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Ein Pfad führt übers Gebirge.
Ein einsamer Pfad … Er schlängelt sich hinein und hinaus, wie weit umherspähend und nach jemand ausschauend, der nicht kommt.
Auf der einen Seite steigt die schwarze mit Tannen bestandene Felswand fast senkrecht empor. Und drunten in der Tiefe, nach der andern Seite hin, sprüht es weit herauf von dem reißenden Gebirgsbach, der nicht weit umher nach jemand ausschaut, weil er nur auf sein Ziel losgeht und wild um die schwarzen Felsen schäumt, die ihn in seinem raschen Lauf aufhalten wollen.
Auf dem jenseitigen Ufer des Flusses ragen wieder mit dunklem Nadelholz bestandene Felswände empor. Ab und zu leuchtet auf dem Erdboden zwischen den Stämmen helles Renntiermoos, und etwas geisterhaft sieht es aus in seiner weißlichen, schwankenden Weichheit – wie Tang auf dem Meeresgrund – aber es ist darum nicht minder düster dort drüben.
Bisweilen schlüpfen schweigende Vögelein hastig zwischen den Tannen umher – aber es wird darum nicht belebter dort.
An jenem Sommertag, als der Abend schon herannahte, gingen zwei Menschen diesen Pfad entlang.
Links hatten sie die Felswand, rechts die tiefe Schlucht mit dem rauschenden Strom.
Eins zwei – eins zwei … Unwillkürlich gingen sie im Takt, mit jenem festen, kräftigen Gang, den man anschlägt, wenn man einen weiten Weg vor sich hat.
Eins zwei – eins zwei … Ihre eigenen Schritte leisteten ihnen Gesellschaft, und es war fast, als fänden sie allmählich darin eine Art Unterhaltung.
Miteinander sprachen sie nicht. Sie hatten das Notwendige gesagt, nun waren sie fertig. Wenn man keine anderen Berührungspunkte hat, als daß man ein einziges Mal denselben Gebirgspfad wandert, hat man bald die Worte verbraucht, die man einander zu sagen haben kann. Er hatte gefragt, wie alle hier zu fragen pflegten: »Bist du aus Christiania?« Und als sie antwortete, sie sei von weiter her, gab er es auf, sich des näheren zu erkundigen.
Nun wanderten sie auf dem Pfade dahin, jedes in seiner Welt, so vollständig gleichgültig gegen einander, wie der Pfad und der Gebirgsbach hier, die jahraus jahrein nebeneinander herliefen, aber nichts miteinander teilten – oder vielleicht gerade so gleichgültig gegen einander, wie nur zwei Menschen es sein können.
Er ging ruhig und bedächtig, ein paar Schritte vor ihr – sie hatte es so eingerichtet, weil es ihr unausstehlich war, Schritte hinter sich zu haben – und dachte gar nichts, oder so wenig wie nur möglich. Was hätte das auch für einen Zweck gehabt, wenn jemand nichts anderes zu tun hat, als nur zu gehen? Dazu gebraucht er nur die Beine, und seine Beine waren wahrlich sehr gut – sie gingen ganz von selbst – bis ans Ende der Welt, wenn ihnen nicht vorher Halt geboten wurde.
Sie ging – den hellblauen Rock über den Arm aufgenommen, um leichter ausschreiten zu können – auf kleinen sicheren Füßen, die unter den Spitzen des leinenen Unterrocks rasch ausschritten, und hing ihren Gedanken nach, um die Müdigkeit zu vergessen; oder sie ließ die Gedanken kommen und gehen wie sie wollten.
Unwillkürlich mußte sie über ihre jetzige Lage nachdenken, und sie wurde nicht damit fertig, sich darüber zu verwundern.
Daß sie hier mutterseelenallein mit diesem Manne dahinwanderte – links eine Felswand und rechts einen brausenden Strom, während die Abendschatten lang und dunkel wurden, das war mehr als unbegreiflich.
Was würde Ejnar sagen, wenn er es wüßte? Was würde doch Ejnar dazu sagen?
Nun, eigentlich war Ejnar schuld daran. War er es nicht gewesen, der so hartnäckig verlangt hatte, daß sie seine »norwegische« Schwester in ihrem entlegenen Pfarrhaus besuchen sollten?
Und Ejnar war es auch gewesen, der, als sein kurzer Urlaub vom Krankenhaus zu Ende war, vorgeschlagen hatte, sie solle noch drei Wochen da droben bleiben, da sie ja dann mit der Schwester des Pfarrers nebst deren Mann und Kindern, die auch zu Besuch da waren, bis Christiania reisen könne.
»Es ist ganz erstaunlich, wie gut dir die Gebirgsluft bekommt,« hatte er gesagt. »Du wirst sehen, schließlich bekommst du auch noch rote Wangen.«
Nein, dafür bedankte sie sich! Ohne ihre Blässe hatte sie gar nicht ihr richtiges Gesicht – nicht den richtigen, etwas dunklen Glanz in den Augen. Aber allerdings, etwas frischer und gesünder als im letzten Winter durfte sie schon aussehen; und sie fühlte selbst, welche Fortschritte sie in dieser Richtung da droben gemacht hatte.
Trotzdem hatte sie sich gesträubt, noch länger zu bleiben. Sie sagte, sie fürchte sich vor der Langeweile, wenn Ejnar abgereist sei. Und was wohl ihr Vater dazu sagen würde?
Ejnar hatte erwidert, ihr Vater würde es ausgezeichnet finden, denn er sei selbst um ihre Gesundheit besorgt gewesen. Und wenn sie sich ohne ihn selbst – ihren Bräutigam – langweile, so tue ihr das ganz gut. Dann schätze sie vielleicht um so mehr, wie schön das Zusammensein sei!
– Der Weg führte nun abwärts, immer die Felswand entlang. Wild schäumend kam der Strom näher heran, trotzig aufsprühend und den Gischt triumphierend zu ihr herauf schleudernd. Wie ermüdend doch der Abstieg war! Die Füße taten ihr allmählich weh, und ihre Beine begannen zu zittern. Natürlich, sie hatte zu dünne Schuhe an, wie Ejnar immer sagte. Konnte es diesem Manne da vor ihr nicht einfallen, sie zu tragen? Ach nein, dann würde das Ganze erst recht verkehrt!
Wieder versank sie in Gedanken.
Jawohl, das mußte Ejnar jedenfalls einräumen, daß er die Verantwortung hatte – und immerhin war ja auch kein Unglück geschehen.
»Aber Liebste,« würde Ejnar sagen, »als nun am Morgen nach meiner Abreise das Telegramm an Hermanns Schwager ankam – ganz bedächtig und mit den wöchentlichen Postsachen – das die ganze Familie zu der kranken Mutter berief, dann hättest du selbstverständlich mit ihnen reisen sollen. Das ist doch einleuchtend.«
»Ja natürlich, Ejnar! Aber dann war es doch recht ärgerlich, daß ich nicht am vorhergehenden Tag mit dir gereist war. Und aufmunternd war der Gedanke gerade auch nicht, mit diesen Menschen, die von Todesangst um die Mutter gejagt, Hals über Kopf fortfuhren, die Reise zu machen. Und die Luftkur da droben sollte mir ja so notwendig sein. Und Hermann erwartete einen guten Bekannten, den er bei irgend einer Pfarrkonferenz kennen gelernt hatte, und der, wie Hermann sagte, einen ausgezeichneten Reisebegleiter abgeben würde – der dann aber abscheulicherweise ausblieb. Doch Hermann und Inger Marie behaupteten, wenn Hermann die Rückreise für mich einrichte, gehe alles wie ›geschmiert‹.«
Nein, diese Erklärungen würden Ejnar nicht umstimmen.
»Du weißt recht gut, daß auf Hermann kein Verlaß ist,« würde er sagen. »Er ist ja unzurechnungsfähig mit seinem ›Glauben‹ und meint, unser Herrgott im Himmel droben sei in dem Grad der Vormund der Toren, daß man sich ruhig gegen alle Vernunft und Vorsicht aufführen könne. Daß du auf ihn hören konntest, wo du doch weißt, wie ängstlich ich für dich bin, ja beinahe krankhaft ängstlich! Ach, wenn ich mir dich auf dieser verdammten Fußreise vorstelle!«
– Gerade vor ihren Füßen flog mit starken, schweren Flügelschlägen ein großer Vogel auf. Auf dem Pfad lagen kleine weiche Federn in Mengen – Spuren eines bösen Überfalles auf ein wehrloses Opfer.
»Ja, meinst du denn, mir sei dabei so recht wohl zumute, Ejnar? Aber du solltest nicht schelten und brummen, denn möglicherweise dachte ich in erster Linie an jemand, der mich gerne gekräftigt zurückbekommen wollte. Ob ich nicht gerade darum da droben geblieben bin und diese verdammte Fußreise auf mich genommen habe, um mich diesem Jemand zu fügen und ihm Freude zu machen?«
Ja, das würde Ejnar erweichen – besonders wenn sie zugleich ihre schlanken Hände um seine beiden Wangen legte und – sollte sie ihn küssen? Das tat sie sonst nicht. Es genügte auch, wenn sie sich küssen ließ, recht herzhaft abküssen! Ja, das würde ihn erweichen. Die Torheiten, die man aus rettungsloser Verliebtheit begeht, wollen die Männer ja nicht entbehren – besonders nicht, wenn sie gut ausfallen. Und diese Reise würde schon gut ausfallen! Wie schön Ejnar war! Sah er etwas eingebildet aus? Vielleicht. Aber eingebildet waren ja alle Männer – auf gar nichts. Ihm jedoch stand es gut. Und alles, was einem gut steht, ist doch eigentlich berechtigt.
– Sie mußten um einen großen moosbewachsenen Felsblock herum, der mitten auf dem Weg lag. Zarte, blaßrosa Linnäen rankten sich an ihm hinauf – wie kleine Mädchen in hellen Sommerkleidern, die Hand in Hand einen Felsenhang hinaufklettern. Nein, pflücken wollte sie keine. Was sollte sie auf diesem Weg mit Blumen? –
»Und siehst du, Ejnar, Hermann hat es wirklich gut eingerichtet, das müssen wir ihm lassen. Hör nur: er hat einen Boten weit fort geschickt, nach einem bestimmten, durchaus zuverlässigen Manne – der Prachtmensch, der jetzt vor mir hergeht – und ihn auf den und den Tag zu der und der Stunde nach der Sennhütte bestellt, damit er mich da ›mitnehme‹ wie Inger Marie sagte.
Und übers Gebirge bis zur Sennhütte begleiteten mich Hermann und Inger Marie. Es war ein prächtiger Ausflug! Früh am Morgen heraus – ja wirklich ausnahmsweise einmal! – und in den Tau und Morgenwind und Sonnenschein hinein! Ich saß auf Hermanns Pferd, das mich mitsamt meinem Handgepäck trug. Er und Inger Marie gingen zu Fuß; auf dem Heimweg sollte Inger Marie reiten. Sie sangen ihren Morgensegen – natürlich. Aber das schadete mir nichts.
In der Sennhütte wurde gegessen und eine Ruhepause gemacht, das war schon vorher so bestimmt worden. Wie schön war es da! Wir saßen auf dem Steinwall, ließen die Beine baumeln und uns die Sonne auf den Kopf und Rücken scheinen – tranken Luft und Licht und fühlten uns dabei höchst behaglich und unaussprechlich artig! Ja, wenn du da gewesen wärest, ich glaube fast, ich hätte dich küssen können! Und wir bekamen Besuch von den Kälbern, die alles, was sie von uns erwischen konnten, mit einer großen, wohlwollenden Zunge beleckten, und denen wir später Salz geben durften.
Als wir ankamen, hatten wir einen Wolfshunger; wir hatten auch Mundvorrat vom Pfarrhaus mitgebracht. Aber siehe da, in der Sennhütte wurde uns herrliche saure Milchgrütze gekocht und Waffeln gebacken – knusperig heiß und fett, daß uns Nase und Mund ordentlich glänzten – und dann wurde uns auch eine Art Ziegenkäse angeboten, der noch nicht ›reif‹ war, sondern ein weiches, warmes, süßliches Zeug.
Wir hieben ordentlich ein. Aber Ejnar, das Nachspiel war nicht so artig; denn Inger Marie wurde es übel, und als ich mich nachher zum Weitergehen anschicken sollte, waren meine Beine so bleischwer wie noch nie. Immerhin wirkte es erfrischend, als wir aus einem Bergwässerlein neben der Sennhütte getrunken hatten. Das war ein Wasser, hell und kalt und so rein, daß wir uns ordentlich schämten über all den schweren Mischmasch, den wir in uns hineingestopft hatten. In diesem Bächlein wuschen wir uns Gesicht und Hände und tranken gleichsam in Reue und Buße, denn wir fühlten, wie der einfache, klare Trank uns reinigte und stärkte.
Der Mann – mein Führer – war natürlich so pünktlich eingetroffen wie die Sonne. Er leerte den Vorratskorb aus dem Pfarrhaus vollends, und nachdem wir nach der letzten Mahlzeit ein paar Stunden geruht hatten, mußte an den Aufbruch gedacht werden. Es war indessen fünf Uhr geworden, und ein vierstündiger Weg lag vor mir bis zu dem Hof, wo ich nun übernachten soll und wo mich der Mann mit dem Wagen – den Hermann auch schriftlich durch einen Boten bestellt hat – morgen früh abholt, um mich den ganzen Tag weiter zu fahren, bis wir endlich am Abend den Ort erreichen, wo der kleine Dampfer einmal am Tage – oder ist's vielleicht einmal in der Woche? – anhält, und wo mehrere Häuser sein sollen, die mich gastfreundlich aufnehmen können. Ja, alles das weißt du ja auswendig, Ejnar; aber jetzt wünschte ich nur, ich hätte mit dir auf der Hinreise ins Pfarrhaus auch diesen Weg gemacht! Dann wäre ich doch ein wenig bekannter hier!
Inger Marie und Hermann begleiteten mich noch eine Strecke, während sich das Pferd auf der Alm satt weidete. Dann blieben sie stehen und winkten mir noch nach. Wie golden die Sonne schien und wie es nach Harz duftete!
Ich wanderte mit dem Manne weiter, der meinen Koffer auf dem Rücken trug. Und jetzt wandern wir noch immer, aber jetzt ist es dunkel und feucht.«
Selbst wenn Ejnar vorher über sie gerührt gewesen war, so war er deshalb doch noch ebenso besorgt. »Ja, da gehst du hin!« würde er sagen. »Aber angenommen, du gleitest aus, was dir früher auch schon zugestoßen ist, und du fällst und brichst ein Bein! Dann ist der Teufel los! Bis zum Pfarrhaus ist es eine ganze Tagereise, eine Meile noch bis zum Hofe, ein Arzt ist unmöglich aufzutreiben, und ein Brief braucht nach Kopenhagen acht bis neun Tage. Bedenke doch, welche Lage! Meinst du, ein junges Mädchen sollte sich dem aussetzen? Und angenommen – –«
Ja, man konnte so vieles annehmen. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte sich jetzt lieber nicht mehr mit Ejnar unterhalten. Dieses zurechtgelegte Gespräch mit Ejnar hatte sie auch nur geführt, weil sie sich gleichsam einzubilden versuchte, er sei mit auf dem Weg – oder wisse wenigstens von dieser Reise. Das Gefühl, ein anderer wisse um ihre Einsamkeit, ließ diese weniger einsam erscheinen. Doch nun wurde ihr eines klar, alle die Vorstellungen, die sie Ejnar in den Mund legen mußte, weil sie wußte, er würde sie sofort vorbringen, regten sie nur auf. Nein, es war recht gut, daß sie ihm nichts von der einsamen Reise geschrieben hatte!
Natürlich konnte man hier Arme und Beine brechen. Und wenn sie einen Fehltritt tat, konnte sie auch kopfüber in den wirbelnden Gischt da unten hinabstürzen, obgleich der Führer sofort gesehen hatte, wie sicher sie auf ihren Füßen einherschritt. Aber dann hatte sie ja diese ganze wilde, zerklüftete Herrlichkeit zum Bewundern! Am schlimmsten wäre es, wenn sie plötzlich vor dem Manne da vor ihr Angst bekäme. Sie hatte zwar noch keine Angst – war aber doch vielleicht ein wenig bange davor, bange zu werden – – –
Ein dünner, kristallklarer Wasserstrahl rieselte zwischen den Felsen herab. Zarte, schwankende Farnkräuter zogen sich dicht neben ihm hin.
Der Führer blieb stehen und hielt den Mund unter den Wasserstrahl. Sie nahm einen Becher aus ihrer Handtasche und trank auch. Kaltes Wasser – wie beruhigend ist es!
Dann setzte sie sich dem Manne gegenüber aufs Moos; sie begriff, hier sollte Rast gemacht werden, wie schon einmal zuvor. Wenn es nur nicht zu lange dauerte! Sie sehnte sich nach dem Hofe, nach schützenden Mauern, verschlossenen Türen, nach Menschen!
»Dies ist die letzte Rast,« sagte der Führer aufmunternd.
Sie nickte – nächstens zu müde, um zu sprechen. Die Felswand zur Linken, den Strom zur Rechten – und ihre taktfesten Schritte auf dem einsamen Pfad, der sich immer länger hinzog! Wurde er es denn nie müde, sich an der unaufhörlichen Felsenwand hinzuschlängeln und vergeblich auszuspähen, auszuspähen! …
Ach, sie wollte doch lieber ein paar von den fröhlichen Erinnerungen aus dem Pfarrhaus hervorholen und sich mit ihnen den Weg abkürzen!
Wie stürmisch war doch der älteste von den Jungen in sie verliebt gewesen! Frau Halling war Hermanns ältere Schwester; ihr ältester Sohn war nun schon Student und die beiden Mädchen konfirmiert; dann kamen zwei lange, halbwüchsige Jungen. Alle waren sehr von ihr, dem Besuch aus Kopenhagen, eingenommen gewesen, aber Arne hatte sich ihr gleich am ersten Abend mit Haut und Haar ergeben. Und er bäumte sich dann so heftig gegen seine Verliebtheit auf, daß er wortkarg und übellaunisch und recht unbehaglich wurde.
Wie rasend ärgerlich war er doch an einem Tag auf dem Kroketplatz gegen sie gewesen, ja geradezu unartig! – »Nein, mein Junge, nun mußt du wirklich Fräulein Elsa um Verzeihung bitten!« Ach, wie komisch ahnungslos war seine Mutter doch gewesen, als sie dies sagte!
Und wie er es dann tat! »Soll ich Sie um Verzeihung bitten und Sie hassen – ich hasse die, die ich notgedrungen um Verzeihung bitten muß! Oder wollen Sie es mir erlassen, damit ich Sie dann ebensogut leiden kann wie vorher?«
Sie hatte geantwortet: »Ich will Ihnen gern erlassen, um Verzeihung zu bitten – aber hassen dürfen Sie mich trotzdem ein wenig. Das ist am unterhaltendsten!«
Ja, bisweilen konnte er ganz nett sein! Aber dann wieder, ach, der Ärmste! An dem Tag zum Beispiel, wo Hermann und Ejnar fischen gegangen waren, aber sonst niemand hatten dabei haben wollen. »Nein, beim letztenmal habt ihr gelacht und dadurch alle Fische verscheucht,« hatte Hermann gesagt. Da waren die Zurückgebliebenen alle auf die Felsen geklettert und hatten sich unter den Lärchen, die kupferrote Stämme und lange flatternde Flechtenbärte an den Zweigen hatten, gelagert. Und da saßen sie lange, jedes an einen Baum gelehnt. »Nein, das ist auf die Dauer zu hart,« sagte Frau Halling plötzlich und legte ihren Kopf an ihres Mannes Schulter. »Lehnen Sie sich nur an Arne, Fräulein Elsa,« fuhr sie fort. »Da finden Sie eine gute Unterlage.«
Sie fand die Mutter ein wenig gedankenlos, tat aber, was sie ihr geraten hatte. Der Baumstamm war wirklich tüchtig hart gewesen. Obgleich sie dem Studentenherzen nicht allzu nahe war, glaubte sie doch zu vernehmen, wie es hämmerte. Und als sie halb eingeschlummert war und das Elternpaar Halling rechtschaffen schnarchte, fühlte sie plötzlich die warmen etwas bebenden Knabenlippen auf ihrer Stirne.
Sie war nicht aufgefahren. Warum denn? Wenn es doch eine Seligkeit ohnegleichen für ihn war! Nein, wenn sie selbst einmal jemand so recht küßte – das war etwas anderes! Da erst war es, als verrate sie sich, als liefere sie etwas Unaussprechliches aus, das geheim gehalten werden müßte.
Aber die Augen des Jungen nachher – halb scheu und wie trunken vor Freude … Ach, sie hätte es gewiß nicht geschehen lassen sollen! – »Was ist denn das für ein Wesen – oder Unwesen – das sich der junge Dachs zulegt?« hatte Ejnar gefragt. »Will er dir etwa den Hof machen? Das wollen wir uns verbeten haben!« – »Was weiß ich!« hatte sie erwidert und mit den Schultern gezuckt. Aber als Ejnar über alle Berge war und Arne mit den Eltern abreisen mußte, da ließ sie sich zum Abschied die Hand von ihm küssen. Solche junge Bursche waren ja ganz bebend und treuherzig in ihrer Verliebtheit. –
Ach nein, diese Erinnerungen nahmen sich hier nicht so richtig aus in dieser rauhen, ernsthaften Schlucht, wo die Schatten so lang und düster neben einem herschritten!
Inger Marie und Hermann hatten sich recht weitherzig gegen sie gezeigt, obgleich sie das sonst gar nicht waren. Sie hatten sie weder zu Gottesdiensten noch Andachtstunden überredet, und sie hatte ihnen dann auch gesagt, gerade im Gegensatz zu Ejnars Aussprüchen, sie verstehe sehr wohl, daß Menschen »gläubig« seien; denn die andern, die das nicht glaubten, bildeten sich ja ebenso unbegreifliche Dinge ein. Sie selbst habe nur nicht die Fähigkeit zu glauben – denn das sei eine Fähigkeit, wie alle andern Fähigkeiten auch. Deshalb fühle sie auch keinen Drang dazu. Sie sehe darin auch von ihrer Seite durchaus nicht eine gewollte Auflehnung oder Vernunftseinwände, sondern nur mangelnde Anlage.
Aber da war Hermann heftig geworden. Er wanderte im Zimmer auf und ab und sagte, da zeige sich nun wieder die bodenlose Unwissenheit in geistlicher Hinsicht, die den Außenstehenden eigen sei. Wenn die Blumen draußen behaupten wollten, sie hätten die Fähigkeit nicht, sich der Sonne zu erschließen und den Regen in sich zu saugen, so werde sie doch begreifen, daß das ein dummes Geschwätz wäre, denn diese Eigenschaft hätten alle lebenden Gewächse gemeinsam. Glauben, das sei nicht eine besondere Fähigkeit, es sei nur soviel, als sich dem Licht öffnen, als das Leben einlassen. Und dazu seien wahrlich alle Menschen veranlagt – es sei denn, daß sie sich selbst ihrer menschlichen Natur entäußert hätten.
Im übrigen lebe sie ja auch auf Glauben, auch sie – nur nicht im besten, tiefsten Begriff. Ob sie denn nicht zum Beispiel glaube, daß die ganze Umwelt, daß alle andern Menschen existierten? Das könne sie ja nicht wissen.
Sie hatte Hermann in den Arm gekniffen.
»Ich kann euch doch hören, sehen und fühlen. Also bin ich gezwungen, einzuräumen, daß ihr existiert – selbst wenn ich euch lieber los sein würde.«
Na, sie glaube also an ihre eigenen körperlichen Sinne? Warum aber dann nicht auch an ihren geistlichen Sinn?
»Weil ich von dem nie etwas gemerkt habe.«
Ach, das wolle bloß sagen, daß sie ihn noch nie gebraucht, daß sie ihn stumpf habe werden lassen. Die körperlichen Sinne könnten ja auch geschärft oder abgestumpft werden; und die Gesetze der Natur gingen wieder in den Bereich des Geistes. Aber lieber Himmel, wie träg doch die Menschen seien, das zu erkennen!
Was Hermann sagte, war ja ganz vernünftig gewesen – er hatte wirklich einen Mannsverstand. Ach was, die einfachste Frau hat ja mehr Verstand als ein männlicher Professor! Aber die Männer haben nun einmal eine tausendjährige Übung im »Disputieren«.
Es war viel ermüdender, wenn Inger Marie über diese Dinge ihren Senf dazu gab.
»Es ist mir ein Schmerz, wie ihr – du und Ejnar – steht! Und hältst du es nicht selbst für armselig, wenn man sagen kann, es habe ganz und gar keine Bedeutung für einen, ob es nach diesem irdischen Leben noch ein anderes gebe oder nicht?«
»Das ist Ejnars Ansicht, nicht die meinige. Für mich ist es von großer Bedeutung, zu wissen, daß mit diesem Leben alles aus ist. Bedenke, welches Ausruhen, nicht mehr zu existieren! Diese Aussicht hält mich aufrecht.«
Inger Marie hatte sie mit ihren schönen braunen Augen, die Ejnars gleichen, feierlich angesehen und gesagt: »Du hast doch deine Mutter lieb gehabt. Kannst du dir vorstellen, daß du sie nie wieder sehen würdest?«
»Ach, meine Mutter – – Sie hat ein sehr beschwerliches Leben gehabt. Nicht zum wenigsten durch meinen Vater, obgleich jedermann fand, daß sie ausgezeichnet zusammenpaßten, weil sie einander so wenig glichen wie Tag und Nacht. Ich glaube, diese Ehe zerstörte sehr vieles in ihr. Ja, ich habe sie lieb gehabt, wie sonst niemand auf der Welt. Sollte ich ihr daher nicht gönnen, ein für allemal fertig zu sein? – Und im übrigen, ist dieses ›Wiedersehen im Jenseits‹ wohl unbedingt gut? Nimm zum Beispiel Hermann, der dort dich und seine erste Frau treffen soll. Wenn sie auch nur ein Jahr mit ihm verheiratet war, so ist sie eben doch seine erste Frau gewesen. Wie soll er das nun richtig fertig bringen?«
Aber Inger Marie sagte, das sei eine törichte Frage; sie werde wohl wissen, daß das spezielle eheliche Verhältnis in der Ewigkeit nicht existiere.
»Nein, das wußte ich nicht. Das spezielle Verhältnis – das ist ja die große innere Zuneigung, das geistige Verstehen. Hört das denn auf?«
»Unsinn, Elsa! Du weißt wohl, was ich meine. Nein, gerade das geistige Verhältnis wird innerlicher.«
»Kann man darin mit zweien zugleich stehen?«
»O ja und mit noch vielen anderen. Mit allen, mit denen man dort droben beisammen sein wird.«
»Aber das scheint mir doch ein ganz lächerlicher unpersönlicher Mischmasch zu sein.«
»Nur weil du nichts davon verstehst.«
»Ja vielleicht! Ich weiß, selbst als Kind, wo ich das alles noch glaubte, stand das ›in den Himmel kommen‹ nicht als ein unbedingt fröhliches Ereignis vor mir. Denn ich dachte, vielleicht – –«
Hier hatte sie das Gespräch mit der Schwägerin abgebrochen. Ihr gegenüber hatte sie den Satz nicht vollenden können: »Ich dachte, vielleicht würde ich da droben ebenso einsam und fremd sein wie hier.«
Einsam und fremd …
Da, ein Vogelschrei! Scharf und schneidend riß er einen langen, klaffenden Schlitz in die Stille.
Dann schloß sich diese wieder um die Wunde zusammen.
Nein, an solche Gespräche wollte sie hier jetzt auch nicht denken.
Sie wollte anfangen zu zählen, nur zu zählen.
Zahlen sind wie ein stützender Stab. Mit ihm kann man Gedanken und Empfindungen wegfegen. – Eins, zwei … Und so weiter nach jedem einzelnen ihrer taktfesten Schritte.
Auf wie viel würde sie wohl zählen können, ehe ihre Schritte endlich aufhörten? Ach, am Ende bis zur höchsten Zahl auf der ganzen Welt – die sie als Kind so gerne herausgefunden hätte!
Nun bog der Weg um einen vorspringenden Felsenhang und führte dann ganz steil zum Strome abwärts. Es war, als sei der einsame Pfad nun seines langen ergebnislosen Spähens überdrüssig geworden und wolle ein Ende damit machen.
Drunten am Bache führte eine Brücke aus abgerindeten, roh zusammengehauenen Fichtenstämmen übers Wassers.
Am jenseitigen Ufer war wieder ein Weg. Aber hier war er breiter, er machte deutliche Ansprüche auf den Begriff Fahrstraße, und die Talsenkung wurde hier auch im Ganzen etwas breiter.
Eine kurze Strecke von der Brücke entfernt, auf der andern Seite und dicht am Wege lag ein Hof.
Gespensterhaft tauchte er aus den Abendschatten auf. Mit weißen Mauern – lautlos – leblos.
Wie unwirklich erschien er! Und doch starr und unerschütterlich – wie das Schicksal, das über den Menschen steht.