fünfzehn Jahren. Jakob wird seinen Weg machen, Pan, habt keine Sorge! Er wird Eurer dazu nicht bedürfen und über die Sandwüsten von Radom gar bald die Nase rümpfen.«
»Ich sorge mich auch keineswegs um ihn,« versetzte Pongowski trocken. »Doch, ihr Herren, ihr werdet nun euern Weg rascher fortsetzen wollen, zu lange schon habe ich euch aufgehalten. Mein Wagen geht langsam wie eine Schnecke. Versäumt euch daher nicht länger.«
»Dann unsere Reverenz!«
»Mit Gott, ihr Herren!«
»Wir sind Eure untertänigsten Diener.«
Sie gaben ihren Pferden die Sporen. Als sie einen Pfeilschuß etwa vor Pongowski voraus waren, ritten sie langsamer und tauschten nun ihre Beobachtungen aus.
»Habt ihr gemerkt?« fragte Markus. »Meine Worte sind ihm ins Herz gedrungen wie eine Degenspitze. Er wäre beinahe vor Wut geplatzt.«
»Da habe ich noch besser gezielt als du,« überbot ihn Markus, »mein Hieb traf zugleich den Alten und die Schöne.«
»Womit? Verheimliche uns das nicht!« drangen die andern in ihn.
»So habt ihr es nicht gehört?«
»Wir haben es vielleicht sehr gut gehört, aber sage es uns trotzdem noch einmal.«
»Nun, ich meine die Anspielung auf Fräulein Zbierchowska, auf die Tochter des Obersten. Da ist die schöne Siëninska vor Aerger blaß geworden. Ich habe sie beobachtet, sie hielt eine Hand auf dem Knie, und die hat sie gespreizt und geballt, dann wieder gespreizt wie eine Katze, die kratzen oder zupacken will. Das ist Wut gewesen. O, ich sage euch, der Hieb hat gesessen.«
Aber Matthäus hielt sein Pferd an.
»Ich weiß nicht, mir hat sie leid getan,« sagte er. »Das arme kleine Blümlein. Und erinnert ihr euch, was der alte Herr Cypryanowicz gesagt hat?«
»Nein. Was hat er gesagt?« fragten gleichzeitig Markus, Lukas und Johannes und hielten auch die Pferde an.
Matthäus sah sie ein Weilchen mit seinen großen, runden Augen an, dann antwortete er mit einem Seufzer: »Ich hab's vergessen.«
Inzwischen fiel im Innern der Kutsche das veränderte Aussehen des jungen Mädchens nicht nur Herrn Pongowski, sondern auch Frau Winnicka auf, und sie fragte: »Was hast du denn, Aennchen?«
»Nichts,« antwortete sie, in schläfrigem Tone, mit einer sonderbaren Stimme, die nicht mehr wie die ihre klang. »Die Luft hat mich betäubt – mir ist so benommen –«
Die Worte brachen jäh ab – doch ihre Augen blieben trocken. Ihre Pupillen leuchteten in fieberischem Glanze; ihr Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. Als Pongowski das sah, fällte er bei sich selbst das Urteil: »Ich werde gut daran tun, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist.«