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Einsam und fremd.

Dicht an dem alten Gehöfte vorüber führt der schmale graue Weg. Drunten zieht der Fluß mit dumpfem, schwermütigem Rauschen dahin und trennt den Hof von der entgegengesetzten Bergwand.

An einem der Fenster im Wohnhaus sitzt jemand und starrt hinaus in die dämmerige Helle der Julinacht. Matt und farblos ist alles da draußen, aber es ist noch so hell, daß man jeden Stein auf dem Wege zählen könnte.

Ein fremdes, einsames Menschenkind an einem fremden einsamen Ort! Mit offenen Türen mitten in der Nacht!

Indem Elsa den Kopf dreht, sieht sie einen Schein von ihrem eigenen Gesicht in dem runden Spiegel, der am Fensterkreuz hängt. Hastig dreht sie den Spiegel um.

Sie sieht ja aus wie eine Tote – eine häßliche Tote.

Nicht nur, weil sie so farblos ist, ja geradezu fahl in dieser Beleuchtung, sondern weil ihr Gesicht ganz ohne Leben erscheint. Erstarrt ist es aus Mangel an Ausdruck – wie Randis, während diese erzählte.

Sie hat keine Lust mehr, ihr Gesicht zu sehen, denn sie fühlt, sie kann es nicht mehr lebendig machen. Nein, hier lacht man nicht. Und ob sie auch an das Lustigste dächte, sie könnte doch den Mund nicht zu einem Lächeln verziehen. Aber weinen könnte sie auch nicht. Undenklich, auch nur Tränen in die Augen zu bekommen! Hier ist keine »Wehmut«.

Hier kann man gewiß zu nichts, zu gar nichts so recht Lust haben – ausgenommen natürlich, von hier wegzukommen. Und am wenigsten von allem könnte man sich gut fühlen, wie das doch sonst ab und zu einmal angenehmerweise vorkommt.

Dies Haus ist wie ein Haus für Tote – ein Haus, das selbst tot ist. Ob es nicht mehr als das Lachen, ob es nicht am Ende das Leben selbst war, das an jenem Morgen mit Aslaug davonzog?

Ist Randi etwas anderes, als der bleiche Schatten einer Verstorbenen – und wie viele solche sind noch außer ihr hier? – – Ob man nicht daran sterben muß, wenn man hier verweilt?

Doch jetzt wollte sie schlafen gehen. Obgleich – schlafen würde sie doch wohl nicht können. Die süße Ruhe, die Vergessen ist, fand sich wohl auch nicht hier.

Wie merkwürdig, daß Menschen sich etwas so Herrliches vorstellen können wie den Lethefluß im Totenreich!

Wenn sie sich jene Stätte ausdachte, konnte ein so sanfter Fluß nicht dort sein. Heute wird es ihr nicht schwer, sich das Totenreich auszumalen. Sie braucht nichts zu erfinden – es liegt vor ihr – sie braucht nur an den zurückgelegten Weg zu denken und sich umzuschauen.

Zuerst die Schlucht mit dem Pfad – der das nie erreicht, wonach er ausspäht – wo der wortkarge Führer vor einem hergeht …

Alle, die mit einem im Sonnenschein gegessen und gelacht haben, bleiben zurück und winken einem nur noch nach – und lassen einen ruhig in das Dunkel hineingehen.

Die tiefen Schatten in der Schlucht werden mit jedem Schritt länger und tiefer. Kein anderer Laut ist zu hören, als das Rauschen des Stroms. Denn ein Fluß ist da – aber er bringt nicht Vergessen, sondern redet gerade unaufhörlich von dem, was man selbst recht gut weiß, aber nicht gerne hören will. Und wenn man über den Fluß geht, wird einem das Gedächtnis nur noch geschärft, man muß alles das deutlich hören, was diese Wasser aus dem Leben des Dahinschreitenden mit sich führen. Das macht einen ganz ruhelos.

Jenseits liegt ein Haus.

Über den Fluß geht's und in dieses Haus hinein. Und da sitzt man dann in der grauen Dämmerung und erinnert sich an alles, was einem je widerfahren ist; alles ist ganz deutlich, aber trocken und farblos. Es ist nichts mehr daran, man kann nur noch die Schultern darüber zucken.

Auch das, was man selbst getan hat, kann man an seinen Fingern herzählen. Böses – nein, es ist eigentlich nicht viel Böses dabei – aber es ist auch ohne eigentlichen Sinn. Es ist, als wühle man in einem unentwirrbaren Garnstrang und könne den rechten Faden nicht finden.

Viele Generationen von Toten sind in diesem Hause, und doch ist das Haus leer. Die Toten bevölkern ein Haus nicht und stehen in keinem Verhältnis zueinander. Sie fühlen nichts füreinander, deshalb sind alle gleich einsam. So wie sie, Elsa, und Randi heute nacht. Die Toten können nichts füreinander tun … Sie können einander höchstens zu Tode erschrecken – wenn sie nicht schon tot wären …

Eins, zwei – – jetzt muß sie wirklich wieder zählen, sonst wird sie noch verrückt hier. Die Toten haben keine Stätte für sich zu eigen, weil sie ja gar nicht mehr existieren. Und wenn die Toten eine Stätte für sich haben, dann glaubt sie jedenfalls nicht daran, ebenso wenig, als sie dorthin kommen kann.

Ja – nun sitzt sie doch hier!

Wo? Ach Papperlapapp – sie ist auf einem guten alten Hof in Norwegen, wo sie großartig untergebracht ist und von wo sie morgen mit einem munteren Fuhrmann weiterreist.

Ja – wenn ein »morgen« hier anbrechen kann!

Nein, jetzt will sie an Ejnar denken – wie er beim Abschied seine schönen, starken Hände um ihren Hals legte und darüber lachte, wie schlank dieser sei – und sie unaufhörlich geküßt hatte …

Aber sie fühlt nichts mehr dabei. Wenn sie doch nur ihre Liebe so recht warm empfinden könnte! Dann wäre es hier nicht mehr unheimlich. Aber sie kann es nicht. –

Sie steht von dem Stuhl am Fenster auf; es ist wohl am besten, sie kleidet sich aus. Ach nein, dann ist man noch wehrloser! Aber es sich ein wenig leicht machen und sich aufs Bett legen, das will sie doch. Und sie will sich zwingen, zu schlafen – weg von diesem Gespensterhof und allen den dummen Einfällen, die sie da bekommt.

Es kracht draußen im Saal … Hat sich jemand gerührt?

Unsinn! Nur im Holz der alten Möbel kracht es. Sie könnte gut hineingehen – aber sie tut es nicht.

Sie legt ihr Kleid ab, zieht einen langen weißen Frisiermantel aus dem Koffer und hüllt sich darein. Dann löst sie ihr Haar und flicht es in einen Zopf. Ach nein, der Zopf ist nicht so dick wie ein Arm, hängt nicht lang den Rücken hinunter und ist auch nicht hellschimmernd wie Gold. Aber jetzt sieht sie doch so aus wie eine von den Frauen in dieser Gegend.

Eine von den andern hier … Das könnte ja auch ganz leicht sein. Alles miteinander ist doch nur Zufall!

Sie stützt den Kopf in die Hände. Wo ist sie eigentlich daheim? Wer ist sie im Grunde genommen?

In Kopenhagen würde es ihr nie einfallen, so dumm zu fragen. Da weiß sie es. Alle, mit denen sie dort verkehrt, könnten es ihr sofort sagen.

Aber hier, wo sie fremd und namenlos ist, wo nicht eine Seele etwas von ihr weiß, hier fühlt sie sich vor sich selbst lächerlich fremd.

Wer ist sie – ohne ihre gewohnte Umgebung? Ist sie überhaupt jemand?

Zufällig sieht sie nach dem Fenster. Ach der Spiegel! So wie sie ihn gehängt hat, mit dem Glas nach der Seite, wird es ein Fensterspiegel, ein sogenannter Spion. Er spiegelt den Weg draußen wider.

Hastig nimmt sie den Spiegel herunter und legt ihn auf den Fenstersims. Den Weg da draußen möchte sie lieber aus der Welt schaffen – als ihn verdoppelt haben, er ist es ja eigentlich, der das Ganze hier so unheimlich macht.

Ein Weg – ist eine Drohung. Er bedeutet ein unaufhörlich angstvolles Warten, eine beständige Mahnung an Schritte, an jemand, der kommt.

Gewiß nicht! Hierher kommt niemand. Wer sollte kommen? – – –

Sie steckt ihre schmerzenden, staubigen Füße in kaltes Wasser; das tut wohl. Aber sie zieht Strümpfe und Schuhe doch wieder an. Dann nimmt sie ihre Uhr ab, zieht sie auf und legt sie auf den kleinen Waschtisch. Es ist nicht weit von Mitternacht. Nur noch etwas über sechs Stunden, dann kommt Randi! Als ein richtiger lebendiger Mensch – im Morgensonnenschein mit duftendem Kaffee. Wie angenehm wird dieser Duft ihr in die Nase stechen! Randis Kaffee wird zwar ein wenig dünn sein – aber herrlich wird er trotzdem schmecken!

Sechs Stunden – sechs Nachtstunden! Wie kann man sie herumbringen?

Ob Randi sie wohl mit dem glattgestrichenen Haar wiedererkennt? Sie muß alles andere als pikant aussehen. Eigentlich müßte sie sich so vor Ejnar sehen lassen, ehe sie verheiratet sind. Es ist fast ein Betrug, daß er sie nur mit dem einen Gesicht, ihrem hübschesten kennt. Dies hier ist sie ja doch auch.

Ja – ist es so?

Wie merkwürdig, daß manche Leute sagen, man müsse allein sein, um sich selbst finden zu können! Ihr ist, als verliere sie sich hier, und es bleibe nur noch ein wanderndes Bewußtsein, aber kein eigentlicher Mensch mehr von ihr übrig.

Allein sein – das ist gleichsam in nichts zerrinnen. Erst wenn andere einen kennen, wird man jemand.

Sie muß an jenen Tag denken, wo sie nach einem Sturz mit dem Fahrrad das Bewußtsein verloren hatte; als sie da wieder zu sich kam, hatte sie die angstvolle Empfindung, in etwas Nachgebendem, Unbestimmten zu waten und nicht darauf kommen zu können, wer oder was sie war …

Dann rief ihr Vater: »Elsa, Elsa!«

Sie antwortete »Ja« und schlug die Augen auf. Das war wie das Besitzergreifen eines Königreiches.

Und doch – ihr Vater, der sie damals wieder zur Besinnung rief, was weiß er von ihr? Wieviel Begriff haben wohl andere davon, was man ist? Einbildung ist es, sowohl wenn wir meinen, wir kennten andere, als wenn die andern meinen, sie kennen uns.

Einsam hat sie sich auch immer gefühlt – einsam und fremd. Aber wenn sie unter anderen war, hat sie dieses Gefühl unterdrücken können, sie hat sich das früher nur nicht klar gemacht.

Heute nacht ist es übermächtig. Hier versteht sie erst gründlich, wie bitter richtig es ist.

Dieser Hof in Norwegen, wo sie zufällig ein paar Stunden zubringt und den sie morgen schon wieder verläßt – ach, er ist es nicht, der ihr Entsetzen einflößt! Nein, aber sie hat ihn sozusagen aus einem inneren Bewußtsein heraus wiedererkannt; das ist es, darin liegt die Angst.

Sitzt sie nicht in Wirklichkeit auf einem solchen Schreckgespenst von einem Hofe und starrt in einsame Nacht hinaus? Ungekannt und von allen andern weit entfernt! Sie braucht wahrhaftig nicht einmal zu sterben, um auf diesen Hof zu kommen, sie ist auf ihm geboren.

Niemand findet den Weg zu ihrem Innern, weder ein Vater noch ein Ejnar – niemand ruft ihr, um zu bekräftigen, daß sie wirklich da ist, daß sie lebt. So einsam kommt sie sich vor, daß sich ihr sogar das Gefühl der eigenen Persönlichkeit auslöscht.

Aber – dann führt eben doch ein Weg zu dem Hofe. Ja, das ist das Schlimmste von allem! Diesen Weg gehen keine Menschenfüße, und doch sind Fußtapfen darauf.

Das hat ihr Angst eingeflößt, schon seit langer, langer Zeit.

Als sie noch ein kleines Mädchen war und in ihrem schmalen Gitterbettchen lag, wachte sie eines Nachts auf und sah sich höchst erstaunt um, weil sie sich allein in einer unbekannten Welt befand.

Eine dunkle große Stube, die anders aussah als bei Tag – gleichsam drohend – und in der es totenstill war. Nur die kleine gelbe Nachtlampe ließ ein leises Zischen vernehmen, das boshaft klang.

Niemand war da, kein einziger von denen, die sie den lieben langen Tag hindurch verwöhnten! Doch, Mutter lag wohl drüben in dem großen Bett, denn von dorther drangen ab und zu sonderbare tiefe Atemzüge. Aber auch sie war trotzdem nicht da. Denn wenn man schläft, ist man ins Traumland gereist. Und da ist man weit weg.

Sie fühlte sich so klein, so übrig und verlassen!

Selbst die gewohnte lärmende Welt draußen war weit weggerückt. Die Eltern wohnten etwas vor der Stadt, wo es verhältnismäßig still und ruhig war, aber bei Tage ging doch der lärmende Verkehr unaufhörlich am Hause vorüber.

Jetzt war es draußen ebenso lautlos wie drinnen.

Da ertönten Schritte durch die Nacht. Jemand kam die Straße entlang.

Bei Tage gingen gar viele Schritte vorüber, aber da beachtete man sie nicht; sie drangen nur wie ein verwirrtes Geräusch ans Ohr.

Die Schritte jedoch hörte sie ganz deutlich, während sie durch die große Stille näher kamen, näher …

Sie machten ihr Angst; sie kamen gerade auf sie zu.

Da steckte sie den Kopf unter die blaue Decke und schlief fast im selben Augenblick ein. Aber den Laut, der zu ihr in die dunkle Stube hereingedrungen war, hatte sie am nächsten Tag nicht vergessen; und als sie dann auf einem Schemel neben dem Stuhl ihrer Mutter spielte, fragte sie plötzlich: »Mutter, wer geht denn bei Nacht draußen?«

»Wer?« fragte die Mutter, ohne ihre Arbeit sinken zu lassen. »Was meinst du?«

»Draußen auf der Straße. Ich hab es selbst gehört, denn ich hab heute nacht gewacht.« Der letzte Satz wurde mit gehörigem Nachdruck gesagt, sie war stolz auf sich selbst.

»Ach, das kann ja der Schutzmann gewesen sein, der auf Wache ist, oder jemand, der spät aus einer Gesellschaft nach Hause geht, der vergnügt gewesen ist, wie du neulich bei Gerda,« sagte die Mutter.

»Und wer noch?«

»Vielleicht ein Arzt, wie dein Vater, der zu einem Kranken gerufen worden ist. Oder ein armer Mensch, der kein Zuhause hat.«

»Warum nicht?«

»Weil er vielleicht nicht genug Geld hat, sich ein Zimmer zu mieten. Oder er ist von seinen Eltern fortgegangen – ist vielleicht unartig gegen sie gewesen und wagt nun nicht, wieder heimzugehen.«

Das alles war recht spannend. Und doch war damit nicht alles genannt, was in den nächtlichen Schritten liegen und lauern konnte.

»Könnte es nicht auch jemand gewesen sein, der stehlen und morden wollte? Könnte er nicht zu uns hereinkommen, Mutter?« fragte sie.

»Nein, das würden Vater und Mutter schon zu verhindern wissen. Sie lassen gewiß keinen bösen Menschen zu Klein-Elsa herein. Aber mein Herzchen soll auch nicht wieder wach liegen, ohne Mutter zu rufen.«

»Wer geht in der Nacht vorüber?« So hatte das Kind auch seinen Vater gefragt. Er wurde ja, wie die Mutter gesagt hatte, manchmal bei Nacht zu Kranken gerufen und mußte also wissen, wer um diese Zeit draußen unterwegs war.

Aber auch der Vater antwortete, es könne der oder jener sein und Klein-Elsa solle sich durch die Schritte nur nicht vom Einschlafen abhalten lassen.

Die Frage spukte jedoch im Kopf des Kindes immer weiter.

Als sie einmal krank war und oft wachend in ihrem Bette lag, hörte sie wieder die Schritte in der dunklen Nacht, und in ihren Fieberphantasien kehrten sie auch immer wieder.

Sie wurde größer – wurde konfirmiert – aber sie entwuchs den Schritten nicht. Wie weit wird man überhaupt je erwachsen? Das Kind mit den neugierigen, ängstlichen Augen sitzt doch noch immer im Inneren und schaut unter der vernünftigen Oberfläche heraus.

Wenn sie am Abend in ihr schönes weißes Erkerzimmer trat, pflegte sie nach schlechter Gewohnheit noch lange aufzusitzen oder im Bett noch ein paar Stunden zu lesen. Und wenn sie endlich ihre kleine elektrische Lampe gelöscht hatte, lag sie häufig noch eine gute Weile mit offenen Augen da.

Um auf die nächtlichen Schritte zu lauschen …

Wenn das letzte Geräusch des Tages sich gelegt hatte, wenn das Dröhnen des letzten Straßenbahnwagens verhallt und das unnötig lange Tuten des letzten Autos verstummt war – dann kamen sie.

Aus der Dunkelheit heraus – in die Dunkelheit hinein – ganz sonderbar nahe an ihrem Ohre – mit einem ganz andern Ton als alle Schritte am Tage.

Sie hörte sie nicht gern, und doch konnte sie es nicht lassen, auf sie zu horchen. Es war spannend, sie zu verfolgen, ihnen zu lauschen.

Wer war's, der in der Nacht da draußen ging?

Natürlich lag die Antwort nahe und war in den meisten Fällen höchst prosaisch, aber für Elsa war sie nicht erschöpfend. Bei diesen Schritten in der Nacht war immer noch etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes, das sie sich nicht erklären konnte. Sie war der alten Angst der Kinderjahre vor Dieben und Räubern zwar noch nicht ganz entwachsen, aber eher hatte sie doch ein unbestimmtes Gefühl, die Schritte draußen rührten nicht von Menschen her; sondern es könnte – wie Ola in Randis Erzählung gedacht hatte – das Böse der ganzen Welt sein, das heranrückte.

Es war, als ob das oder der, so da draußen in der Nacht wandelte, einen Auftrag an sie hätte. Und als sei sie dem verfallen – –

Und nun heute nacht, wo ihr ihre Einsamkeit besonders klar geworden ist – nun weiß sie auch, da wo sie verborgen und unbekannt sitzt, wo kein Mensch den Weg zu ihr finden kann, da ist der Weg frei für den nächtlichen Schritt, da kann er hereindringen und sie niedertreten.

– Ach, sie ist dumm, daß sie sich hier mit solchen Einfällen abquält! Ist es hier nicht schon vorher unheimlich genug?

Wenn sie nur singen könnte! Jubelnd hell und klar! Dann würden alle lichtscheuen Gedanken in die Flucht geschlagen und die feuchtkalte Stille würde mit warmen lebendigen Tönen erfüllt! Ein Lied hinausschicken auf den grauen, schwermütigen Weg, daß die düstere Bergwand gerade gegenüber ein hellklingendes Echo zurückwerfen müßte!

Wie froh und freudig hatte doch Inger Maries Stimme heute morgen geklungen! Daß sie doch jetzt hier wäre! Was hatte sie nur gesungen?

Die Nacht kommt angezogen
So dunkel und so still – –
Hält alles von uns ferne,
Was uns betrüben will!

Da – ein plötzliches Geräusch im Hintergrunde des Zimmers! Blitzschnell wendet Elsa sich um. Die Tür zum Saal geht auf, der lange, öde Raum gähnt ihr entgegen – wie eine ungeheure Grabkammer.

Mit festen Schritten, die mutig klingen sollen, geht sie nach der Tür, ergreift die schwere eiserne Klinke und zieht sie fest zu. Wird dieses Vergnügen sich wohl mehrere Male in der Nacht wiederholen?

Wie wahnsinnig war sie doch gewesen, daß sie sich all diesem aussetzen hatte wollen! Sie ist wütend über sich selbst. Es ist unverantwortlich, daß sie hier so allein sein muß!

»Man muß eben auf den lieben Gott vertrauen« … Ja, kann eine Beruhigung darin liegen? Heißt das etwas anderes, als man muß sich darein finden, wie es auch gehen mag?

Aber wie, wenn es ein ewiges Leben gäbe? Ein solches braucht sie zwar nicht, aber sie braucht einen festen Punkt, um den sie die Arme schlingen – und sich dadurch sicher und wohlverwahrt wissen könnte – selbst hier.

Doch sie muß ja zu Bett. Der Fluß soll sie in Schlaf lullen. Er hat in diesem Jahr nicht so viel Wasser, und hier, wo er nicht mehr zwischen die Felswände eingeklemmt ist, gleitet er fast zögernd dahin und murmelt nur noch. Und gerade das kann einschläfernd wirken.

Auf andere Laute will sie nicht hören. Andere Laute darf es in dieser Nacht gar nicht geben. Am besten vielleicht, sie steckte sich etwas Watte in die Ohren, um nicht in ihre alte, widerwärtige Gewohnheit, immer auf etwas zu horchen, zu verfallen.

Das eine Fenster muß sie offen lassen, sonst bekommt sie nicht Luft genug. Sie ist ja nicht im Erdgeschoß am Wege, und offenstehende Türen sind noch schlimmer. Die graue Felldecke auf dem Bett will sie nicht gern über sich haben; aber auf einem der andern Betten liegt ein bunter Überwurf. Der ist warm genug und reinlicher.

Sie steckt ihren Regenschirm unter die vier Betten, um sich zu vergewissern, daß niemand darunter liegt. Obgleich – welchem Unheil könnte sie wohl mit dieser Vorsichtsmaßregel hier vorbeugen?

Dann legt sie sich zu Bett und deckt sich mit dem Überwurf zu. Ach ja, sie liegt ganz ordentlich. Und da sie so sehr müde ist, wird sie wohl auch einschlafen können – selbst wenn sie Angst hat. Wenn es jetzt doch nur auch dunkel hier wäre, damit sie selbst und alles andere verhüllt würde und verschwände!

»So, nun gute Nacht, Elsa!«

Doch in dem Augenblick, wo sie den Kopf aufs Kissen gelegt hat, schnellt sie auch schon wieder in die Höhe – –


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