Mendele Moicher Sforim
Die Fahrten Binjamins des Dritten
Mendele Moicher Sforim

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Unsere Helden geraten nach Teterewka, wo Binjamin eine Ohrfeige einsteckt

Binjamins Glieder, nachdem sie mit einem ganzen Zuber kalten Wassers übergossen worden waren, erholten sich in der Nacht des Tauchbades, und als er in der Früh erwachte, fühlte er sich viel wohler. In dem Vorfall mit dem Kalb, durch den die Heilung seiner Schmerzen herbeigeführt worden war, erblickte er einen Fingerzeig der Vorsehung, und bewies Senderl, wie ungerecht der sündige Mensch sei, der sich über ein Mißgeschick, das ihn trifft, beklagt und nicht begreifen will, daß Unglück in Glück, Mißgeschick in Wohltat sich wandeln können. Er legte ihm dar, der Höchste könne jedes seiner Geschöpfe, ein Tier selbst zu seinem Boten erwählen, wie ein Kalb zum Arzt werden und sogar eine Mücke im Gehirn bohren, plagen und zum Ersticken bringen kann. Als Beweis führte er die Geschichte von der Mücke an, die vor Zeiten den Frevler Titus geplagt hat. Was in der Nacht geschehen, nahm er als ein gutes Omen dafür, daß seine Reise in einer günstigen, glückhaften Stunde begonnen worden sei, und er, so Gott will, glücklich sein Ziel erreichen werde.

»Ein Wasserträger mit vollen Eimern ist von jeher ein gutes Vorzeichen gewesen, geschweige denn ein großes volles Schaff«, sekundierte Senderl und stimmte ihm zu.

Aber wegen der Schmerzen, die er immer noch in den Beinen spürte, und da es auf der Strohschütte angenehm weich war zu liegen, blieb Binjamin noch einen ganzen Tag in Piewka. Er glich einem Segler auf dem Meere, der auf eine Sandbank geraten ist und von der Flaute dort festgehalten wird. Tags darauf erhob er sich in der Frühe von seinem Lager, und beide setzten ihre Wanderung fort.

Eine ziemliche Weile schritt Binjamin etwas melancholisch dahin, still, versonnen, ohne ein Wort zu sprechen, dann schlug er sich vor die Stirn und blieb niedergeschlagen stehen. Es währte einige Minuten, bis er den Mund öffnete und tief aufseufzend die Worte sprach:

»Ach, Senderl, ich hab was vergessen!«

»Wo? Was?« fragte Senderl und griff hastig nach seinen Sachen.

»Zu Hause, Senderl, zu Hause hab ich's vergessen.«

»Was denn? Es kann nicht sein!« widersprach Senderl, »wir haben doch alles mitgenommen, was ein Mensch nur braucht. Der Sack ist, Gott sei gelobt, da, zum Beten haben wir auch alles, die Sabbatkleider ebenfalls. Was könnten wir vergessen haben?«

»Was ich vergessen habe, ist sehr wichtig, Senderl, es ist fürs Leben notwendig. Ach, möchte nur alles glücklich ablaufen, denn, wenn, bewahre – über meine Lippen will ich's nicht bringen, Gott soll uns beschirmen und beschützen –, wenn unterwegs der Satan uns einen Streich spielen sollte, werden wir die große Bedeutung dessen, was ich vergessen habe, erkennen. In der Hast des Auszuges habe ich vergessen, den Spruch zu sagen, der in einem Buch steht und einer ganz alten Handschrift entnommen ist. Dieser Spruch muß vor Antritt der Reise, beim Verlassen der Stadt, an der Stadtgrenze gesagt werden, dann darf man auch gewiß sein, daß man unterwegs gegen jede Gefahr und böse Begegnung gefeit ist. Das habe ich vergessen!«

»Hast du vielleicht die Absicht wieder umzukehren?« fragte Senderl.

»Bist du verrückt, von Sinnen?« schrie ihn Binjamin an, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. »Ein Einfall! Nach Hause zurück! Nach einer solchen Plage und nachdem wir eine solche Strecke zurückgelegt? Und die Welt? Was wird die Welt sagen?«

»Ach, was schert uns die Welt?« erwiderte Senderl, »hat dich die Welt auf die Reise geschickt, hat sie einen Vertrag mit dir geschlossen, hat sie dir Reisegeld gegeben?«

»Sieh nur, wie klug!« äffte ihn Binjamin nach, »und Alexander von Mazedonien? Hat ihn die Welt gebeten, nach Indien zu ziehen und dort Krieg zu führen? – Und alle die Wanderer von uns Juden, hat die Welt sie geschickt, von Stadt zu Stadt zu ziehen?«

»Weiß ich's?« sagte Senderl lachend, »von mir aus hätten sie alle getrost zu Haus bleiben dürfen, es wäre für jeden von ihnen besser und klüger gewesen! Ach, du guter närrischer Alexander von Mazedonien, hast zu Hause von allem Guten, sitz ruhig, leb in Frieden und streichle dir das Bäuchlein – was brauchst du Indien? Sitz zu Hause und rühr dich nicht, sagt das Sprichwort, und die Leute sagen, ein Sprichwort ist, Profanes vom Heiligen zu scheiden, so gut wie ein Spruch im Talmud. Mehr noch wundre ich mich über unsere Juden. Sie erst recht hätten sich an den Talmud halten sollen, bleiben, wo sie waren und sich mit ihren eignen Angelegenheiten befassen, ein jeder mit seiner. Was taugt das Herumziehen, das blöde Herumirren in der Welt? Ohne Sinn, ohne einen Genuß von seinem Leben zu haben, umsonst nur Stiefel zerreißen! Ich schwöre dir, Binjamin, so wahr ich ein Jude bin: sollte ich einem solchen Kerl begegnen, ich würde ihm gleich jenes Sprichwort, ich meine, Profanes vom Heiligen zu scheiden, den Talmud vorhalten.«

In dieser Weise stritten unsere Helden miteinander. Senderl erhob immer neue Einwände, Binjamin bewies ihm, er sei unwissend und habe keine Ahnung von solchen Dingen. Senderl glich einem Pferd, das seinem Herrn durch Feuer und Wasser folgt, jedoch plötzlich, wie von einem Wahn befallen, störrisch wird und nicht von der Stelle zu bringen ist, mag sich sein Herr darüber umbringen. Binjamin traktierte den störrischen Senderl zwar nicht mit der Peitsche, dafür drosch er ihn so lange mit seiner scharfen Zunge und überschüttete ihn mit einem solchen Wortschwall, daß dieser schließlich windelweich wurde und ein gehorsames Pferd wie vorher. Er hielt bei Binjamins Reden die Ohren steif und sagte zum Schluß nur, wie es seine Art war:

»Willst du, daß es so ist, soll es so sein. Was hab ich dagegen?«

Als Binjamin mit Senderl fertig geworden, setzten sie die Wanderung fort, und nachdem sie lange so manche Haupt- und Seitenwege durchmessen hatten, erreichten sie todmüde die Stadt Teterewka.

Teterewka war die erste große Stadt, die unsere Wanderer in ihrem Leben zu sehen bekamen. Darum darf man sich nicht wundern, daß sie die geraden, gepflasterten Straßen und die hochgebauten Häuser anstaunten und sich an ihnen nicht sattsehen konnten. Über die Bürgersteige gingen sie fast auf den Zehenspitzen und setzten die Füße so sonderbar, als hätten sie Angst, die glatten Steine zu beschädigen. Unsere Helden aus dem Städtchen Tunejadowka gingen bedrückten Herzens umher und wichen demütig jedermann aus. Senderl griff in solchen Fällen nach Binjamins Rockschößen und zog ihn zur Seite, es kam auch vor, daß er mit einem Passanten, dem er ausweichen wollte, einen richtigen Tanz aufführte, bis dieser, nicht gerade zum Tanzen aufgelegt, ihn unwirsch beiseite stieß. Alles hier war für unsere Gesellen neu, alle Menschen schienen mit den Fingern auf sie zu deuten, der Wagenlärm betäubte sie, die Häusermauern standen hoffärtig da und blickten mit ihren großen Fensterscheiben stolz auf sie herab. Menschen und Dinge schienen ihnen zuzurufen: »Respekt, ihr Habenichtse, Respekt, ihr Kleinstädter! Respekt! Respekt!«

»Weißt du, Binjamin«, meinte Senderl, nachdem er ein hohes Gebäude mit zurückgeworfenem Kopf in tiefer Ehrfurcht betrachtet hatte, »ich denke, wir sind in Stambul!«

»Woher denn, bist du närrisch? Das – und Stambul?« sagte Binjamin mit einer Miene, als sei er in Stambul geboren, »Stambul, mein Guter, hat fünfhundertmal fünfhundert Gassen, jede Gasse hat fünfhundertmal fünfhundert fünfzehn-, zwanzig- oder vielleicht dreißigstöckige Häuser, und in jedem Haus wohnen fünfhundertmal fünfhundert Menschen. Damit bist du aber lange noch nicht fertig. Wart, mein Lieber, es gibt da außerdem noch kleine Gassen, Vorstädte, Karawansereien wie Sand am Meer.«

»Ach, ach, ach!« rief Senderl staunend, »wahrlich schreckeinflößend ist eine solche Stadt! Doch sag mir, ich bitte dich, Binjamin, woher kommen alle diese großen Städte? Wie kommt es, daß Menschen sich an einem Ort so zusammendrängen, als wäre die Erde zu klein und es gäbe nicht genügend Platz auf ihr? Es muß doch wohl einen Grund haben, daß die Menschen sich von der Erde entfernen und in den Himmel drängen, in hohe, ganz hohe Stockwerke übereinander! Sollte es vielleicht deshalb sein, weil des Menschen Seele aus dem Himmel stammt und es ihn, den Armen, stets hinaufzieht, daß er den Drang hat, die Flügel auszubreiten, um ja nur oben zu sein. Was sagen darüber deine Weisen, Binjamin? Hast du in deinen tiefsinnigen Büchern das nicht irgendwo erörtert gefunden?«

»In der Forschung«, erwiderte Binjamin mit bedeutungsvoller Miene, »wird darüber weitläufig abgehandelt. Auf der Ofenbank in unserem Bethaus hatte ich einmal eine Unterhaltung über diese Frage, wobei die Stelle im Talmud von den zehn Maß Armut, die in die Welt geschickt wurden, sowie der Satz in der Heiligen Schrift ›Die Welt war erfüllt von Raub‹ ihre richtige Auslegung fanden. Aber ich will es dir nach unserer Thora klarmachen, Chimmesch hast du ja gelernt, Senderl. Laut dem, was dort geschrieben steht, wohnten unsere Ureltern vor alten Zeiten in Zelten. Doch zur Zeit des Sintflutgeschlechts versammelten sich die Menschen an einen Ort, fingen an, Ziegel zu brennen und eine Stadt zu bauen mit hohen Mauern bis in den Himmel. Aber mitten in der Arbeit schon entstand unter ihnen böse Verwirrung und Getümmel, keiner verstand mehr des andern Sprache, und alle Pläne mißlangen. Zum Glück tat Gott ein Wunder und trieb sie auseinander, so daß die Menschen wieder ihr altes Leben aufnahmen und freier atmeten, und die Welt wurde wieder aufgerichtet. Doch die Sünde des Geschlechts der Sintflut ist in der Welt geblieben und wirkt zum Teil noch fort. Seitdem treibt die böse Lust die sündigen Menschen an, sich zusammenzudrängen und aufeinander zu hocken, hoch zu bauen, sich einen Namen zu machen und in den Himmel emporzuklettern. ›Was hast du dich an mich gehängt, wie eine Klette?‹ sprach Abraham zu Loth. ›Warum sollen sich deine Leute mit meinen um eine Spanne Boden streiten, die ganze Welt steht dir ja offen. Geh, wohin du Lust hast, und laß mich in Ruh.‹«

Doch kaum, daß Binjamin seine Rede zu Ende gebracht, wurden unsere Gesellen von einem Kutscher, der sie von hinten anfuhr und mit der Deichsel beinahe zu Schaden gebracht hätte, angebrüllt: »Idioten«, schrie er und schwang die Peitsche über ihnen, »was kriecht ihr da herum, wie die Schnecken und versperrt einem den Weg! He, ihr Musterjungens, ihr verfluchten Kerle!« Unsere Reisenden setzten ihre Beine in Schwung und liefen vor Schreck wie vergiftete Mäuse auseinander, jeder in eine andere Richtung. Im Laufen stolperte Senderl und stürzte der ganzen Länge nach zu Boden, Binjamin stieß in der Hast gegen einen Korb mit Eiern, den ein Marktweib trug. Die Eier zerbrachen, und gegen ihn brach die Hölle los. Ein Mundwerk, feuerspeiend, tat sich auf und überschüttete ihn mit einer Flut von Flüchen. Der so geäußerten Absicht folgte auch unmittelbar die Tat, und unser Binjamin hatte eine gewaltige Ohrfeige sitzen, ja, die Korbträgerin hatte nicht übel Lust, sich in sein Haar zu verkrallen. Kurz, Binjamin hatte Mühe genug, mit knapper Not sich ihren Händen zu entwinden und in ein Seitengäßchen zu entkommen, wo auch Senderl sich bald zu ihm fand.

»Da hast du die große Stadt!« sagte Senderl und wischte sich mit den Rockschößen den Schweiß vom Gesicht, »da geh nicht, und dort steh nicht – der Böse soll sie alle kennen!«

»Das alles ist nur das Erbe des Sintflutgeschlechts«, antwortete Binjamin, der wie eine Gans fauchte, »alles, was du hier siehst, ist Sintflutzeitalter mit seinem bösen Getümmel, mit seiner Verwirrung, Diebstahl, Raub und Mord.«

»Ach, mag sie die Erde verschlingen!« sagte Senderl mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Komm, Binjamin, laß uns ausruhen, du siehst ja schrecklich aus, deine Backe glüht, der böse Geist soll in dieses frechen Weibes Vater fahren! Wisch nur, mit Verlaub, dein Gesicht ab, die Unverschämte hat dich ja ganz mit Eigelb ausgeschmiert!«


 << zurück weiter >>