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Als Kasperle noch in Torburg war, kam zum Jahrmarkt eine kleine Menagerie dahin, deren Glanzstück ein Löwe war. Mit dem Löwen war das eine sonderbare Sache. Meist lag er ganz still in einem dunklen Winkel und rührte sich nicht. Aber manchmal stand er auf und brüllte ganz fürchterlich. Er kam aber nie vor an das Gitter, sondern blieb immer im Hintergrund.
Wie der Löwe brüllte! Es hörte sich schrecklich an, und der Menageriebesitzer sagte immer: »Meine Frau kann es nicht hören, die verkriecht sich immer im Bett vor Angst, wenn er anfängt.« Wirklich war die Frau nie zu sehen, und ein alter Professor, der lauter wunderliche Einfälle hatte, sagte: »Der Löwe brüllt gar nicht wie ein Löwe, er brüllt wie ein Mensch.«
Das glaubte aber anfangs dem alten Professor niemand so recht. Alle sagten: »Der Löwe brüllt eben wie ein Löwe brüllt.« Es hatte nämlich noch nie jemand in Torburg einen Löwen brüllen hören. Darum hatten alle Angst, wenn der Löwe brüllte, am meisten fürchtete sich aber Kasperle. Das dachte immer, der Löwe wolle es fressen, gerade auf es, das kleine Kasperle, hätte er es abgesehen. Wenn nämlich Kasperle in die Menagerie hineinlief, ohne Eintritt zu zahlen, weil es meinte, es gehöre zum Jahrmarkt und hätte das nicht nötig, dann stand die Frau Menageriebesitzerin auf und sagte: »Ich geh jetzt ins Bett, der Löwe wird gleich brüllen, wenn er Kasperle sieht.«
Und richtig, kaum war sie fort, gleich fing der Löwe zu brüllen an.
Zu seltsam, und noch seltsamer war es, daß der Löwe nie zum Vorschein kam. Immer blieb er im Hintergrund. Er stand auf, reckte und dehnte sich, und Kasperle dachte: Jetzt wird er springen. Aber er sprang nicht. Der Löwe brüllte noch besser als Kasperle. Der brüllte, daß die Wände wackelten. Wenn das Gebrüll anhub, dann liefen alle Kinder, die noch Geld hatten, in die Menageriebude, um Kasperle und den Löwen zu sehen. Kasperle bebte vor Ärger, denn daß jemand besser brüllen konnte als es, das hatte es noch nie erlebt. Es sagte daher kühn: »Er soll nur kommen, ich geb’ ihm eins auf die Schnauze.«
Doch der Löwe kam nicht, und Kasperle ging nicht in den Käfig, so sehr ihm seine Kameraden auch zuredeten.
Das ging so fünf Tage lang. Kasperle und der Löwe waren das Tagesgespräch in Torburg. Die einen nannten Kasperle feige, die andern den Löwen. Es kränkte Kasperle tief, daß man es feige nannte, und es wäre schon in den Käfig gegangen, wenn der Löwe nur nicht so fürchterlich gebrüllt hätte.
Am sechsten Tage schlich sich Kasperle um die Bude herum. Die Frau saß vorn an der Kasse, obgleich kein Mensch kam, um sich die paar Tiere anzusehen. Es waren drei Affen, zwei große Papageien, ein lahmes Reh und ein Zebra, bei dem manchmal die Farbe ausging, weil es eigentlich ein angestrichener Maulesel war, dem man die schwarzen Striche aufgemalt hatte. Das wollte aber der Menageriebesitzer nicht zugeben.
Während Kasperle um das Budchen herumstrich, sagte die Frau zu ihrem Manne: »Es ist gar kein Geld mehr in der Kasse, Kasperle könnte auch mal wieder kommen und brüllen, damit ein paar Besucher hereinspazieren und Geld in die Kasse kommt, sonst müssen wir morgen hungern.«
Kasperle hatte inzwischen einen schmalen Spalt entdeckt. Da klaffte die Leinwand auseinander und Kasperle konnte ganz gut hindurchkriechen. Vielleicht gelangte es gerade beim Löwenkäfig in die Bude. Kasperle fürchtete sich mächtig, aber die Neugierde, das grimmige Tier einmal in der Nähe zu sehen, war stärker als die Angst. Es redete sich selbst Mut ein, und dann schlüpfte es durch den Spalt in die Bude. Es war dunkel darin und Kasperle stolperte gleich beim Eintritt über etwas, und fiel hin, und als es recht hinsah, war es der Löwe, über den es gefallen war. Kasperle wurde fast ohnmächtig vor Schreck, und beinahe hätte es losgebrüllt, aber da fiel ihm noch zu rechter Zeit ein, daß der Löwe vielleicht gerade schlief, und wenn er nun so unversehens aufgeweckt würde, fräße er Kasperle gewiß gleich auf. Sicher, das tat er. Kasperle stand also ganz leise auf, um den Löwen nicht zu wecken und hinwegzuschleichen. Dabei sah es aber, daß der Löwe die Augen ganz weit auf hatte. Er sah überhaupt nicht aus, als ob er schliefe, aber er rührte sich nicht. Es war doch ein seltsames Tier. Mit offenem Maul lag es da wie tot, ohne nur einen Schnaufer zu tun oder sich sonst irgendwie zu rühren.
Kasperle blieb stehen und betrachtete das Tier genauer. Da sah es, daß aus dem Bauch Stroh heraushing.
Hallo, der Löwe ist ausgestopft, dachte Kasperle. Es begann nun, sich den Löwen höchst unverzagt anzusehen. Er war wirklich ausgestopft, war nur ein Löwenfell mit einem Kopf daran. Aber er dehnte und reckte sich doch und brüllte so fürchterlich. Wie machte er das nur?
Kasperle stand da und sann und sann, bis ihm auf einmal einfiel, wie der Löwe sich bewegen könnte. Es kroch jemand in sein Fell. Ja, ganz sicher, so war es.
Kasperle dachte: Das muß ich einmal versuchen. Und eins, zwei drei riß es das Stroh aus dem Löwenbauch und kroch selbst hinein. Es schlüpfte mit Armen und Beinen in die vier Beine des Fells, und auf einmal stand ein Löwe im Käfig, reckte und dehnte sich ganz genau so, wie es Kasperle vorher fünf Tage lang gesehen hatte. Gerade wollte der kleine Schelm brüllen, als ihm etwas anderes einfiel, Es kroch rasch wieder aus dem Fell heraus, stopfte das Stroh wieder hinein und riß eilends aus.
Es war aber auch höchste Zeit. Leute kamen, die sich die Menagerie ansehen wollten, namentlich den Löwen, der wieder faul in seinem Winkel lag. Während die Besucher über die Affen lachten und warteten, bis der Löwe aufwachte, rannte Kasperle auf dem Jahrmarkt herum und rief mit schallender Stimme: »Kasperle geht nachher in den Löwenkäfig.«
Da rannte alles, was Beine hatte in die Menagerie, um das Schauspiel mitanzusehen. Die meisten sagten: »Donnerwetter, ist Kasperle mutig. Zu einem Löwen in den Käfig zu gehen, ist kein Spaß.«
Die Kinder jammerten, der Löwe würde ihr liebes Kasperle fressen, doch Kasperle erklärte kühn: »Der frißt mich nicht, ja, wenn ich ein Pfannkuchen wäre.« Über den Witz lachten zwar alle, aber unheimlich war ihnen die Geschichte doch. Am ängstlichsten war Marlenchen. Die bat ihren guten Freund himmelhoch, er solle nicht in den Käfig gehen, sie würde vor Angst krank werden. Das konnte Kasperle nicht verantworten. Es flüsterte Marlenchen etwas zu. Da ging dieses auf einmal ganz mutig in die Menagerie hinein. Und als das die anderen Kinder sahen, gingen sie mutig mit, sicher machte Kasperle irgendeinen Spaß. Es gingen so viele Menschen in die Menageriebude, daß das Geld nur so in die Kasse flog und der Besitzer der Menagerie Angst bekam, seine kleine Bude könnte umfallen. Zuletzt kam Kasperle mit einer ganzen Anzahl Kinder an. Die bezahlten alle ihren Zehner und wollten auch noch hinein. Da gab es ein großes Gedränge. Von den Erwachsenen konnten viele nicht einsehen, daß allemal da, wo ein Kasperle ist, die Kinder das Vorrecht haben. Sie schimpften, und die Kinder lachten und schubsten. Endlich gingen ein paar Einsichtige hinaus, und die Kinder bekamen Platz und sagten sehr zufrieden: »Nun kann es losgehen.« Kasperle trat an’s Gitter, und die Kinder schrien: »Es geht wirklich hinein!« Da brüllte der Löwe fürchterlich.
Kasperle erschrak ein bißchen, dachte aber gleich: Ein Fell kann doch nicht brüllen, es muß jemand drin stecken. Doch wer konnte das sein?
Etwas zitterte Kasperle doch, als es den Käfig betrat.
»Geh’ nicht hinein, es geschieht sonst ein Unglück!« schrie der Budenbesitzer. Aber da war Kasperle schon drin. Der Löwe brüllte noch lauter. Kasperle aber ging mutig weiter. Es sah nämlich, als es nahe genug bei dem Löwen war, einen Zipfel des Kleides von der Frau Budenbesitzerin aus dem Löwenbauch gucken. Da wußte es, wer in dem Fell steckte. Auf einmal schnappte die Stimme des Löwen über und man hörte nur noch ein ganz heiseres Krächzen. Das klang allerdings menschlich. Der Löwe war heiser geworden.
Aber jetzt, da er nicht mehr brüllen konnte, verloren die Kinder die große Angst, sie drängten näher an das Gitter heran und ermahnten Kasperle: »Hau feste drauf!« Kasperle wollte gerade der Aufforderung Folge leisten, als etwas geschah, das groß und klein einen tüchtigen Schrecken einjagte: Der Löwe stürzte sich auf Kasperle!
»Aber Frau Schulz!« schrie es ganz erschrocken.
Daß jemand einen Löwen Frau Schulz nennt, kam den Zuschauern doch merkwürdig vor. Sie lachten alle und fragten Kasperle: »Wie heißt der Löwe?«
Kasperle aber hatte gar keine Zeit zu antworten, es mußte sich ja mit dem Löwen herumbalgen, denn der war sehr wütend geworden. Er hatte es anscheinend sehr übelgenommen, daß Kasperle ihn Frau Schulz genannt hatte. Er zwickte und zwackte Kasperle ganz gründlich und die Kinder begannen schon zu schreien: »Er frißt Kasperle, er frißt Kasperle!«
Selbst die Erwachsenen, die den Schwindel schon gemerkt hatten, wurden unsicher. Wenn es doch ein richtiger Löwe wäre und nicht Frau Schulz, die Budenbesitzerin?
Da rief die kleine Grete, die dicht am Gitter stand:
»Er hat schon Frau Schulz aufgefressen, ihr Kleid guckt ihm noch zum Bauche raus.« Nun sahen auf einmal alle das Kleid unter dem Löwen hervorgucken, und die Erwachsenen riefen: »Frau Schulz, lassen Sie Kasperle los!«
Die Kinder lachten und die Frau merkte, daß sie erkannt war. Sie beutelte Kasperle noch einmal tüchtig und raunte ihm zu: »Du bist an allem schuld.« Dann schlüpfte sie aus dem Fell und ging vor an das Gitter. Kasperle heulte laut, und deshalb wurde Frau Schulz nicht sehr freundlich empfangen. Sie mußte bitten und betteln, mußte Kasperle um Verzeihung bitten, ehe ihr selbst der Betrug verziehen wurde. Sie erzählte nun die traurige Geschichte von dem Löwen Ali, in dessen Fell sie gesteckt hatte, und den sie einmal lebend besessen hatten. »Damals wäre Kasperle nicht in den Käfig gegangen«, sagte sie.
»Doch, Kasperle hat ja fest geglaubt, daß du ein Löwe bist!« riefen alle Kinder.
»Na, na!« meinten einige Erwachsene.
Kasperle ließ seine Nase tief hängen, und alle merkten, daß da etwas nicht stimmte. Frau Schulz lächelte ein bißchen. Sie zweifelte stark an Kasperles Mut. Sie erzählte weiter, wie Ali eines Tages ausgerissen sei und gerade ein Kind hätte anfallen wollen, ehe er von dem Vater des Kindes erschossen worden sei. Es war sehr rührend, als die Frau erzählte, daß sie durch den Verlust des Löwen in große Not geraten seien, weil niemand die Menagerie ohne den stattlichen Löwen ansehen wollte. Da sei sie auf den Gedanken gekommen, selbst den Löwen zu spielen. Viel geholfen hätte es freilich nicht, denn die Besucher hätten immer gesagt, es wäre ein komischer Löwe, der nie zum Vorschein käme. Hier in Torburg habe ihnen Kasperle durch sein Brüllen geholfen, aber trotzdem hätten sie heute früh kein Geld mehr gehabt. Das Futter für die Affen und anderen Tiere koste so viel.
So arm waren also die Leute. Kasperle, das dem Kasperlemann schon oft in der Not geholfen hatte, zeigte wieder einmal, was für ein butterweiches Herz es eigentlich besaß. Es griff in seine Hosentasche und holte zwei Zehner heraus. Die legte es Herrn Schulze in die Hand. »Für Affenfutter«, sagte es.
Es war das einzige Geld, das Kasperle besaß. Es war ihm für Zuckerstangen geschenkt worden, und alle sahen voll Bewunderung auf das gutherzige Kasperle.
Flugs fuhren da auch andere Hände in die Taschen. Von einem Kasperle wollten sich die anderen Zuschauer nicht beschämen lassen. Herr Schulz mußte beide Hände aufhalten, so viel Geldstücke bekam er.
Die Frau versprach, sie wolle nie mehr betrügen und keinen Löwen mehr spielen, und dann bedankten sich beide noch herzlich bei Kasperle, daß es ganz verlegen wurde. Und weil es gerade an den Schlitz in der Leinwand dachte, und daß es doch auch ein bißchen geschwindelt hatte, erzählte es flugs die ganze Geschichte.
»So arg mutig ist also Kasperle doch nicht gewesen«, sagte ein Herr und lachte herzlich.
»Aber gut, sehr gut«, sagte Frau Schulz. Sie wollte Kasperle einen Kuß geben, aber Kasperle sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen und schrie: »Lieber gehe ich zu einem richtigen Löwen in den Käfig, ehe ich mir einen Kuß geben lasse.«
Ja, so war eben Kasperle.