Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Der Weg, der sich unter dem Berghäusl vorbei an dem großen, dunkeln Berg aufwärtszog, war von den Gebirglern nur angelegt und unterhalten, weil sie im Winter aus dem steilen Hochwald ihr Holz auf dieser Seite mit der geringsten Gefahr herunterschlitteln konnten. Er war daher selten betreten. Und da er überdies noch ohne Berühren des Dorfes zu erreichen war, hatte er Moralt schon oft genug einen erwünschten ungesehenen Ausgang in's Freie geboten. Zuweilen frei am Geschröff außenhin laufend, dann wieder lange Strecken im Wald versteckt, zog er sich aufwärts, oft jäh ansteigend, vorbei an einem alten Kapellchen des heiligen Leonhard, das hoch und einsam über dem Tal mit weißem Mauerwerk aus dunkeln Tannen niederschaute, – höher, immer höher, bis wo aller Holzwuchs aufhörte und das schroffige, mit Geröllhalden durchsetzte Gebiet der Gemsjäger begann.

Diesen Weg schritt Moralt am Abend des letzten Märzensonntags aufwärts, nachdem er einen so leichten und freien Tag zugebracht, wie er seit der guten Periode in den sonnigen Tagen der Januarmitte 324 keinen mehr erlebt hatte. Er hatte mit Lust gegessen und getrunken, hatte der Nandl Geld gegeben für den Haushalt und ihr mit freundlichen, verständigen Worten gesagt, daß es ihm besser gehe, daß er die vergangenen Wochen hindurch von der schlimmen Witterung oft so angegriffen gewesen sei. Dann hatte er lange auf der Laube gesessen und an allerlei nichtigem Zeug sich vergnügt. Einem ganzen Balken der Brüstung entlang war die Kante in lauter kleine Spänchen zerschnitzelt, die nun den Boden der Laube bedeckten.

Gegen Abend aber war auf einmal ein sehnendes Verlangen in ihm erwacht, aus dem Hause fort, in die Höhe zu eilen, hoch, hoch von irgendeinem Berg herab über das Tal zu schauen, über das weite Tal, und über Berge, über viele Berge; so recht aus der Luft herab über die Welt; – ach, und zu atmen und weiten, unbegrenzten Raum vor sich zu sehen!

Nun stieg er wohl schon eine Stunde.

Der Schnee bedeckte nur noch stellenweise den Weg; meist sah der freie Fels hervor. Zur Seite standen Stamm an Stamm die alten Tannen mit ihrem düstern Grün, und eine feierliche Ruhe lag weitum. Schon war der Berg im Schatten. Doch zwischen den dunkeln Wipfeln des Abhangs hinaus sah man die 325 Häupter der jenseitigen Gebirge noch immer vergoldet zum Abendhimmel aufblinken.

Geruhig stieg Moralt höher. Es war so still um ihn, so still in ihm, so gut. Ein Murmeln wie von Stimmen ging ab und zu durch die Tannen, – das Gurgeln einer wasserarmen Quelle, die langsam zwischen Felssteinen niederrieselte. Dann war es wieder eine Weile lautlos am ganzen, weiten Berg.

Weiß aus dem schwarzen Walde trat dort oben das kleine Gotteshäuschen hervor, mit seinem uralten Ziegeldächlein, über welches die Stürme der Zeiten eine farbige und moosige Patina gezogen hatten, in wechselnden Flecken, kupferrot und schwefelfarben und grau und grün. Sauber und gleichmäßig war dagegen das Gemäuer getüncht. In der kleinen Nische über der Tür stand der Heilige in winziger Nachbildung, und verdorrte Blumen, die des Winters Brausen noch nicht hinwegzufegen vermocht hatte, lagen zu seinen Füßen. Sein größeres eigentliches Abbild aber thronte drinnen über dem Altar.

Ein paar Stufen führten zu der Kapellentür empor. Die stieg Moralt hinan und drückte auf die Klinke. Aber die Tür war verschlossen. Da blickte er, die Hand vorhaltend, durch den herzförmigen Ausschnitt im Holz, der mit einer goldgelben Scheibe vermacht war, in's Innere. 326

Dort stand, umgeben von der naiven Pracht bunter Papierblumen und goldverzierter Wachslichter, der gute Schutzheilige der Gebirgsherden in dem milden Glorienschein, welchen die gelben Scheiben der zwei Seitenfensterchen und des Türausschnittes auf seinen armen, halbnackten Leib warfen. Da stand er, in himmelblauer, sternenbesäter Nische über dem weißbehangenen Altar; und frostig und kühl und still lag es über dem kleinen Raum, über den beiden einzigen Betstühlen. So verlassen, so erstorben, – als hätte der Heilige da droben keine wundertätige Macht mehr, als hätte er aufgehört zu helfen und zu schützen und wäre nur noch eine Figur aus Holz und Gips, und als wäre das Kirchlein leer geblieben von Betern und Bittenden seit langer Zeit.

Moralt wendete sich weg und schritt weiter empor. Es schien ihm jetzt, die Sonne müsse inzwischen untergegangen sein, so dunkel war es im Walde geworden.

Ein kleiner Vogel huschte vor ihm über den Weg und ließ ein mattes Zirpen ertönen; ein zweiter folgte; sie bargen sich droben im dichten Geäst. Nur noch des einsamen Wanderers gleichmäßige Tritte und das harte Aufsetzen des Stockes aus den Felsboden hallte durch den stillen Tann.

Da führte der Weg mit einer Biegung plötzlich auf einen freien, weiten Vorsprung des Berges 327 hinaus, wo im lichten Gegensatz zu dem eindunkelnden Hang noch immer goldig und mild die Strahlen der sinkenden Sonne hinfielen. Aus dem tiefblauen, fast schwärzlichen Duftgrunde des Tales leuchteten die Zweige der nächsten Bergtannen, als wären sie durchsichtig, in goldgrüner Glut. Ein weicher Schimmer webte über Alles daher, umhüllte es gleichsam, und übergoß selbst Felsen und Stämme mit sammtweichen Lichtern.

Überrascht trat Moralt an den Wegrand hinaus und schaute hinüber auf's Gebirg und über den Absturz vor ihm zum tieferen Wald und zum Tal.

Das war der Punkt, der ihm bot, was er bedurfte: den Blick aus unendlicher Höhe hinab auf die Welt, – die Luft, davon er atmen konnte, atmen, bis er satt war, – und das Gefühl des unbegrenzten Raums!

Er blieb stehen. Er sog in tiefen Zügen des Abends milden Duft in sich und sah mit gierigen Augen in all den Goldstaub, in all das Goldlicht, welches die fernen Gipfel umzitterte. Und dieses selbe Licht begann nun auch ihn zu überfluten, seine Gestalt und sein Antlitz. Der Glanz dieses scheidenden Strahls umfloß förmlich alle seine Züge und milderte sie.

Wie bleich fürwahr war dieses Angesicht 328 geworden! Welch' ein Zeugnis war darin zu lesen vom Leiden eines wunden Gemüts, vom Leiden eines feinfühligen Geistes! Diese Resignation, dies sichtliche Verzichtethaben auf des Lebens Glück, wie sie aus dem Ausdruck der feinen Lippen sprachen, um die im Wiederschein der Sonne jetzt ein rosiges Spielen glitt, – und aus dem tiefen, grünbraunen Auge, das, die Strahlen einsaugend, unter den langen Wimpern feucht zu schimmern begann. Nichts Irres, nichts Fremdes war da mehr im Blick. Im Gegenteil: die ganze Summe des innerlich Erlebten lag in dieser Minute ergreifend zu lesen auf dem jugendlich ausdrucksvollen Kopf. Er war wie plötzlich verjüngt. Es war beinah der Kopf von einst.

Ruhig stand Moralt da, zu schauen, wie die Sonne versinke.

Jetzt glitt sie mit dem äußersten, flammenden Rand ihres Kreises hinter die höchste schneeige Spitze. Schnell, daß man ihre Bewegung verfolgen konnte, sank sie; tiefer, – tiefer, – – – jetzt war sie drunten.

Aber da – blitzte hochauf in senkrechter Richtung noch einmal ein Strahl. Jetzt – seltsamer Anblick! schoß er noch weiter empor, bis in das leichte Gewölk, welches in der Höhe lag, und durchwob es mit feurigem Schein. Und es begann zu glühen, zu leuchten, 329 wie schmelzendes Erz. Immer röter, immer blendender. Weithin warf es seinen Glutschein über Gebirge und Talgrund. Wie ein übernatürliches Gleißen zuckte es hin am weiten Firmament. Und immer deutete inmitten der Röte der eine, flammende Strahl senkrecht empor, von der Stelle des versunkenen Feuerballs gen Himmel. Groß und herrlich. Ein Feuerleuchten der ganzen Natur. Wie eine Apotheose! Wie das Emportauchen einer gewaltigen apokalyptischen Vision! –


Jetzt begann es zu verblassen; leise, leise. Und auf dem bleichen Antlitz des Einsamen, der bewundernd erhobenen Hauptes hineinstarrte in die Flut von Licht, verglomm, erlosch allmählich der rosige Wiederschein dieses letzten Grußes der Weltensonne an ihn.

Über das Tal und den Berghang legten sich, wie auf Flügeln dahereilend, alsbald die bläulichen, kühlen Duftschleier des Abends, und ein frostiger Hauch strich aus der Höhe herab.

Und sein armes menschliches Teil trug Moralt noch einmal zu Tal. 330

 


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