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Schritte.

Draußen auf dem Wege tönen Schritte durch die Nacht.

Es kommt jemand.

Sie springt aus dem Bett, läuft ans Fenster, reißt sich die Watte aus den Ohren und beugt sich hinaus. Nein. – – Nein, es ist nur der Fluß. Sie hat sich getäuscht – natürlich! Wer sollte hier mitten in der Nacht umherwandern?

Doch – doch! Es sind doch Schritte, Schritte auf dem Wege. Jetzt sind sie deutlicher – aber noch etwas entfernt. Sie kommen auf das Haus zu.

Dies ist kein Gedankenspiel oder Einbildung, es ist bittere Wirklichkeit.

Es kommt jemand.

Sie steht steif und unbeweglich – mit trockenen Lippen.

Wer auch kommen mag, er kann geradeswegs hereintreten und sie überfallen und sie nachher in den Fluß hineinschleudern, daß sie in der Nacht fortgetrieben wird und spurlos verschwindet. Wann wird das entdeckt werden? Wann werden sie es im Pfarrhaus droben oder in Kopenhagen erfahren? Randi hat keine Ahnung, wo ihr Gast daheim ist, und der Mann, der sie herbegleitete, nur sehr wenig.

Der Mann – – Ist er es, der auf dem Wege nach Hause anderen Sinnes geworden ist und jetzt zurückkommt – der sich den Fang nicht entgehen lassen will? Er kann sich ja gut denken, daß sie Reisegeld bei sich hat.

Rechtschaffen – Ach, was hat das zu sagen in einer gegebenen Stunde – bei der Natur, die die Männer nun einmal haben! Gewalttäter und Verbrecher können ja alle werden.

Es kann auch jemand sein, dem der Mann begegnet ist und dem er von der fremden Dame erzählt hat, die da mutterseelenallein übernachtet. Oder ein Landstreicher, der von nichts weiß, aber bald entdecken kann, daß hier freier Zugang ist.

Immerhin kann es auch ein anständiger Mensch sein. Aber warum ist er um diese Zeit unterwegs? Was hat er für einen Zweck?

Deutlicher – näher mit jeder Sekunde! Und doch eine Ewigkeit zwischen jedem Schritt – so daß ihr das Warten endlos erscheint. Sie könnte ihr ganzes Dasein in dieser Zeit wieder durchleben.

Ihr Dasein – das ist ja auch nichts anderes gewesen als ein Dastehen und Angsthaben vor diesem Schritt. Alles andere ist gar nicht vorhanden. Ja, nun mag sie nach Vater und Ejnar rufen! Kann versuchen, ob sie in der Welt sind!

Nein, dies hier, dies soll nicht da sein! Sie stampft auf den Boden. Sie will nicht hier sein – will nicht, daß sie tatsächlich in tiefer Nacht hier steht und daß jemand daherkommt. Sie will sich nicht dreinfinden! Kann sie denn nicht aus dieser Vorstellung erwachen?

Was soll sie nur tun? Sich verstecken? Nein – die Ärmste, die in den Keller kroch, wurde trotzdem gefunden und umgebracht! Und was hilft es, wenn es jemand ist, der von ihrem Hiersein weiß? – – Sie hat keinen andern Ausgang als durch den Saal; kommt jemand hier herein, dann ist sie verloren. Sie muß also hinausstürzen, wenn die Schritte ins Haus herein wollen.

Wohin?

Ja – über den Hof zu Randi! Zwei Menschen sind doch mehr als nur einer. Vielleicht finden sie eine Sense, eine Heugabel oder sonst etwas zum Zuschlagen. Mag er dann doch ihre Uhr und ihr Geld nehmen!

Schritte – Schritte – – Aber sie kommen nicht näher! Sie wird noch verrückt bei diesem Warten! Wie soll sie nur die Zeit herumbringen? In der einen Fensterecke ist ein Spinngewebe … Jetzt stößt der Schritt gegen einen Stein – – Ach, wenn doch der Herankommende stürzte und sich zu Tod fiele!

Sie ist nicht die Spur mutig – sie hat jammervoll, erbärmlich Angst.

Wird es nun bald so weit sein – wird sie nun bald sehen, wer es ist?

Ach nein – sie will nicht sehen, wer da kommt. Wenn ihr doch nur das erspart bliebe, wenn sie doch den Kopf unter die Bettdecke stecken könnte und sich gar nicht darum kümmern müßte! Ach, wenn sie das nur könnte!

Soll sie beten? In die leere Luft hinein … Kann das etwas ändern? Hermann sagte, der liebe Gott, der sei das Beste in ihr; würde sie wagen, das zu leugnen? Soll sie also zu dem Besten in sich selbst beten? Das ist ja machtlos, es existiert gar nicht!

Sie faßt sich an die Stirn … Es ist, als müsse ihr der Kopf zerspringen von dem, was da drinnen aufwogt, wogt, wogt. Ist es die Angst? Ist dies Todesangst?

Die Schritte sind jetzt ganz nahe, aber Elsa hört sie nicht so deutlich wie das Klopfen ihres Herzens. Vielleicht kann dieses Klopfen die Schritte übertäuben – ja vielleicht!

Jetzt sind die Schritte unter der großen Tanne, nicht mehr weit vom Hause entfernt. O wie hart sie sind – wie böse!

Und jetzt – –

Ein Mann taucht auf dem Wege auf.

Sonst sieht Elsa nichts. Ein Mann – und groß ist er. Es kann der Führer sein – oder wer es sonst will.

Sie ist etwas vom Fenster zurückgetreten. Jetzt geht er das Haus entlang. Vielleicht geht er vorüber! Vielleicht! Dann ist alles gut.

Ach Gott – laß ihn vorübergehen! – –

Der Mann geht das Haus entlang. Dann hält er an, sieht sich ein wenig um und – biegt an der Hausecke in den Hofplatz ein.

Da läuft Elsa an die Tür – reißt sie auf – –

Weiter durch den Saal geht es – sie stößt an eine Bank – wirft sie um – –

– – Weiter – Sie will rufen, nach Knut, nach Per und Ola, nach der ganzen Welt –

Sie erreicht den Altan – läuft weiter – –

Und hält oben an der Treppe – gerade als der Mann unten stehen bleibt – –

*

Nichts ist verändert. Die Ursache ihrer Angst ist nicht verschwunden – aber die Angst selbst ist wie von ihr abgestreift.

Hatte diese ein solches Übermaß erreicht, daß die Gegenwirkung eintrat? Vielleicht! Jetzt gleitet sie von ihr ab – gleitet fort mit dem Flusse, weit weg; Elsa weiß nicht, wohin.

Und da steht sie auf dem Altan oben an der Treppe – ruhig und zuversichtlich – nur wonnig müde.

Der Mann unten sieht zu ihr herauf. Dann entblößt er den Kopf; er ist blond.

Und ganz sanft und wie selbstverständlich gleitet Elsa hinüber in die sonderbare Vorstellung, daß es so schon oft gewesen sei.

Eine helle, ruhige Nacht … Ringsum der Hofplatz groß und leer … er da unten … sie oben … Das Haar in einen Zopf geflochten, die Hände ausgestreckt, um sie um seinen Hals zu schlingen, und das Herz auf den Lippen … Ihre Arme sind weiß und kühl – er will sie ergreifen und an seine heißen Lippen drücken. Er hat einen langen Tag hindurch nach ihr gedürstet.

Und sie – – »Ach, es ist gut, es ist gut, daß du gekommen bist!« ertönt es unaufhörlich in ihrem Herzen. Und aus dem Herzen wogt es herauf in ihre Augen – brennend heiß und feucht … Sie fühlt, wie es ihr über die Wangen herunterrollt. Sie ist voll von Dank, voll bis zum Rande, zum Überströmen voll …

Der Mann unten bleibt einen Augenblick ganz stumm.

Dann sagt er mit einer guten, klangvollen, schönen Stimme:

»Ich bitte um Entschuldigung – aber können Sie mir sagen, ob ich hier ein Nachtlager bekommen kann? Und etwas zum Essen?«

Die Vorstellung von vorhin ist noch über ihr. Kommt es daher, weil Aslaugs Geschichte noch immer ihre Gedanken beherrscht? Sie antwortet jedoch nicht aus dieser Stimmung heraus, und das ist auch nicht nötig.

»Ich weiß wirklich nicht,« sagt sie.

»Wissen Sie es nicht?«

»Nein.« Ach, das klingt dumm, aber – sie fängt an zu lachen; es ist eigentlich nicht komisch, aber sie muß trotzdem lachen – so recht von innen heraus! …

Und der drunten lacht mit.

Das Lachen klingt jung und froh über den Hof hin. Und der große, ernste Platz sieht aus, als stelle er sich wohlwollend dazu.

»Ich bin selbst fremd hier,« fährt sie fort. »Und Randi schläft wohl. Das ist die Frau hier.«

»Randi wollen wir schlafen lassen,« sagt er. »Aber meinen Sie, ich dürfe mich hier etwas aufhalten – und könnte wohl auch ein Glas Wasser bekommen?«

»Ja, das können Sie sehr gut,« versetzt sie rasch.

»Ich habe nämlich meinen Reisebecher vergessen – und mit der hohlen Hand kann man nicht viel aus dem Flusse schöpfen.«

»Gewiß nicht! Kommen Sie herauf und mit mir, dann will ich Sie schon versorgen.«

Er steigt die Treppe herauf. »Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle?«

»Ach nein, lassen Sie das! Sie sind ein müder Wanderer, das ist mehr als genug.«

»Ich danke Ihnen!« versetzt er. »Dann will ich Ihnen nur berichten, daß der müde Wanderer auf einem wohl eine Meile von hier entfernten Hofe übernachten wollte.«

»Auf dem Nachbarhofe« – sie nickt.

»Aber der Nachbarhof war geschlossen und ausgestorben. Da mußte ich weiter bis hierher.«

»Und dieser hier ist wahrhaftig offen! Kommen Sie jetzt herein.«

Noch während sie vor ihm den Altan entlang geht, fährt sie zusammen. Lieber Himmel – sie ist ja im Frisiermantel! Ja, aber dieser ist so lang, daß er einem weißen, losen Kleide gleicht. Und ein Mann – ach, der merkt nichts!

Sie öffnet die Saaltür, und sie treten ein.

»O wie prächtig ist es hier!« Er nimmt den Rucksack ab und schaut sich um. »Und ich hatte geglaubt, ich sei ›weit, weit entfernt von dem hellen Königssaal auf Hlade‹. Hier bin ich ja mitten drin.«

»Nicht wahr? Und hier sind herrliche Stühle und Bänke, da können Sie ausruhen. Die eine Bank hab ich vorhin in der Eile umgeworfen!« – Er hat die Bank aufgerichtet. – »Sie können ein Kopfkissen und Felle und Decken als Lager bekommen. Aber zuerst sollen Sie einen frischen Trunk haben.«

Damit geht sie in ihre Stube. Ach, daß sie so wohlgemut herein kommen kann! Sie leert den Rest der großen Waschkanne in das Becken. Er soll sich Quellwasser darin holen. Glücklicherweise hat sie ihren kleinen Becher bei sich.

Ja und Rotwein! Gestern im Pfarrhaus – hundert Jahre ist es her – haben die lieben Menschen eine Flasche aufgemacht, tranken selbst ein wenig davon und gaben sie ihr dann mit. Nichts löscht den Durst so gut wie Rotwein und Wasser!

Sie läuft in den Saal zurück.

»Hören Sie,« sagt sie, »hier ist eine Wasserkanne – die neueste Form für eine Karaffe.«

»Und eine viel bessere, eine reichhaltigere,« sagt er mit weicher dänischer Aussprache.

Sie schlägt die Hände zusammen und ruft aus: »Aber Sie sind ja ein Däne! Sie sind ebenso unverfälscht dänisch wie ich!«

»Zu Befehl!« sagt er mit einer leichten Verbeugung.

»Aber warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Ich dachte beinahe, Sie müßten es hören.«

»Nein, das war zuviel verlangt,« versetzt sie lachend. »Doch jetzt müssen Sie Wasser holen. Dort drüben hinter dem Hof sprudelt aus dem grünen Felsen ein kristallklarer Wasserstrahl heraus. Gleich hinter Randis Vorwerk. Ach, ich muß es Ihnen zeigen!«

Sie deutet vom Altan aus hinüber. Er geht über den Hofplatz und wendet sich ab und zu fragend um. Sie winkt ihm zu … Wie schon viele, viele Male vorher! …

Dann ist sie wieder drinnen. Ah, er soll aus altem norwegischem Silber trinken! Sie nimmt zwei große schwere Becher von der Anrichte. Den einen stellt sie auf den Tisch – da sollen grüne Zweige hineingestellt werden – den andern spült sie mit den letzten Tropfen aus der kleinen Kanne, in der sie warmes Wasser bekommen hatte, und reibt ihn sorgfältig mit einem von den reinen Taschentüchern, die in ihrer Reisetasche liegen, aus.

Dabei fällt ihr das Paket mit dem für sie im Pfarrhaus zurechtgemachten Mundvorrat ein. Ei, das hatte sie ganz vergessen! Inger Marie, wie lieb du bist! Jetzt soll gespeist werden!

Sie hört ihn im Saal, läuft zu ihm hinein, nimmt ihm die Wasserkanne ab und sagt:

»Ich bin noch nicht fertig mit den Vorbereitungen. Wollen Sie so gut sein und indessen vors Haus hinaus gehen? Drüben am Fluß steht eine Birke, ich möchte so gerne ein paar grüne Zweige für den Tisch.«

»Jawohl,« sagt er und ist auch schon verschwunden.

Sie packt eifrig aus. Mehrere Papierservietten liegen bei, die ihr Inger Marie mitgegeben hat. Elsa entfaltet sie, breitet sie als kleine Teller auf das eine Ende des langen Tisches und legt die belegten Butterbrote darauf.

Sardinen – ei ja zum letzten Gabelfrühstück war eine feine Dose aufgemacht worden – Ziegenkäse, Schinken, hartgekochte Eier, und wahrhaftig, auch ein paar Scheiben von der leckeren Forelle in Mayonnaise! Und Butterkringel, die zwar ein wenig weich geworden sind, und ein ganzes Viertel Sandtorte! Ach, Inger Marie – ich umarme dich!

Er ist wieder an der Tür.

»Hier sind Zweige – aber die Farnkräuter sind eigentlich schöner. Sie standen dicht dabei, da hab ich diese gepflückt.«

»Danke, das ist ausgezeichnet; sie sehen wie Palmzweige aus.«

Sie gießt Wasser in den einen Becher, steckt die Farnkräuter hinein und verstreut die Birkenzweige über den Tisch. Einen der hochlehnigen Stühle hat sie schon herangezogen.

Dann ruft sie: »Bitte zu Tisch! Es ist angerichtet!«

Sie setzt sich so, daß sie die Aussicht durch das jetzt geöffnete Fenster hat. Der Fluß zieht hellglänzend dahin mit leise wirbelndem Schaum, hoch und dunkel stehen die Tannen, und das zarte, sanfte Dämmerlicht der Sommernacht ist wie lauter bebende Wehmut.

Er setzt sich ihr gegenüber.

»Nein, nein, Sie wenden der Schönheit den Rücken zu!«

»Wirklich?« Er sieht sie an.

Ei, nun muß sie ihm etwas von Hermann erzählen!

»An einem Tag, wo wir einen Ausflug machten und im Freien aßen, saßen Inger Marie, die so herzig ist, und Frau Halling, eine wirkliche Schönheit, mit dem Rücken gegen die Felswand gelehnt und mit der herrlichen Aussicht vor sich. Die Herren saßen ihnen gegenüber, und da rief Hermann plötzlich: ›Nein, weißt du was, Ejnar, wir wollen doch all dem Schönen nicht den Rücken zuwenden‹!«

»Das sieht Hermann ähnlich,« sagt ihr Gast.

»Ja, nicht wahr? Warum muß man denn plump sein, wenn man rechtgläubig ist?«

»Mir kommt diese Verbindung durchaus nicht notwendig vor.«

Er will sich nicht anders hinsetzen, schlägt aber vor, sie soll als Hausfrau den Platz oben am Tisch einnehmen.

Herrin in dem hellen Königsaal auf Hlade – ja warum nicht?

»Was sagen Sie zu der Aufwartung?« fragt sie; diese kommt ihr in dem schönen Halblicht recht verlockend vor. »Bitte, greifen Sie zu!«

»Ich bin gar nicht erstaunt,« versetzt er. »Es ist zwar mehr als erstaunlich – aber ich hab es erwartet.«

»Aber jetzt müssen Sie zuerst trinken!« Sie gießt Rotwein in den Becher, dann Wasser – ah, der matte, eisige Beschlag auf dem alten Silber! – und reicht ihm den Becher.

Er steht auf und verneigt sich leicht vor ihr mit dem Becher in der Hand. Dann gießt sie etwas Wein in ihren Reisebecher und hebt ihn zu seinem Becher empor.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«

»Ich freue mich, daß Sie da waren,« erwidert er und leert den Becher in langen Zügen.

Sie aber legt die bloßen Arme auf den Tisch, läßt den Kopf darauf sinken und bricht in Tränen aus …

Sie kann nichts dafür. Es sind keine bitteren Tränen – es ist nur die furchtbare Spannung von vorher, die sich jetzt löst – es ist Schmerz, ist Freude, ist alles, was jetzt gut ist – aber es will heraus.

Ganz still ist es um sie her. Sie hört keine halb vernünftige, halb bekümmerte und verliebte Stimme, die sagt: »Aber liebstes Kind – aber Elsa!«

Sie darf ruhig weiter weinen – darf sich ausweinen. Aber als sie dann den Kopf aufrichtet und sich die Tränen abwischt, weiß sie, daß freundliche, gütige Augen sie ansehen.

»Ich hatte so Angst, als Sie kamen,« erklärt sie, »denn ich bin hier ganz allein bei offenen Türen. Ihre Schritte klangen so drohend.«

»Es ist schrecklich, daß ich Ihnen Angst eingejagt habe,« sagt er. »Trotzdem bin ich froh, daß ich gekommen bin. Sie dürfen hier nicht allein bleiben. Aber meine drohenden Schritte – das ist allerdings recht schlimm für mich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine in der Tat, ein Mensch, der gut sein will, sollte das durch und durch sein, selbst in seinem Schritt. Wenn dieser abschreckend ist, muß er das wohl selbst sein.«

»Nein, ich habe es nur nicht unterscheiden können, weil ich Angst hatte. Jetzt erinnere ich mich, die Schritte klangen ganz angenehm. Und nun können Sie mit gutem Gewissen essen, nicht wahr?«

Er nimmt ein belegtes Brot. Plötzlich schlägt er die Hände zusammen und ruft mit fast ausgelassener Stimme:

»Ach, wie herrlich, wieder etwas zu essen zu bekommen!«

Ist etwas Unausgeglichenes in seinem Wesen? Vielleicht, und auch in seinem Äußern. Der eine Teil seines Gesichts ist beinahe tadellos, der andere unregelmäßig; teils schön, teils fast häßlich.

»Zum Essen bekommen Sie den Wein unvermischt,« sagt sie und schenkt ihm ein.

»Danke. Dann mache ich mit reinem Wasser Schluß. Wie viele Mühe haben Sie sich doch meinetwegen gegeben!« Er greift nach der leckeren Forelle.

Meint der Mann, sie habe die Brote zurechtgemacht, während er die Farnkräuter pflückte!

»Ja« – sie nickt – »aber es war mir nur eine Freude.« Gewiß hat sie alle geschmiert und belegt! Jetzt glaubt sie es selbst.

»Sagen Sie mir,« fragt sie nach einer kleinen Weile, »kennen Sie meinen Schwager Hermann? Es kam mir vorhin so vor.«

»Wenn Hermann in einem Pfarrhaus zwischen den Almen und Sternen wohnt – dann glaube ich fast, ich bin auf dem Wege zu ihm.«

»Ach,« ruft sie rasch aus, »Sie sind doch nicht der Herr, der von der Pfarrkonferenz kommen sollte und so schlecht war, auszubleiben! Dann bin ich wütend über Sie! Sie hätten mich ja herunterbegleiten sollen!«

»Wenn es einen schlechten Kerl von einer Pfarrkonferenz gibt, dann kann ich der vielleicht sein. Aber jetzt bin ich ja da – um Sie zu begleiten.«

»O, von hier aus droht keine Gefahr mehr. Haben Sie ein Messer bei sich? Nein, nicht zum Duellieren, aber wir müssen die Sandtorte zerschneiden. Von der will ich auch etwas essen. Es ist keine von den heutigen, die nur Luft sind, sondern eine von den altmodischen, gediegenen. Inger Marie hat sie selbst gebacken. Da, versuchen Sie nur!«

»Wir trinken auf das Wohl von Inger Marie!« sagt er und hebt den Becher in die Höhe. »Sie ist nicht umsonst Ihre Schwester.«

»Ich habe keine Schwester, sie ist die« – ach nein, es wäre öde, jetzt von Verwandtschaften zu sprechen!

Seine Stirn kraust sich ein wenig, wie wenn da etwas wäre, was er nicht versteht. Aber dann greift er wieder tapfer nach dem Kuchen. Auf den hat sie auch Appetit. Sie wollen sehen, wer am meisten davon essen kann. Sie lachen – alles ist zum Lachen!

»Sagen Sie mir,« fragt sie, »sind Sie unterwegs dem Lachen begegnet, das von diesem Hofe fortgezogen war, und haben Sie es dazu gebracht, wieder mit Ihnen umzukehren? Ja, und nicht allein das Lachen, sondern auch alles andere Gute, das mit ihm von hier verschwunden war.«

»Nein,« antwortet er. »Erst als ich hier auf den Hofplatz trat, ist es mir begegnet – – – Der Weg hier herauf war überaus einsam. Aber warum war das Lachen davongezogen?«

Sie erzählt von Aslaug, die in der Nacht vor ihrer Hochzeit zu dem Knecht vom Nachbarhof hinausging, dann am Hochzeitstage, gerade vor der Trauung, vom Strome fortgerissen wurde – und von dem Lachen, das mit ihr davonzog.

»Ich dachte mir doch, der Hof hier müsse eine Geschichte haben! Im übrigen ist meine eigene Geschichte hier noch viel merkwürdiger.«

Sie haben aufgegessen – nur noch ein kleiner Happen ist von dem Kuchen übrig.

»Jetzt müßten Sie Kaffee haben,« sagt sie. »Den kann ich Ihnen nicht verschaffen – aber den dazugehörigen Likör sollen Sie bekommen.«

Sie läuft hinein und holt ihre Schokoladebohnen.

»Da, es ist Likör drin. Und Zigaretten hab ich auch. Was sagen Sie zu einer Philipp Morris hier im öden Gebirge? Sie dürfen alle nehmen – ich habe jetzt nicht meine Rauchperiode.«

Während er sich eine Zigarette anzündet, fragt sie:

»Wie ist denn nun Ihre Geschichte mit dem Hof?«

»Wie diese ist? Nicht zu erzählen. Zum ersten muß man verstehen, in welcher Stimmung ich hierherkam – zum zweiten muß man sie sehen.«

Er fährt sich mit der Hand durchs Haar, das im Dämmerlicht des Saals hell schimmert. Dann steht er auf und wandert hin und her.

»Ich bin auf einer Fußreise,« beginnt er. »Ja, ich bin nämlich im Begriff, weit fort zu reisen. Ich habe hier in der Heimat meine Schiffe hinter mir verbrannt.«

Hat Hermann nicht etwas davon gesagt, »der von der Konferenz« sei ein junger Pfarrer, dessen Verkündigung Aufsehen erregt habe, und der sich nun ganz plötzlich, gerade als er Aussicht hatte, an eine größere Gemeinde in der Hauptstadt berufen zu werden, entschlossen habe, als Heidenmissionar hinauszuziehen? Dies schwebt Elsa vor, aber sie ist nicht ganz sicher, sie hatte damals nicht recht aufgepaßt.

»Da wollte ich vorher noch eine ordentliche Vakanz haben. Hals über Kopf hinein in eine mächtige, wilde Natur – wollte mich tüchtig darin tummeln – und so viel herbe nordische Luft in mich aufnehmen wie nur möglich, denn ich bin sehr überanstrengt. Die jütländische Westküste hatte ich von meiner Knabenzeit an durchstreift – mein Vater war Amtmann dort drüben – jetzt wollte ich aufs Gebirge. Norwegen hatte ich bis jetzt nur kurz berührt.«

»Es ist herrlich hier, nicht wahr?«

»Ja, großartig, düster und zerklüftet – und man hat die weite Aussicht von den Bergen. Diese blaue Unendlichkeit – das ist das Schönste! Aber in all dieser Schönheit vermisse ich doch etwas – etwas Vertrautes, Holdes, Anziehendes. Ach« – er bleibt bei ihrem Stuhl stehen – »es kommt Ihnen wohl verwunderlich vor, wenn ein Zyklop wie ich so anspruchsvoll in Beziehung auf Schönheit ist« – –

»Durchaus nicht,« erwidert sie. »Übrigens halte ich Sie auch für schön. Sie sich nicht auch?«

»Ja, in einem wahnwitzigen Augenblick vielleicht – sonst durchaus nicht! Was mir hier gefehlt hat, war eigentlich – ja, das war eigentlich das Märchen. Das heißt, gewissermaßen ist es da – in barocker Form und als übernatürliches Unbehagen. Man wartet ja förmlich in jeder Schlucht darauf, einen ›Troll mit Klumpfüßen‹ zu erblicken. Aber das Märchen von dem wunderbaren Fest – mit der Prinzessin und dem halben Königreich – das hatte ich vermißt. Und ich hatte vielleicht erwartet, es finde sich ›hinter den sieben Bergen‹.«

»Wie können Sie nur irgendwo auf der Welt, ob im Tal oder auf der Höhe, ein Märchen erwarten?«

»Sie haben das doch auch getan!«

»Niemals.«

»Aber ich hatte nun eben eine alte Großtante mit Schmachtlocken, die uns Kindern immer Märchen erzählte. Und sie hatte beim Erzählen eine so herrlich prosaische und selbstverständliche Art, daß sie einem ganz wirklich vorkamen. Seither hab ich immer erwartet, das Leben solle sich als eine freundliche Tante erweisen und das Märchen bringen. Und gerade hier, dachte ich, könnte dies geschehen.«

»Aber die Tante mit den Schmachtlocken blieb aus?«

»Ja – das war eine Enttäuschung. Heute bin ich besonders erfolglos gewesen. Seit ich zur Mittagszeit in einer kleinen Kätnerhütte an einem Hammelknochen genagt habe, bin ich weder auf ein Haus noch auf einen Menschen gestoßen. Wenn man Stunde um Stunde ganz allein dahinwandern muß und kein Ende absehen kann, so wirkt das sehr ermüdend.

Ich dachte beständig: Hinter dem nächsten Felsvorsprung liegt das, was du erwartest – aber immer war es nur derselbe einsame Weg. Nicht einmal dem Fluß konnte ich mich anschließen, er floß in umgekehrter Richtung, lief mir davon. Es war, als streichelte ich ihn gegen die Haare, und ich meinte, ihn im Vorübereilen knurren zu hören.

Der Abend brach herein … Noch immer war ich allein auf der Welt. Endlich lag ein Hof da. Aber er war verschlossen – leer. Da war mir, als sei ich in einem Lande, in dem die Pest gewütet hatte und in dem es nur noch ausgestorbene Häuser gab. Und ich wäre am liebsten auf einen Kirchturm gestiegen und hätte nach einem Menschen geläutet – wie das damals Sitte gewesen war. Aber es war auch nirgends ein Kirchturm.«

Elsa erinnert sich an eine alte Sage aus dem Lande Tirol, wo sich nach der Pest die letzten zwei Überlebenden durch Glockenläuten zueinander hinläuteten, so daß schließlich jedes von ihnen das ferne Läuten als Antwort auf sein Rufen vernahm und sie einander mit ausgebreiteten Armen entgegenliefen – ein Bursche und ein Mädchen.

»Ich setzte mich an den Bachesrand, aß mein letztes Fladenbrot vom Mittag her und nahm ein Fußbad,« fuhr der Fremde fort. »Das erfrischte mich. Dann wanderte ich weiter bergauf. Nun war ich zu müde, um noch etwas zu erwarten.«

»Hatten Sie Angst?« fragte Elsa.

Er hat sich neben sie gesetzt, und seine eine Hand ruht auf ihrer Stuhllehne.

»Nein, nicht Angst, aber matt und schlaff war ich. Die Umgebung kam mir auch unheimlich vor. Es war, als seien es immer dieselben Tannen, die aufs neue auf mich zukämen … Ich wünschte, ich hätte jemand zu beschützen – jemand, den ich bei der Hand nehmen könnte und ihm beruhigend zusprechen. Schließlich dachte ich nur noch an eine Stelle, wo ich mich mit einem Stein unter dem Kopf ins Gras strecken könnte – wie der Erzvater Jakob. Aber dann, ich weiß nicht, wie es kam, ging ich trotzdem immer weiter. Ja, und dann lag plötzlich dieser Hof hier vor mir.«

»Was dachten Sie da? Ich meine, gleich als Sie ihn sahen!«

»Er sei nicht wirklich. Er glich einem Ort, von dem man geträumt hat, und ich war sehr müde, jedenfalls müde genug, um Erscheinungen zu haben. Dennoch ging ich in den Hofplatz hinein. Wer weiß, dachte ich, vielleicht ist doch eine Kari da – oder auch zwei – mit starkem Körperbau und schwerfälligem Gang, die eine Satte saure Milch oder einen Bund Stroh zu bieten hat! Und dann – –«

Er hält einen Augenblick inne und sieht Elsa an.

»Dann war das Märchen da – genau das, worauf ich mein Leben lang gewartet hatte. Ich stand mitten drin – auf einem großen, weiten, von Drachen bewachten Platz. Einen Altan entlang kam es daher, schlank und weiß – anders als Menschen sonst gehen. Und oben an der Treppe stand die Prinzessin selbst aus dem Märchenland, ›die Prinzessin hinter den sieben Bergen‹.«

»Im Frisiermantel«, denkt sie lustig – ist auf dem Punkt, es laut zu sagen, hält es aber zurück und fragt statt dessen:

»Was taten Sie da? Das ist sehr spannend.«

»Ich tat ganz gleichgültig – das tut man ja immer, wenn man den Kopf verloren hat. In Holzschuhen stapfte ich mitten ins Märchenland hinein und fragte, wie eine gewöhnliche schwerfällige Mannsperson, nach Kost und Nachtlager. Ich sprach ganz wie ›außer dem Leibe wallend‹.«

»Das tat ich auch,« wirft sie ein, und eine flüchtige Röte huscht über ihre Wangen. Sie erinnert sich an das, was sie von ihm gedacht hatte.

»Aber das kam nicht nur daher, weil ich schwerfällig und schüchtern war – ich hatte auch Angst, das Märchen zu verscheuchen, indem ich es zu plump anerkannte. Sie wissen ja, es entflieht, wenn man es bei Namen nennt. Und es sollte doch dableiben.«

»Und blieb es?« Sie lächelt ihn an, indem sie diese Frage stellt.

»Ja. Das übernatürliche Fest im Königsaal wurde immer strahlender. Und ich ließ es ganz ruhig auf mich wirken. – Aber jetzt ist es mir, als gestalte sich das Märchen so außerordentlich wirklich, daß ich es schließlich doch mit Namen nennen darf. Ich meine damit, ich habe es verstanden und empfunden. Und mit diesem kristallklaren, eisig frischen Wasser in meinem Becher will ich mich vor der neigen, der ich das Märchen verdanke, vor ihr, dem Schneewittchen hinter den sieben Bergen.«

Sie schüttelt den Kopf und sagt: »Das verdanken Sie Ihrer eigenen Phantasie – sie hat es Ihnen vorgezaubert. Mein Teil daran ist nur sehr klein.«

»Aber jetzt Sie!« sagt er, indem er sich eine neue Zigarette anzündet. »Jetzt sind Sie an der Reihe zu erzählen. Lassen Sie hören, wie Sie hierher kommen und was Sie allein hier tun!«

»Ja ich« – beginnt sie, stockt aber gleich wieder. Nein, das Pfarrhaus, Inger Marie, Hermann und das ganze Drum und Dran von der Reise, das darzulegen wäre zu langweilig. Er hört es noch früh genug, wenn er da hinaufkommt.

Sie lacht. »Wie können Sie nur danach fragen,« sagt sie. »Haben Sie schon wieder vergessen, daß Sie eben gesagt haben, ich sei das Märchen? Das sitzt doch immer hinter den sieben Bergen verborgen auf irgend einem verlassenen Hofe. Ich bin hier daheim. Und was ich hier tue? Ich hab' auf Sie gewartet, Butterbrote zurechtgemacht, Kringel und Kuchen gebacken. Ach,« unterbricht sie sich plötzlich, »jetzt ärgert es mich, daß ich nicht mein Obst zum Nachtisch für Sie aufgehoben habe! Das wäre festlich gewesen! Denken Sie sich, Randi wartete mir Erdbeeren auf; sie wachsen hier ganz nahe auf dem Hügel. Essen Sie gerne Erdbeeren?«

»Und ob! Am liebsten die, die ich selber pflücke,« – bei diesen Worten fliegt Elsa wieder ein rosiger Schimmer übers Gesicht. – »Wollen wir nicht gehen und uns welche holen?«

»Jetzt! Was denken Sie? Sie müssen doch ausruhen.«

»Ich habe ausgeruht. Die Nacht ist das Herrlichste am Tage, und immer kann man sie doch nicht verschlafen. Aber Sie sind vielleicht müde und wollen zu Bett gehen!«

»Ich? Sicher nicht! Jetzt könnte ich ganz hoch hinaufklettern und Eisranunkel pflücken.« – Wie, wenn sie nun schon geschlafen und dieser Nacht verlustig gegangen wäre! – »Kommen Sie nur gleich. Ob wir wohl die Erdbeeren sehen können? O ja, es wird schon allmählich heller werden.«

»Später, wenn die Sonne aufgegangen ist, können wir dann noch ein paar Stunden schlafen.«

»Aber hören Sie, wir müssen zuerst ein Lager für Sie zurecht machen. Können Sie nicht hier ein paar Stühle und Bänke geschickt zusammenstellen, dann komme ich mit den Bettstücken.«

Sie zieht aus den vier Betten in ihrer Schlafstube das Nötige heraus: Kissen, eine Federdecke, ein Fell, und wirft alles zu ihm in den Saal hinein.

»So, nun hab' ich für den betrunkenen Riesen, der in dem Festsaal auf seinen Taten liegen blieb, ein bequemes Lager hergerichtet,« sagt er fröhlich.

»O, er wird nicht sehr gut liegen, der Ärmste!« versetzt sie und lacht … Sie rückt die Bettstücke auf dem rasch hergestellten Lager zurecht – ordnet und glättet sie. – Wie heißt es doch in dem alten Reim, wo die Dirnlein in der Neujahrsnacht nach ihrem Zukünftigen fragen:

»Wes Tisch werd' ich richten,
Wes Bett werd' ich schlichten?«

Beides hatte sie in dieser Nacht getan – –

Er steht neben ihr und sieht sie an. Sie hört seinen Atem gehen, sagt aber nichts. Wie, wenn nun die Tür aufgeht, sobald sie sich zur Ruhe gelegt haben? O ja – was dann?

»Ich werde hier außen Wache für Sie halten,« sagt er gleich darauf mit etwas lauterer Stimme als vorher; »aber ich werde wohl fort sein, ehe Sie auf sind. Am liebsten möchte ich schon vor Sonnenaufgang weiter, dann käme ich droben bei guter Zeit an. – Aber jetzt wollen wir hinaus und Eisranunkel pflücken. Oder waren es Erdbeeren?«

»Ja. Ich muß nur etwas umwerfen.«

Sie ist wieder im inneren Zimmer. In aller Eile zieht sie ihr Kleid an, wirft aber den weißen Frisiermantel wieder darüber; das wärmt, und dann sieht sie nicht anders aus als vorher. Nur ein schmaler blauer Streifen vom Kleid ist vorne sichtbar. Den langen rotseidenen Florschal schlingt sie sich mehrere Male um den Hals, dann ist sie fertig.

Nein, sie muß vorher noch einen Blick in den Spiegel werfen! Wie unvorteilhaft sie frisiert ist – aber was tut's? So schön wie in dieser Nacht ist sie gewiß noch niemals gewesen.

Denn dies – dies ist ja ein Märchen. Der dort drinnen hatte vorhin ganz recht. Sie glaubt eigentlich nicht an Märchen, hat noch nie an eines glauben können – tut es vielleicht auch jetzt nicht, aber sie ist mitten drin. Sie kann nichts dafür – es ist nicht anders möglich, sie muß es erleben.

Wenn man es zerfasert, ist es ja gar nichts. Ein zufälliger Reisender, mit dem sie zusammentrifft und dem sie von ihrem Mundvorrat anbietet. Aber daß dieses bodenlos Alltägliche etwas so unendlich anderes sein kann – das ist das Märchen.

Sie fühlt es, der tote Hof ist mit Leben erfüllt, die feuchtkalte Gespensternacht ist lauter Herrlichkeit, die grabkammerartige große Stube ist zu einem Festsaal voll hellklingendem Lachen geworden.

Aber das Merkwürdigste dabei ist doch, daß sie sich selbst nicht mehr erkennen kann. Ach doch, sie kann es vielleicht gerade, aber andere könnten es nicht, die wissen, wie knapp und kalt, kärglich und nüchtern sie ist. Jetzt ist sie warm und freigebig – sie strömt über …

Deshalb will sie sich in dieser Nacht selbst sehen. Sie weiß, die häßliche Totenmaske ist weg, sie fühlt, ihr Gesicht strahlt.

Sie hebt den Spiegel mit beiden Händen vor sich hin. Und während sie hineinschaut, sagt sie halblaut, lächelnd:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die schönste im ganzen Land?«

Ja richtig! Strahlend gibt der Spiegel Antwort:

»Schneewittchen hinter den sieben Bergen.«


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