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Der Sonne entgegen.

Sie gehen eine Strecke den Weg entlang, dann hinauf zwischen die Tannen. Die Luft ist frisch und klar und voller Duft, und die Stille um sie her ist voller Worte, die nicht ausgesprochen werden.

Wie herrlich ist es, dies alles für sich zu haben! Alles ist nur für diese beiden da – die Nacht und die weite Welt.

Hier war's, wo Aslaug einst mit ihrem Herzallerliebsten ging. Arme Aslaug – sie konnte nicht anders! Während Elsa hier wandert, begreift sie es. Die beiden waren damals allein auf der Welt … sie gehörte ihm und sonst keinem!

Es war auch nicht eine Strafe des Himmels, als Aslaug in den Fluß stürzte. Eher eine Befreiung war's – selbst wenn die Art und Weise einem recht hart vorkommt.

Elsa lächelt unwillkürlich im Gedanken an die Schritte, die sie jetzt neben sich hört und die ihr vor kurzem noch so große Angst eingeflößt hatten. Sie muß wirklich ganz von Sinnen gewesen sein: kein Laut kann vertrauenerweckender sein. Dieser Laut stimmt mit ihrem eigenen Schritt harmonisch überein – denn die beiden gleiten ineinander. Wie gingen doch vorhin sie und ihr Führer jedes für sich allein den Felspfad entlang – und wie gehen sie und er jetzt miteinander!

Plötzlich bleibt er stehen, wirft den Kopf zurück und fängt aus Leibeskräften zu jodeln an. Hell und lustig und ausgelassen klingt es, und der Klang weckt da und dort einen fröhlichen Widerhall – der so eilig hinauffliegt zu dem Berggipfel, daß die kleinen Eisranunkel droben den Schlaf abschütteln und sich lachend umschauen.

Elsa lacht auch, dann sagt sie: »Aber so nehmen Sie sich doch in acht, Sie wecken ja –«

»Wen? Ich dachte mir doch, es werde ein Echo hier sein.« Und wieder jodelt er.

»Sie wecken den Tag.«

Er hält inne. »Ach nein, den wollen wir schlafen lassen!«

Höher hinauf geht es zwischen dunkeln Tannen über weiches, schwankendes Moos. Wo es sehr steil und dunkel ist, reicht er ihr die Hand zur Stütze.

Schon nach kurzem hören die Nadelhölzer auf, und sie stehen auf einer freien Alm mit sanften Hügeln. Sie klettern auf einen von ihnen und setzen sich auf den runden Gipfel. Über das Tannengehölz zu ihren Füßen weg haben sie die Aussicht auf den Fluß und die jenseitigen Berge. Von unten konnte man nur den untersten Absatz dieses Gebirgstocks sehen. Jetzt ragen neue Berge auf, Gipfel hinter Gipfel, die in der Ferne von weißem Glanz umflossen blauen. Das Licht der hellen Nacht schimmert hinter ihnen wie Silber.

Die beiden sitzen ganz still da; alles ist Ruhe und Genuß – auch das Schweigen.

Er tut einen tiefen Atemzug! »Ach, welch herrliche Erfindung ist doch das Leben! Wie hold und wonnig die Nacht ist – sie ist eine Frau, nicht wahr? Der Tag ist ein Mann – grob im Vergleich. Sagen Sie mir einmal, wo sind Sie daheim?«

»Hier auf dem Hofe, Sie wissen es ja.«

»Ach freilich! Ob es nicht die helle Nacht ist, die da drinnen in dem Festsaal sitzt und an dem großen Familienwebstuhl die silberne Dämmerung webt? … In einem weiß und hellblauen Gewand – mit einem Streifen roten Morgenrots um den Hals … Wer sind übrigens die Übeltäter, die Sie allein reisen lassen?«

»Das sind Hermann und – nein, ich selbst bin so dumm gewesen. Im übrigen ist das Alleinsein ganz herrlich. Denken Sie mal, wenn ich mit allen Hallings hätte reisen müssen! Sie hätten doch wirklich gestört.«

»Allerdings. ›Alle Hallings‹ eignen sich kaum zum Einfügen in das Märchen.«

Wieder schweigen sie. Ringsum herrscht lautlose Stille. Nicht einmal die Nacht atmet – nicht das leiseste Rauschen geht durch die Tannenwipfel zu ihren Füßen; selbst der Fluß ist hier oben nicht vernehmlich.

Dann fragt sie: »Wer geht denn in der Nacht umher?«

Er lächelt sie strahlend an und erwidert: »Wir beide, Sie und ich.«

Ach ja, das ist wahr. Auch in anderer Art als jetzt. Was ist man anderes als ein Schritt in der Nacht? Aus dem Dunkel – in das Dunkel …

»Das ist übrigens eine tiefsinnige Frage, die sich auf mannigfache Weise beantworten ließe,« sagt er kurz darauf. »Was meinten Sie damit?«

Sie erzählt ihm von jener Zeit, wo sie noch in ihrem Gitterbettchen gelegen und die nächtlichen Schritte gehört hatte, vor denen sie seither immer bange gewesen sei. Und wie sie meine, sie sitze einsam und fremd da und wisse, daß diese Schritte zu ihr hereinkommen könnten. Seit sie erwachsen sei, habe sie es noch nie jemand gesagt, denn es klinge ja gar töricht, sie fühle das jetzt; aber es sei ihr eben eine große Erleichterung, mit jemand von dieser geheimen Angst zu reden; etwas davon verschwinde, indem sie es ausspreche.

»Ja, solche einzelne Schritte haben natürlich bei Nacht von der Straße her auch zu mir herein getönt,« sagt er. »In der Stille werden sie ja besonders deutlich. Aber ich habe nicht darüber nachgedacht – wenigstens kann ich mich nicht daran erinnern. Für mich würde es in erster Linie bedeuten, daß ein armer Mensch obdachlos sei. Ich habe einen Freund, der sehr viel für die Obdachlosen tut; mit ihm bin ich oft bei Nacht durch die Straßen gewandert, um sie aufzuspüren. Und jetzt kommt es mir übrigens vor, als hätte ich oft das Gefühl gehabt, es wandere ein Obdachloser vorbei, und als müsse ich aufstehen und ihm helfen. – – Aber wo bleiben die Erdbeeren? Um sie will ich nicht kommen.«

»Jetzt wollen wir gleich suchen. – Aber können Sie das nicht verstehen: wenn ich immer geglaubt habe, es seien Schritte hinter mir, die mich einmal erreichen würden, dann war es nicht behaglich, als ich Ihre Schritte hörte, während ich mich ganz allein hinter unverschlossenen Türen befand? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schrecklich das war!«

»Und dann bin ich gekommen?«

»Ja, dann sind Sie gekommen.«

»Ob ich es wohl nicht schon die ganze Zeit über gewesen bin, der –«

»Wie meinen Sie das?«

»Der draußen in der Dunkelheit ging – der unterwegs war, schon wo Sie als ganz kleines Mädelchen in Ihrem Gitterbettchen lagen – um Sie einmal zu erreichen.«

»Dann haben Sie sehr lange gebraucht,« sagt sie.

Er erwidert nichts, und kurz nachher fügt sie hinzu:

»Und Sie gehen ja auch gleich wieder fort – weit fort. Warum reisen Sie denn dort hinüber?«

»Weil dort auch Menschen auf einsamen Höfen sitzen – im Dunkeln – und sich fürchten.«

Und es ist beruhigend, wenn er kommt – das weiß sie. Aber warum sollen die andern ihn haben?

»Aber so ist es ja überall,« erwidert sie. »Und was gehen diese Menschen Sie an? Ach, nun denken Sie, ich sei herzlos … Und das bin ich auch.«

»Nein, das hab' ich nicht gedacht. Ich habe etwas ganz anderes erfahren!«

»Doch – doch! Wohl kann ich andern alles Gute gönnen, aber niemals etwas von dem, was mir zu eigen gehört. Ich habe nicht allein den alten Aberglauben, daß die Welt das Zentrum des Weltalls sei, sondern ich meine, ich selbst sei der – Mittelpunkt des ganzen Daseins, dem alles darin zukomme – – Nun, warum widersprechen Sie mir nicht?«

»Ich denke vielleicht, daß Sie recht haben.«

»Nein – sind Sie verrückt? Nein, das denken Sie nicht, ich weiß es wohl, und ich denke es selbst auch nicht – jedenfalls in einer Hinsicht nicht; denn darüber bin ich mir ganz klar, man kann nicht ein Mittelpunkt sein, wenn man selbst nichts ist. – – Sagen Sie: sind Sie ein Pfarrer?«

»Vielleicht.«

»Warum denn?«

»Wenn ich das bin, so bin ich's, weil ich nichts anderes sein kann.«

»Und Sie meinen, die Menschen würden besser, weil Sie mit ihnen reden – und sie vielleicht dazu bringen, an ein Leben nach dem Tode zu glauben? Man kann ebenso gut sein, wenn man glaubt, es sei dann nur Nacht – ein Schlaf ohne Träume.«

»Nein, ein Menschenherz kann sich nicht damit begnügen, nur eine begrenzte Zeit vor sich zu haben, in der es schlagen darf – weil es mit dem Unbegrenzten verwandt ist. Wenn es sich mit einem solchen Genügen abfindet, ist es sehr abgestumpft.«

»Nun, dann bin ich abgestumpft. Denn ich will lieber Schlaf haben – lieber das Nichts – als ewiges Leben.«

»Nein, das wollen Sie nicht,« sagt er ruhig. »Taten beweisen das Gegenteil.«

»Was meinen Sie doch nur?«

»Sie wollten ja nicht einmal diese Nacht verschlafen. Also wählen Sie nicht Schlaf statt Leben.«

Diese Nacht verschlafen – das Märchen, die Freude, das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit, all dieses Unerklärliche! Nein, nein, niemals! Das ist ja auch etwas ganz anderes.

»Und selbst wenn Sie ein ewiges Leben entbehren könnten – was Sie aber nicht können – so wählen Sie es doch, wenn Sie erfahren, daß Einer da ist, der Sie dort nicht entbehren kann.«

»Wer? Sie etwa?« fragt sie, errötet aber dabei heftig und ist ärgerlich, weil sie so dumm gefragt hat.

»Ja – ich auch,« antwortet er.

Dann sagt sie: »Aber wie kann ich etwas wählen, an das ich nicht glaube? Und ich kann nicht an ein ewiges Leben glauben.«

»Nein, wie sollten Sie auch diesen Bissen leicht hinunterbringen!«

Ein Anflug von Ungeduld klingt durch seine Stimme, dann fährt er fort: »Es geht auch gar nicht so zu, daß man eines Tages plötzlich daran glauben kann – ich hätte beinahe gesagt, dann wäre nicht viel dabei gewonnen. O nein – man muß zu dem, der das ewige Leben ist, in ein persönliches Verhältnis treten; dann hat man es selbst. Und an das, was man hat, glaubt man doch wohl schließlich auch.«

»Ja, aber ich –«

»Sie,« sagt er, »Sie sind stark persönlich veranlagt und gerade deshalb fähig in ein persönliches Verhältnis zu kommen. Das gerade gehört her.«

»Sie kennen mich ja nicht,« sagt sie.

»Meinen Sie?«

Ach doch – vielleicht. Hat sie denn nicht gerade, seit er kam, das ganz bewußte Gefühl gehabt, er sei ihr nicht nur nicht fremd, sondern auch sie sei ihm nicht fremd. Und hatte nicht gerade dieses Gefühl sie gleich beruhigt?

»Ich glaube eher, Sie kennen sich selbst nicht,« fährt er fort.

Da steht sie rasch auf und ruft: »Wir haben ja die Erdbeeren ganz vergessen! Hier auf diesen Hügeln sollen sie wachsen. Ich werde gleich hier suchen!«

Sie kniet auf dem Rain nieder und sucht. Es ist schwieriger, als sie dachte – wird wohl fast unmöglich sein. Sie pflückt ein Blatt und hält es in die Höhe. Ja gewiß, es ist ein Erdbeerblatt! Dann müssen auch Beeren da sein. Glücklicherweise hat sie Augen wie ein Luchs. Sie legt sich fast dicht auf den Boden, während sie zugleich mit den Händen umhertastet.

Eine kleine dunkle Beere, die auf ihrem dünnen Stiel schwankt – Noch eine … viele! Bei Tag ist es hier gewiß ganz rot von Beeren.

Während sie pflückt, fragt sie sich unwillkürlich, warum sie nicht mehr lachen? Alles ist ebenso schön wie vorher – aber jetzt steigen ihr dabei die Tränen auf.

Auf dem Hügel liegt er halb ausgestreckt. Sein starker Nacken und seine Schultern heben sich dunkel vom hellen Himmel ab. Singt er? Ja! – Nicht laut – aber wie weit trägt doch seine Stimme! Was singt er denn?

– – »O Tabor komm, laß meinen Fuß betreten
Den heil'gen Grund! Heb über diese Erde
Mich hoch empor – laß mich weitschauend beten!« – –

Viele Beeren findet sie nicht – es ist zu mühselig in diesem Halbdunkel – aber sie sind groß und duften herrlich. Sie hält sie in ihrer hohlen Hand wie in einer Schale und reicht sie ihm hinauf.

Er legt seine Hand unter die ihrige – hebt sie an seinen Mund und ißt die Beeren daraus – so vorsichtig, daß seine Lippen kaum ihre Handfläche berühren. Kein Wort sagt er, nicht einmal danke.

»Sind sie gut?« fragt sie.

»Ja. Voll Waldesduft und Süßigkeit.«

Jetzt setzt sie sich neben ihn. Wie ernst er geworden ist! So starke Übergänge hat sie noch nie bei einem Manne angetroffen.

»Warum können wir nicht mehr lachen?« fragt sie, während sie einen langen Grashalm durch ihre Finger zieht.

»Das hat aufgehört, seit wir von den Schritten in der Nacht sprachen,« sagt er. »Wenn man diese hört, lacht man nicht.«

»Ach, haben Sie sie nun auch gehört?« versetzt sie.

»Ja, und nun kann ich sie nicht mehr los werden.«

»Nein, das kann man nicht.« – Ach doch, hier in dieser Nacht sind sie verschwunden gewesen, daß sie fast geglaubt hat, sie seien überhaupt nicht mehr da. Aber sie werden sich schon wieder melden.

»Es war recht dumm von mir, diese Schritte überhaupt zu erwähnen,« sagt sie nach einer kleinen Weile; »sonst wären Sie frei von ihnen geblieben.«

»Wäre ich? – – Ach, das ist Unsinn!« murmelt er, indem er sich mit einem Ruck aufrichtet. »Und es ist doch gerade ausgezeichnet, daß Sie mit ihnen herausgerückt sind. Wir müssen dieser Sache ja auf den Grund gehen, um sie uns so recht klar zu machen – müssen den Namen des Kobolds herausfinden, um ihn zum Entweichen zu bringen.«

»Ob Sie wohl so klug sind, dies zu bewerkstelligen? Nun wer geht also in der Nacht um?«

Die Helle vor ihnen bekommt allmählich einen silbernen Schimmer. Und ein Hauch von Rot mischt sich in den Glanz.

»In diesem Augenblick hier würde ich sagen: der Tag ist's, der kommt. Seine Schritte sind noch nicht ganz deutlich – aber sie rücken unaufhaltsam näher.«

Ja, und dann ist das Märchen zu Ende. Der Tag wird den Zauber brechen. Er hat für sie einen Wagen nach Süden – für ihn den Bergpfad nach Norden. Und niemand kann den Tag aufhalten.

»Aber die Erklärung könnte noch etwas tiefer und umfassender sein,« beginnt er wieder. »In gewisser Hinsicht möchte ich zwar am liebsten gar nicht erklären« – die Arme um den Kopf geschlungen, lehnt er sich zurück ins Gras – »die Sache selbst ist doch immer größer als die Erklärung. Wie vielem raubt man nicht das Leben, indem man es mit Worten auszulegen versucht! Ich habe Angst, mich als vertrockneter Schulmeister zu zeigen – und Sie zu langweilen – – Nun, fangen wir also an!« Damit richtet er sich auf und nimmt ihre eine Hand in die seinige.

Ihr ist, als könne jetzt, während sie hier mit dieser Hand in der ihrigen am Rain sitzt, jedweder Schritt daherkommen – es würde sie nicht anfechten.

»Die Lage ist also folgende,« sagt er. »Von uns Menschen ist jeder allein, jeder für sich allein und fremd, in einem öden Hofe – geradezu einer Grabkammer. Wir sind von den andern abgeschnitten – aber da, wo wir am liebsten zuriegeln würden, um die Nacht auszuschließen, da ist eine offene Tür – – So haben Sie es doch selbst beschrieben.«

»Ja. Jetzt ist es gerade, als sei ich ein Konfirmand, den Sie abfragen.«

»Nein. Sie sind viel jünger als jeder Konfirmand – und ich sitze auf derselben Schulbank wie Sie. – In der Nacht vor der Tür werden Schritte laut.«

»Ja, ein einzelner Schritt. Manchmal vielleicht ein paar oder mehrere, aber sie laufen ineinander. Es ist, als sei es immer nur der eine.«

»Ganz richtig. Und wenn es für diesen nächtlichen Schritt mehrere Namen gibt, so sind es auch nur verschiedene Bezeichnungen für dasselbe. Was da draußen geht, ist in erster Linie die Schuld. Die Schuld des Tages, die in der Nacht umgeht – des Tages, wo gehandelt, gefeilscht, gegessen, getrunken, gefreit wird … An all diesem klebt Schmutz. Bei Tage ist es, als sei keine Schuld dabei; diese wird übertäubt, sie verhält sich ruhig. Aber bei Nacht steht sie auf und geht um. Man hört sie kommen … Es ist unsere Schuld.«

Sie macht eine Bewegung.

»Nein, nein,« sagt er rasch, »ich meine nicht, daß wir etwas Schreckliches getan hätten, etwas ganz Schlimmes, wie so mancher andere. Aber wir sind nicht gut – das ist unsere bodenlose Schuld. Deshalb erkennen wir auch den Schritt draußen; wir haben teil an all dem Bösen, das in der Welt geschieht – wir hätten es unter anderen Verhältnissen auch tun können. Wir sind dafür verantwortlich.«

»Ja,« sagt sie und hebt ihr Gesicht zu ihm auf, »alles ist meine Schuld.«

Er hält inne … streicht sachte mit seiner Hand über die ihre, und mit einem so weichen Klang in der Stimme, wie sie ihn einer männlichen Stimme nie zugetraut hätte, sagt er:

»Ja, alles ist Ihre Schuld … aber in erster Linie die meinige.«

Gleich darauf spricht er wieder:

»Die Schuld, die in der Nacht umgeht, die auf unsere Tür zukommt, nennen wir –«

»Gewissensbisse,« wirft sie ein.

»Nein, Wiedervergeltung. Gewissensbisse sind das, was wir fühlen – oder nicht fühlen.«

»Ja, Wiedervergeltung – das kenn ich,« sagt sie. »Selbst für die kleinsten Dinge – fast lächerlich buchstäblich. Aber ich glaube doch, viele entgehen ihr. Den Schlechtesten geht es ja doch am besten in der Welt.«

»Nein, das ist nur so ein Gerede! Es sieht nur so aus. Niemand hat einen so unvermeidlichen, einen so todsicheren Pfeil auf seinem Bogen wie die Wiedervergeltung. Sie schreibt nichts in das Buch der Vergessenheit. Selbst das allerkleinste Unrecht, das beinahe Gute, was wir getan haben, sammelt sie zusammen und schärft es zur Waffe gegen uns. Sie kommt bis an die Zähne gewappnet mit all dem Bösen, das von uns selbst stammt. Deshalb flößt sie uns solche Angst ein. Und während die Wiedervergeltung also Schritt mit uns hält, wird sie unser Schicksal

»Nein, Schicksal paßt da nicht her,« versetzt sie. »Schicksal kann ebensowohl etwas Gutes bedeuten. Und wenn es böse ist, ist es oft ganz unverschuldet.«

»Aber ich halte das Wort doch fest. Es ist nun einmal der Ausdruck für das Unabwendbare, ›das böse Glück‹ geworden. Und unverschuldet – ja gewissermaßen. Trotzdem wächst das Schicksal aus Schuld heraus – aus bewußter oder unbewußter, aus unserer eigenen oder der anderer – deshalb können wir ihm nicht entrinnen. Ich kann dabei mitreden. Bei Tage meint man wohl, man sei stark genug, um sein Schicksal zu überwinden, oder leichtfüßig genug, ihm zu entlaufen – und bei Nacht hört man es auf seine Tür zukommen.«

Sie sitzt in Gedanken versunken da und pflückt kleine farnkrautartige Mooszweiglein ab. Schicksal – ja, was ist das für eine merkwürdige Macht, die einen hineinführt in das Unbegreifliche, die einen dazu bringt, das Leben in verkehrter Weise zu führen? Sollte darin eine Art Wiedervergeltung liegen?

Der blaßrote Streifen hinter den Höhen vertieft sich ganz sachte.

»Was ist Ihr Schicksal?« fragt sie.

»Das ist nicht leicht herauszufinden. In ganz alltäglichen Ausdrücken würde ich sagen, mein Schicksal ist, zu spät zu kommen. Ich verpasse mich selbst – ohne etwas dafür zu können. Ich kann Ihnen nicht sagen, wessen ich gerade kürzlich verlustig gegangen bin – mit besseren Bedingungen als andere, es zu erreichen, mit größeren Aussichten dazu – weil ich – – Nein, es ist zu umständlich, es zu erklären. Nun werde ich wohl niemals den Platz ausfüllen, der doch der meinige ist.«

»Aber hier sind Sie gerade im rechten Augenblick gekommen – trotz Ihres Schicksals,« entgegnete sie.

»Hier!« … Diese Mannesaugen flammen ihr so blau und so scharf in die eigenen Augen, daß sie die ihrigen schließen muß. Sie senkt den Kopf – es saust ihr in den Ohren. Sie will nicht herausfinden, was er meint.

Dann redet er wieder – ganz ruhig.

»Schließlich wird das Schicksal zum Tode … O ja, all das andere war wohl auch schon der Tod – alles, Schuld, Wiedervergeltung und Schicksal. Der Tod ist es, der in der Nacht draußen umgeht – um uns niederzutreten.«

»Ja, der Tod« – sagt sie. »Der ist ja schon hinter uns her, ehe wir geboren werden. Manchmal kommt mir das zu schrecklich vor: ohne unsern Willen werden wir in etwas hineingestellt, das nur mit dem Tode abgeschlossen werden kann. – Ja, jetzt haben Sie der Spukgestalt den Namen gegeben – aber sie entflieht deshalb doch nicht. Sie kommt deshalb doch sicherlich in jeder Nacht wieder auf uns zu.«

»Ich bin auch noch nicht fertig,« sagt er.

»Nicht?«

»Nein, jetzt komme ich erst zu dem, was ich sagen wollte. Aber das ist noch schwerer in Worte zu fassen. Es wird mir nur schlecht gelingen.«

»Ach, das tut nichts! – Gibt es denn noch andere, die in der Dunkelheit umgehen?«

»Einen – ja. Und eigentlich ist er der einzige.«

Es wird heller ringsum. Der rosige Schimmer erstreckt sich höher am Himmel hinauf, aber ganz unten, hinter den blauenden Berggipfeln glüht er am dunkelsten. Dort ahnt man einen lodernden Mittelpunkt, wovon er ausströmt.

»Meinen Sie nicht,« fährt er fort, »in dieser Nacht sei etwas, was Sie nie vergessen werden? Ich meine, daß Sie dasaßen und das Schlimmste erwarteten – den Tod selbst. Und dann kam nur – –«

»Dann kamen nur Sie. Ja, das werde ich sicher nie vergessen.«

»Ich kam ja ganz zufällig. Aber – wenn ich Sie nun da in der Nacht voller Angst hätte sitzen sehen können und gehört hätte, daß die Schritte eines Mörders auf dem Weg zu Ihnen seien – und dann in die Nacht hinausgestürzt wäre, um mit den Räubern auf Leben und Tod zu kämpfen, und die Räuber zu Boden geschlagen hätte, und allein zu Ihnen gekommen wäre – – Dann, ja dann hätten Sie ein zwar blasses, aber ganz verständliches Bild von dem, was ich sagen wollte.«

Sie schüttelt den Kopf, dann sagt sie:

»Ich pflege sonst nicht dumm zu sein – aber was Sie hier meinen, muß ich doch noch deutlicher erklärt bekommen.«

»Ich meine, der einzige, der in die Dunkelheit, in der wir sitzen, hineinsehen kann, der einzige, der hören kann, welche bösen Schritte in der Nacht zu uns auf dem Wege sind – dieser einzige sei selbst in diese Nacht hinausgegangen – hinausgegangen, um bis aufs Blut mit Schuld und Schicksal und Verdammung zu kämpfen – sie zu überwinden, sie niederzutreten. Das ist geschehen – sie liegen unter seinem Fuß. Er sagt: ›Der Schritt in der Nacht, das ist der meinige – meiner und kein anderer – für den, der mich aufnehmen will.‹«

Einen Augenblick herrscht Schweigen zwischen ihnen, dann sagt sie:

»Ich verstehe Ihr Bild gut, und der Gedanke darin kommt mir zwar sehr schön vor, aber ohne Wirklichkeit. Alles Böse ist ja trotzdem da. Auch für die Christen – auch für Sie.«

»Nein. Ja doch, gewissermaßen ist es da. Aber es sind geschlagene Feinde.«

»Ach, was will das heißen? Haben Sie denn keine Schuld?«

»Doch, Sie wissen es ja. Und weil sie vergeben ist, schmerzt sie sogar noch mehr als vorher. Aber sie bedroht mich nicht mehr – ich bin ihr nicht mehr verfallen. Die Wiedervergeltung liegt jetzt nur noch in der Hand, in der sie zu einer guten Gabe werden kann. Und das Schicksal! Ja, wissen Sie nicht, selbst Tycho Brahe, der doch an das Horoskop glaubte, hat festgestellt und mußte erkennen, daß in der Brust des Menschen etwas ist, das das Schicksal überwinden kann, denn ›das in uns, was im Bunde mit dem Göttlichen ist, ist stärker als die Sterne‹, sagt er.«

»Und dann ist Ihr Schicksal doch stärker als Sie? Wie ist das möglich?«

»Nein, nur ›mein Bund mit dem Göttlichen‹ ist dann nicht stark genug, darin muß es liegen. Aber es muß erreicht werden. Was ich vorhin sagte, war mutloses Gerede. Ein Tag wird kommen, wo ich meinem Schicksal den Fuß auf den Nacken setze – weil es für mich gefällt worden ist – und mein Leben erreiche.«

»Glauben Sie?« – Auch hier? ist sie auf dem Punkt hinzuzufügen, hält es aber zurück. – »Aber dann ist ja noch der Tod da. Und um den können weder Sie, noch sonst jemand herumkommen.«

»Nein – aber er ist für uns verwandelt.«

»Das ist eine Redensart – weiter nichts.«

»Ist es eine Redensart, wenn ich sage, der Hof hier sei in dieser Nacht für Sie verwandelt worden? Nur weil ich kam – nur weil wir nun zu zweit waren.«

»Nein, das ist Wirklichkeit,« gibt sie zu. »Der Hof ist verwandelt worden. Und ich selbst bin auch eine ganz andere geworden, als ich sonst zu sein pflege. – – Und dabei hatte ich doch fast darum gebetet, Sie möchten vorübergehen.«

»Ach, niemand ist so aufrichtig wie Sie!« sagt er warm. »Aber nun verstehen Sie wohl, wie auch das andere Wirklichkeit ist? Der Tod ist verwandelt, weil – ›ob ich auch wandere im finstern Tal, so bist du doch bei mir.‹ Wenn wir das Leben bei uns haben – was wird dann aus dem Tode? Wir wissen es, ehe es geschieht, nicht nur, weil wir es glauben, sondern weil, wie Sie sagen, wir selbst, die wir halb oder ganz tot sind, verwandelt worden sind. Wir haben Leben empfangen.«

Der Schein am Horizont wird glühender – wie helles Blut, wie rotes Gold. Die Berggipfel, die sich dunkel von dem Glanz abheben, schimmern veilchenblau.

Sie sieht ihm ins Gesicht. Der Glanz der Morgenröte liegt darauf. Seine Augen leuchten, und sie weiß, die ihrigen leuchten auch.

Sein Blick trifft den ihrigen, und er sagt überrascht:

»Aber Ihre Augen sind ja blau?«

»Jawohl, das sind sie, aber niemand glaubt es.«

Ach, könnten sie doch geradeswegs in den Sonnenaufgang hineingehen! Über die veilchenblauen Zinnen hinweg klettern, dem rotgoldenen, lebenswarmen Glanz entgegen – fort von dem Tag, der sich da drunten auf leisen Sohlen nähert, fort von der Nacht mit all ihren Schritten!

»Kommen Sie, wir wollen da hinaufgehen! Ich kann gut,« sagt sie.

Ach nein – das lassen sie wohl bleiben! Nach einer kleinen Weile gehen wir wieder in den Hof hinunter, um noch ein paar Stunden zu ruhen; dann wandert jedes seinen eigenen Weg weiter.

Er ist aufgestanden und steht nun neben ihr.

»Ich möchte Sie um etwas bitten,« sagt er.

»Es ist Ihnen gewährt,« versetzt sie.

»Wenn Sie nun bei Nacht wach liegen und die Schritte draußen vernehmen – oder vielleicht hören Sie sie auch hinter sich – wollen Sie dann denken, ich sei es? Ich sei es, der da draußen geht und Sie behütet – ich sei es, der kommt … Ja, Sie können wohl sagen, das sei nicht wirklich – aber es liegt doch Wahrheit darin. Ich bin nicht nur Ihr Freund von dieser Nacht – ich bin Ihr Freund in der Nacht. Wollen Sie sich daran erinnern, so oft die Freunde des Tages verschwunden sind?«

»Ja, das will ich.« Es ist wie eine Enttäuschung dabei … Was hat sie denn gedacht, um was er sie bitten würde?

Immerhin – daß er diese törichten, schreckhaften Vorstellungen, um die sich kein anderer kümmert, mit ihr teilen will, rührt ihr das Herz. Sie streckt ihm die Hand hin. Er nimmt sie und legt sie einen Augenblick an seine Wange.

Sie denkt zuerst, er wolle sie küssen – aber die leichte Berührung dieser sonnverbrannten, etwas rauhen Männerhaut rührt sie mehr.

»Ich bin Ihr Freund in der Nacht,« wiederholt er. »Vergessen Sie es nicht!«

»Nein.«

»Sie sollen sich nicht allein mit Angst und Dunkelheit herumschlagen! … Es wird allerdings einmal ein Tag kommen, wo es Ihnen ist, als genüge dieser Freund nicht – als genüge er nicht, selbst wenn er wirklich käme.«

»Nein, niemals!« erwidert sie. »Ich vergesse ja nicht, wie es ist, wenn Sie kommen.«

»Immerhin« – er schüttelt den Kopf. »Was kann ich! Eines Tages werden Sie es selbst fühlen. Aber das tut nichts. Dann werden Sie sich nach einem Freund in der Nacht sehnen, einem Freund mit einem größeren Herzen, der Angst und Einsamkeit mit Ihnen teilen kann – mit einem Herzen, das Kraft und Macht hat, alle Todfeinde, die draußen in der Dunkelheit umgehen, weit, weit wegzujagen, ein Herz, das Sie selbst verwandeln kann – zur Ähnlichkeit mit sich selbst – und sich nach diesem Herzen zu sehnen, so weit müssen Sie kommen.«

Über purpurfarbenen Höhen geht die Sonne auf. Die beiden stehen mitten in Licht und Wärme.

Wer hat es gesagt: »Aber die rote Sonne, das war sein rotes Herz …«


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