Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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An diesem Abend vermochte er nicht, sich zur gewohnten Zeit zur Ruhe zu legen. Zu viele Gedanken durchwühlten seinen Kopf. Die Lampe vor ihm begann schon matter zu leuchten, elf Uhr war vorüber. Das aufgeschlagene Buch lag unbenützt, es hatte ihn doch nicht abzulenken, nicht zu beruhigen vermocht. Die zeitgenössischen Autoren waren jetzt nicht das Richtige für ihn. Morgen wollte er es wieder einmal mit Goethe versuchen; hatte er ihn doch seit Wochen nicht angesehen, ihn, mit dem er sonst die erste halbe Stunde jedes Tages zu verleben gewohnt war.

Ach, auch die Bücher begannen ja für ihn bei dieser zunehmenden Verdüsterung ihren Wert zu verlieren. Anstatt ihn zu erfreuen und anzuregen, wurden sie ihm nur eine neue Quelle trüber Gedanken und trauriger Empfindungen. Bei jedem wertvolleren Roman, bei jeder guten Novelle eines modernen Autors schlich sich nagend die krankhafte Regung des Vergleichens mit seiner eigenen Arbeit ein, kam das Gegeneinanderhalten des Wertes jener geistigen Persönlichkeit, jenes Talentes und des seinigen. 232

Auch hatte er seit einiger Zeit die Gewohnheit angenommen, große Bogen weißes Papier vor sich hinzulegen, wenn er eine neue Lektüre begann; und bis er ein Buch zu Ende gelesen, standen diese Bogen mit einer Unzahl von Notizen bedeckt. Selbst kleine Meisterstücke von Naturschilderung, wenn er irgendwo auf solche stieß, schrieb er ab, wahrhaft gierig zu erfahren, mit welchen Mitteln, mit welcher Art vorzugehen, ein Anderer das wiedergab, was er vor der Natur als wesentlich empfunden, – ähnlich wie sonst wohl ein Maler das Bild eines Meisters kopiert, dem er nachstrebt, um dessen Technik vollständig zu erkennen. Aber nicht mit Ruhe, nicht mit objektivem Interesse tat er das, sondern hastig, erregt, als könnte er etwas zu lernen, zu beachten versäumen; als wäre es möglich, jetzt noch schnell ein bedeutsames künstlerisches Geheimnis zu ergründen.

Er, Moralt, der so tief in der Natur lebte, sie so genau kannte, so reich erfaßte und bereits nach Erscheinung und Stimmung so ungewöhnlich fein zu schildern die Kunst erlangt hatte, – er, der sonst so wohl gewußt, wie wenig im Grunde Einer darin vom Andern lernen kann, wie vollständig Jeder nur mit sich selber und seiner besondern Art, Natur zu empfinden, rechnen muß, – er konnte jetzt über einzelnen Schilderungen Anderer bittere Tränen in die Augen 233 steigen fühlen vor wahrer Anerkennung und vor gleichzeitig krankhafter, selbstquälerischer Vergleichungssucht.

An diesem Abend rührte er auch keine Taste an. Er hatte zu nichts Lust, an nichts Interesse. Nur Ruhe! Schlaf! Vergessen! Aber daran hinderten ihn seine wachen Gedanken. Er mußte sich heute beständig fragen, ob denn diese Zeit, in die er sich begeben, diese Zeit der Zurückgezogenheit im Berghäusl, wenn sie auf die Dauer nicht mehr Besserung zu bringen fähig war als bisher, überhaupt einen Ausgang habe in's Leben zurück? Oder war sie eine Sackgasse, in die er gelaufen? Und wenn? – –

Er schaute mit angstvoll großen Augen vor sich hin in die Leere des matterleuchteten Zimmers, hinüber an die andere Wand, an der, vom Lampenschein kaum erreicht, die Gegenstände unbestimmt im Dunkel schwammen. Sein eigenes Bild des Zweiundzwanzigjährigen nur schimmerte einen Augenblick leicht aus dem Rahmen hervor, wie ein flüchtiges Gemahnen an das unaufhaltsame Verfließen seines Lebens. Er versuchte zu denken, ein Ziel abzusehen; aber er vermochte es nur auf Augenblicke; dann verschwamm alles, was er sich von Möglichkeiten vorstellen wollte, zu einem unbestimmten, quirlenden Durcheinander. So war es jetzt immer, wenn er sich 234 bemühte auszudenken, in was für eine Zukunft er durch diese Gegenwart dahintreibe. Es ging ihm jedesmal wie einem Wanderer, der durch verhüllende Nebel den einzigen vor ihm liegenden Weg verfolgt, obschon er nicht weiß, wohin er ihn führt, und der einen Augenblick lang in der Ferne etwas erscheinen sieht und darin das zu erkennen hofft, was ihn erwartet. Aber wie er schärfer hinsieht, um zu unterscheiden, ob es eine Höhe ist oder ein Absturz, wallen die Nebel vor ihm wieder zusammen, fließen ineinander und verdecken es auf's Neue. Und er – wandelt, ohne dessen was vor ihm liegt gewisser geworden zu sein, seinen Pfad weiter.

»Ausharren, und abwarten was sein wird!« war der jedesmalige Schluß, wenn Moralt sich so um's Ende sorgte. Eine andere tägliche Pflicht als die: zu leben, erkannte er im Augenblick nicht.

Der Schein der Lampe vor ihm wurde immer matter. Die Nandl hatte vergessen, sie zu füllen. Ein Geruch von Öl begann sich zu verbreiten. Da erhob er sich von seinem Sitz und blies die müde Flamme aus. Er mußte einen Augenblick die Tür zur Laube öffnen, um zu lüften.

Der frische Hauch der Novembernacht strömte herein und umspielte sein Gesicht. Gelockt von der wehenden Kühle, trat er hinaus aus dem dunkeln, 235 qualmigen Raum auf den Altan und atmete auf in tiefen Zügen.

Da drunten lag vor ihm das ganze Tal in weichem Schimmer und Duft. In grandiosen Silhouetten löste das zackige Gebirge sich oben heraus, während die Häuser des Dorfes in der Tiefe sich schwarz als längliche Masse hinzogen und nur der schlanke Helm des Kirchturms daraus aufragte, scharf wie ein aufwärts fliegender Pfeil die schimmernde Luft durchschneidend. Die Menschen lagen längst im Schlaf. Ein träumerisches Weben hing über den schweigenden Gassen. Von weit draußen im Tal hörte man in der großen Nachtstille deutlich das niederfallende Wasser am Wehr herüberrauschen, und kurz und gedämpft klirrte zuweilen aus der schwarzen Dorfmasse das Glöcklein einer Ziege heraus, die sich im Innern eines Stalles im Traume schüttelte.

Das schwärzliche Gebirge löste sich immer mehr heraus, und darüber am Himmel, der von leichtem, weißlichem Flor bezogen war, erschien jetzt bleich schimmernd die Mondsichel, hehr und in erhabener Ruhe dahinschwimmend, wie eine ferne, lockende Aureole von Ruhm und Seligkeit.

Und eine langgestreckte Wolke, gleich einem großen Getier, das sich von jener Bergkuppe aufrichtete, stieg gegen die Mondsichel hinan. 236

Der Bleiche auf seiner Laube verfolgte ihre Bewegungen.

Das Gebilde verschob sich, veränderte sich und nahm die Form einer in wallende Gewänder gehüllten Menschengestalt an. Unverwandt schaute er zu. Da, aus dem streifigen, weißlichen Himmelsdunst hob es sich jetzt dunkel ab, das Gebild. Und während er die Umrisse des Kopfes verfolgte, schien es ihm, als würde es, ähnlicher und immer ähnlicher, der Schattenriß seiner selbst. Aber riesengroß. Und sein Kopf trug einen Kranz von schlanken, spitzen Blättern, und mit den Händen griff sein Abbild jetzt nach dem blinkenden Mond. Des Bleichen Atemzüge hielten einen Augenblick an – dann folgten sie sich in erregten, heftigen Stößen.

Denn lang und länger streckte sich die Gestalt, höher und höher griff sie aus nach dem lichten Glanz, aber immer weniger vermochte sie ihn zu erreichen. Der schwarze Berg schien sie an den Füßen zu halten, die Erde schien sie niederzuziehen, daß die Gestalt sich zur Mißgestalt verstrecken mußte in ihrem Kampf um das Unerreichbare. Immer gedehnter und sehnender wurden die Arme, das bekränzte Haupt verzerrte sich. In eine Grimasse lösten sich die Züge seines Ebenbildes auf, der Leib, der zuerst so schön gewesen, zerfloß in bedeutungslose, leere Flecken; und weiter 237 und weiter entschwamm in stolzer Ruhe auf dem silberweißen Dunstmeer die schimmernde Sichel.

Da wandte der Bleiche traurig sein Haupt und senkte den Blick; nieder in die Finsternis vor ihm.

Es war Mitternacht. Aus der Tiefe des dunkeln Dorfes klang des Wächters langgetragener, alter Singspruch zu dem Einsamen empor, – fernher, verloren, wie vom Seesgrund das schwermutvolle Lied heraufklingt aus der versunkenen Stadt der Sage. 238

 


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