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Als unsere Wanderer zum erstenmal diesen Fluß erblickten, standen sie überwältigt und staunend da. Noch nie hatten sie einen so großen Fluß gesehen. Senderl meinte, dies sei wohl der größte Fluß der Welt. Man denke, ein Fluß, der vielleicht hundertmal größer ist als der in Tunejadowka. Binjamin aber, der Vielgelehrte, der aus seinen Büchern an den sieben Weisheiten genippt hatte, die Beschreibung des unteren Gartens Eden kannte, von den sonderbaren und wilden Geschöpfen Indiens und dergleichen wußte, pflegte zwar, wenn er etwas Neues sah, im stillen ebenfalls zu staunen, machte aber dazu eine Miene und lächelte überlegen, als wolle er sagen: »Was ist das schon gegen das, was es sonst noch gibt!« So bewies er Senderl, daß die Pjatignilowka gegen den Jarden [Jordan] gehalten, der sie um ein Vielfaches übertrifft, einfach ein Dreck sei. Der »wilde Ochse«, der für die Festmahlzeit der Gerechten am »Ende des Tages« bereitgehalten wird, werde sie mit einem Schluck austrinken. Dagegen gibt schon die Bedeutung des Wortes »Jarden« einen Begriff von seiner Größe, denn Jarden heißt doch eben etwas Gewaltiges, Unmeßbares – kurz: ein Jarden!
»Weißt du, Senderl, was mir einfällt?« sagte Binjamin, nachdem er eine Zeitlang versonnen am Fluß gestanden hatte, »wie wäre es, wenn wir von hier zu Wasser reisten?«
»Gott sei mit dir!« rief Senderl erschrocken aus, »bedenk doch, Binjamin, wenn der Fluß bei uns jedes Jahr einen Menschen verschlingt, wie viele Menschen mag erst dieser im Laufe eines Jahres zu sich nehmen? Hab Erbarmen mit unserem Leben, mit deinem Weib und deinen Kindern, Binjamin!«
»Vertrauen, nur Vertrauen, Senderl! Gottvertrauen ist jüdisch. Auf Gott vertrauend ist unser Vater Jakob mit seinem Stecken über den Jarden gekommen, mit dem gleichen Vertrauen, siehst du, eröffnen Juden große Läden, alles, was du siehst, beruht auf Gottvertrauen, sogar Treppen und Balken und viele große Bauten sind nur auf Vertrauen gegründet.«
»Aber warum sollen wir durchaus zu Wasser, wenn wir dasselbe auf dem Trockenen erreichen können?« fragte Senderl.
»Dazu habe ich verschiedene Gründe«, erwiderte Binjamin, »vor allem wird die Reise zu Wasser kürzer und schneller sein. Wir müssen trachten, so schnell wie möglich dort hinzugelangen, je früher, desto besser. Warum? Das weiß ich, das ist meine Sache. Es drückt mich, Senderl, es bedrückt mich sehr, es bohrt mir ständig im Kopf, ich möchte schon dort sein, mit meinem ganzen Leben möchte ich schon dort sein! Wenn es möglich wäre, würde ich wie ein Vogel durch die Luft dahinfliegen. Zweitens: als Binjamin von Tudela zu seiner Zeit reiste, fuhr er am Anfang den Fluß Ebro hinunter, so steht es ausdrücklich in seinem Buch. Wenn er also in alten Zeiten zu Wasser gefahren ist und nicht zu Lande, muß es wahrscheinlich so geboten sein und nicht anders; er wußte wohl, warum er es tat, und er war doch so klug wie wir, wahrhaftig! Reb Binjamin ist ein Altvorderer, ein Früher, darum müssen wir ihm folgen, ohne viel zu fragen.«
»Wenn es so ist, soll es mir recht sein, so wahr ich ein Jude bin, Binjamin, und nicht nur zu Wasser, ja, wenn Reb Binjamin vor Zeiten auf einem Ofenwisch reitend gereist wäre, sollten wir uns nicht lange bedenken und das gleiche tun.«
»Drittens«, unterbrach ihn Binjamin, »wird es überhaupt nicht schaden, uns an das Fahren auf dem Wasser zu gewöhnen, bevor wir in die Lage kommen, auf dem großen Meere Okeanos zu schiffen. Ich bin sogar der Meinung, daß es gar nicht so dumm wäre, ehe wir Glupsk verlassen, einfach eine Fahrt auf dem Fluß zu versuchen. Siehst du, dort ist jemand mit einem Boot, laß uns hingehen, wir geben ihm eine Kleinigkeit, und er fährt uns.«
Einige Minuten später stiegen unsere Wanderer mutig in das Boot und fuhren über den Fluß. Am Anfang waren sie wohl ängstlich, Senderl schwindelte es, er zitterte an Händen und Füßen. Bald, bald, dachte er, kippt das Boot und er stürzt in die tiefen Abgründe des Flusses, es ist aus mit ihm und sein Weib bleibt eine Ewigverlassene. Doch allmählich beruhigte er sich.
»Es ist nicht so schlimm, Senderl«, tröstete ihn Binjamin, als sie wieder am Ufer waren. »Mach dir nichts draus, wenn es dich im Kopf schwindelt und dir nicht ganz wohl ist. Es ist die Seekrankheit, an der jeder leidet, wenn er zum erstenmal zur See fährt. Du wirst sehen, das nächste Mal geht es schon besser.
Seitdem pflegten unsere Reisenden oft Bootfahrten zu machen und Vergnügen daran zu finden. Sie fühlten sich so mutig, daß die Fahrt über das Meer ihnen ein Kinderspiel schien. Binjamin ließ sich durch Senderls Vermittlung in Gespräche mit dem Bootsmann ein und überschüttete ihn mit Fragen: »Frag doch den Kapitän, Senderl, wie viele Meilen noch von hier bis zum Meer sind? Frag ihn, ob es hier Inseln gibt? Was für Leute dort wohnen? Ob Juden unter ihnen sind? Wem sie Tribut zahlen und ob sie etwas vom Galuth wissen?« Oder Fragen von solcher Art: »Frag doch einfach aus Neugierde diesen Unbeschnittenen nach dem Berge Nisbon und dem Kufr al-Turk. Ob er etwas über die Zehn Stämme weiß? Kann man's wissen? Vielleicht hat er etwas gehört?« Solche und ähnliche Fragen ließ Binjamin stellen, doch das wenige, das Senderl von den Gängen auf den Markt mit seinem Weib von der Landessprache kannte, war zu wenig für so erhabene Gegenstände. Zwiebeln oder Kartoffeln aushandeln, das ging noch leidlich, aber mit einem Kapitän ein Gespräch über gelehrte Dinge führen, dazu langte es nicht. Es war mitleiderregend zu sehen, wie Senderl bei solcher Unterredung mit Händen und Füßen sich anstrengte, sich abzappelte, daß ihm der Schweiß herunterrann. Der Kapitän spuckte nur aus und wurde böse und sah ihn mit scheelen Blicken an, während Binjamin von der andren Seite ihm zusetzte, ihn puffte und ihm gespannt auf den Mund sah.
»Er Rote Jüdchen, er fragen«, begann etwa Senderl seine Ansprache.
»Rote Jüdchen kenn ich . . . den Leibka, Schmulka . . . reiche Juden . . .«, erhielt Senderl vom Kapitän zur Antwort.
»Nicht Leibka, nein, nein, er fragt nach den Roten Juden, dort, dorten, wie sagt man es, am Berg Nisbon?«
»Nisbon, einen Juden Nisbon?«
»Sag's ihm«, schrie Binjamin, »sag's ihm, mach's ihm deutlich, so gut du kannst!«
Senderl legte die Finger beider Hände aneinander und hob sie in die Höhe, um so einen Berg darzustellen und schrie dazu: »Weit, weit, hoch!«
Darauf spie der Bauer verächtlich aus, verwünschte und beschimpfte Senderl in unflätigster Weise.
Von diesen seinen Fahrten auf der Pjatignilowka weiß Binjamin erstaunliche Dinge zu berichten, die Aufsehen in der Welt erregt haben. Wir wollen hievon nur einen Auszug bringen: Auf einer dieser Fahrten erblickte Binjamin mitten im Fluß eine sehr große grün bewachsene Fläche, so grün, daß es in die Augen stach. Er hielt sie für eine mit Gras und duftenden Kräutern bedeckte Insel. Schon streckte er einen Fuß aus, um hinüberzuspringen, da packte ihn der Schiffskapitän mit Geschrei von hinten und warf ihn mit solcher Kraft ins Boot zurück, daß er eine Weile fast besinnungslos liegenblieb. Er hörte nur, wie es um das Boot kochte, rauschte, als kämpfe es gegen etwas an, und als er zu sich kam, erklärte ihm der Bauer, daß er in großer Gefahr war, in diesem Grün zu ertrinken. Dieses Grün sei nämlich keine Insel, wie er dachte, sondern nur die Blüte, die die Pjatignilowka jedes Jahr zeitige. »Ich aber«, schreibt Binjamin, »wollte es mir nicht einreden lassen. Zwar roch es stark, doch habe ich mein Lebtag nicht gehört und habe es auch nirgends in meinen Büchern gefunden, daß Wasser blühen soll. Wenn es blühte, müßte es ja auch Früchte tragen. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß es das Ungeheuer, der große Fisch Kilejna ist, von dem in der Schrift ›Schatten der Welt‹ eine sehr schöne Beschreibung steht, die folgendermaßen lautet: ›Dieser gewaltige Fisch bedeckt sich mit Erde und Gras, so daß er wie eine große Insel aussieht, und die Seefahrer halten ihn manchmal für einen ansehnlichen Berg. Sie landen, ergehen sich auf ihm, machen ein Feuer an, um abzukochen, sobald aber der Fisch die Feuerwärme verspürt, taucht er in die Abgründe, und alle, die auf ihm ihr Lager aufgeschlagen haben, ertrinken.‹ Das ist ein schlüssiger Beweis für die Richtigkeit der Behauptung jener großen Forscher, welche die Meinung vertreten, die Einwohner von Glupsk stammten aus Indien. Als sie nämlich damals in alter Zeit die Pjatignilowka hinaufsegelten, verschleppten sie den Kilejna mit sich, der tatsächlich in Indien beheimatet ist und die Neigung hat, den Schiffen nachzufolgen.«
Einmal, als Binjamin ins Wasser hinabblickte, entdeckte er tief drunten Geschöpfe, die ganz und gar weiblichen Gestalten glichen. »Lange vorher hatte ich in meinen Büchern gelesen, daß im Wasser Meerweiber sich aufhalten. Von alten wahrheitsliebenden Leuten, denen man aufs Wort glauben darf, hörte ich auch erzählen, sie hätten selbst solche Meerweiber bei den herumziehenden Komödianten gesehen, die sie nach der Vorstellung für einige Groschen zur Schau stellten. Und jetzt habe ich's erlebt, sie mit eignen Augen zu sehen. Ich zeigte sie mit großem Staunen dem Bootsmann, der aber wies auf Wäscherinnen, die am Ufer Wäsche wuschen. Ich wies ins Wasser und er ans Ufer. Und da keiner von uns die Sprache des andern verstand, wußte er nicht, was ich ihm und ich nicht, was er mir zeigte, weshalb ich auch nichts Genaues ausmachen konnte.«
Eines Nachmittags lustwandelten unsere Helden, heiter und vergnügt, draußen vor der Stadt. Sie lachten und scherzten, blickten einander in die Augen und waren sehr guter Dinge. Sie glichen einem verliebten und jung vermählten Paar, das gemächlich im Grünen sich ergeht und an jedem Wort, an jedem Blick sein Glück abliest. Was stimmte sie denn so heiter? Wirklich, was konnte sie mit solcher Freude erfüllen, daß sie herumsprangen und sangen und sich rein wie die Verrückten anstellten. Nichts anderes, lieber Leser, als daß sie beschlossen hatten, am nächsten Tag Glupsk zu verlassen und zu einer vom Glück begünstigten Stunde nach ihrem Ziel loszusegeln. Und wie sie so vergnügt dahinwandeln, kommt ihnen ein Gefährt entgegen. Drin sitzen zwei Juden, der eine hält die Zügel und der andre sitzt gebückt zur Seite, die Mütze in den Nacken geschoben, und saugt an einem Strohhalm – überzeugende Anzeichen, daß in dem jüdischen Köpfchen tiefsinnige Überlegungen vor sich gehen. Die beiden Männer erblickten unsere lustigen Spaziergänger, musterten sie vom Kopf bis zu den Füßen und redeten sie an. Die erste Frage war die übliche: »Woher seid ihr, Juden?« Die zweite: »Wie heißt ihr?« Darauf folgte die ganze Fragenliste, wie es bei einer ersten Begegnung üblich ist. Unsere Reisenden wünschten sich nichts Besseres. Sie wurden redselig und schütteten alles aus, kurz: sie machten aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Die Juden sahen sich lachend an, tuschelten miteinander, worauf der mit der zurückgeschobenen Mütze und dem Strohhalm im Mund nur die Bemerkung hinwarf: »Macht nichts, es wird schon gehen! Schlimmstenfalls kostet es etwas mehr.«
»Hört, was wir euch vorschlagen«, sagten die Juden schließlich, »auch unsere Stadt dürfte der Gunst teilhaftig werden, wahrhaftig, zwei so illustre Männer bei sich zu beherbergen. Wir bitten euch sehr höflich, tut uns die Ehre an und steigt, mit Verlaub, gleich zu uns hinauf, ohne viel Redensarten. Wir bürgen euch dafür, daß ihr bei uns sehr freundlich empfangen werdet, mit Essen, Trinken und allem Möglichen.«
»Wir würden euch, wir beteuern es, gerne willfahren«, antwortete Binjamin, »nur haben wir beschlossen, morgen von hier zu Wasser aufzubrechen.«
»Nehmt es nicht übel«, sagten die Juden, »aber das hat nicht viel Sinn. Was ist Pjatignilowka schon für ein Wasser? Ein Rinnstein, mit Verlaub, ein Dreck, eine stinkende Pfütze, ein grüner Entenpfuhl. Bei uns dagegen fließt der Dnjepr, der direkt ins Meer fällt, von uns aus werdet ihr, mit Gottes Hilfe, rasch und sicher zu eurem Ziel gelangen. Seid nicht steifnackig, wir beschwören euch, kommt, steigt auf!«
»Was meinst du, Senderl?« fragte Binjamin, »vielleicht tun wir ihnen den Gefallen und fahren mit?«
»Was habe ich dagegen?« antwortete Senderl, »willst du fahren, dann laß es uns tun.«
Schon saßen unsere Helden voller Befriedigung über die Ehre der Einladung im Wagen, großer Erwartungen voll. Die Reise war lustig, die Reisegefährten waren sehr aufmerksam und hüteten förmlich ihre Schritte. Sie versorgten sie reichlich mit Speise und Trank, so reichlich wie eine Kindbetterin, unsere Wanderer hätten dergleichen nicht einmal zu träumen gewagt. Am zweiten Tag vor Abend kamen sie glücklich in Dnjeprowitz an. Die Juden stiegen mit ihnen in einem Gasthof ab und bewirteten sie mit einem üppigen Mahl.
»Jetzt seid ihr müde von der Reise und wollt schlafen«, sagten sie darauf, »so meinen wir, ist es besser, ihr geht früh zur Ruhe. Morgen, so Gott will, wenn ihr frisch und munter aufwacht, wollen wir euch zu einigen bedeutenden Männern begleiten, für euch ein Wort einlegen, und wenn sie euch aufnehmen, seid ihr mit allem Nötigen versorgt und könnt bald eure Reise antreten. Gute Nacht!«
»Gute Nacht und ein gutes Jahr«, erwiderten unsre Wanderer. Bald darauf sprachen sie ihr Gebet vor dem Schlafengehen, strichen sich die Bäuchlein, kraulten sich wohlig und überließen sich heiteren Gemüts dem Schlummer.