Mendele Moicher Sforim
Die Fahrten Binjamins des Dritten
Mendele Moicher Sforim

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Binjamin und Senderl verlassen Tunejadowka

Am frühen Morgen, bevor noch der Gemeindehirt das Vieh zusammengetrieben hatte, stand Binjamin bereits reisefertig an der Windmühle, ein Bündel unterm Arm. Drinnen befanden sich alle Geräte, die für die Reise notwendig sind: Gebetmantel und Betriemen, das Gebetbuch »Weg des Lebens«, ein anderes für die Zusätze, ein Psalter und alle die Bücher, ohne die er, wie ein Handwerker, ohne Werkzeug geblieben wäre. Auch die Sabbatkapote war drin: man muß doch den Ansprüchen der Welt genügen und sein Ansehen wahren. In der Tasche hatte er vierzehn und einen halben Groschen, die er vor seinem Aufbruch unter dem Polster seines Weibes heimlich hervorgeholt hatte. Kurz: er war, gepriesen sei der Name, mit allem versehen und durfte getrost aufbrechen.

Indessen war die Sonne mit Macht aufgegangen und blickte mit ihrem strahlenden Antlitz auf die Welt herab. Vögel schwirrten durch die Luft und zwitscherten rings um Binjamin, als wollten sie sagen: Kommt, laßt uns singen und jubilieren und den großen Mann an der Windmühle erfreuen! Das ist ja Binjamin persönlich, Binjamin aus Tunejadowka, der Alexander seiner Zeit, der sein Vaterland, Weib und Kind verlassen hat und nach dem Wort Gottes des Weges zieht, wohin ihn die Augen führen. Hier steht er, der große Binjamin, er ist wie die Sonne aus seinem Zelt getreten und freut sich, wie ein Held seinen Lauf zu beginnen, sein Bündel in der Hand. Er ist stark wie ein Leu, leicht wie ein Adler, den Willen unseres Vaters im Himmel zu vollziehen. Singt und spielt, tirilili, tirilili, jubiliert und erfreut sein Herz!

Binjamin war wahrhaft bewegt, er dachte: Bin ich nicht der glücklichste Mensch auf der Welt? Was fehlt mir, mag mich der böse Blick verschonen, was entbehre ich? Mein Weib habe ich, gepriesen sei Sein Name, versorgt, sie hat ihr Auskommen, ich selbst bin ein freier Vogel, wie die Singvögel alle hier um mich! Die ganze Welt steht mir offen. Mit meiner Erfahrung, mit meiner Beherztheit, mit meiner Beschlagenheit in den sieben Weisheiten werde ich mich getrost durchschlagen. Außerdem bin ich doch ein Jude, ein Mensch mit Gottvertrauen. Juden leben, von dem was sie selber vermögen abgesehen, ihr Leben doch nur dank dem Gottvertrauen, und Gott bringt sie durch.

Binjamin war es so freudig zumute, daß sein Mund sich öffnete und er mit lieblicher Kopfstimme die Marschmelodie des »Mejlech Eljen« anstimmte.

Indessen ging geraume Zeit hin, und Senderl war noch immer nicht zu sehen. Binjamin fing an unruhig zu werden, und seine freudige Stimmung verließ ihn. Er sah sich die Augen aus dem Kopf, vergebens, keine Spur von Senderl. Sollte ihm das böse Weib eine Hausarbeit aufgeladen haben? Dazu wäre es aber noch zu früh. Binjamin wurde ratlos. Sollte er umkehren? Nein, das wäre nicht schön! Alexander von Mazedonien hat die Brücke, über die er nach Indien gelangt ist, hinter sich abgebrochen, um sich den Rückzug unmöglich zu machen. Sollte er ohne Senderl losziehen? Nein, auch das war ihm sehr zuwider! Er brauchte Senderl notwendig. Seit er sich mit ihm verbunden hatte, schien ihm die Welt heller geworden, das ganze Unternehmen wäre wie ein Schiff ohne Ruder, oder wie ein Königreich ohne Minister.

Plötzlich wurde in der Ferne eine seltsame menschliche Gestalt sichtbar, es war Senderl und doch nicht er, denn es war etwas wie ein Weib in einem Kattunkleid und mit einem Tuch um den Kopf. Binjamin stand einen Augenblick das Herz still, er wurde totenbleich. War es am Ende sein Weib? Sie geht nicht, sie läuft, sie rennt, bald wird sie sich wutentbrannt auf ihn stürzen, ihr schwer beladenes bitteres Gemüt über ihn ausschütten, ihn jammernd und wehklagend nach Hause zurückschleifen. »Nur Gott allein weiß«, so erzählt Binjamin selbst, »was ich in diesem Augenblick ausgestanden habe. Lieber wäre ich damals hundert Vipernattern begegnet als meinem Weib, denn das Ungeheuer verwundet nur den Leib, den Körper. Ein Weib, wenn es in Wut gerät, sticht und verwundet die Seele. Doch Er, dessen Name gepriesen sei, hat mir Stärke verliehen, bald faßte ich Mut und flüchtete mich hinter die Windmühle, von dort spähte ich aus, wie ein Leu, der auf Beute lauert.«

Einige Augenblicke später stürzte Binjamin wie ein Verrückter mit einem gewaltigen Satz und einem Freudenschrei aus seinem Versteck hervor: »Ha, Senderl!«

Senderl war mit einem kattunen Schlafrock bekleidet, um seine Backen hatte er ein schmutziges Tuch gewunden, unter beiden Augen waren frische blaue Flecke und Nägelspuren zu sehen, er hatte einen Stock in der Hand und ein dickes Bündel auf dem Rücken. Doch in Binjamins Augen hatte er jetzt den Liebreiz einer geschmückten Braut in den Augen des Bräutigams.

»Was ist geschehen, Senderl? Warum hast du so lange auf dich warten lassen?«

»Wieso? Ich bin doch erst zu dir gegangen«, antwortete Senderl in seiner Einfalt, »bis ich hinkam und dein Weib Selde aufweckte, verging eine ziemliche Zeit!«

»Selde aufgeweckt!« schrie Binjamin, »bist du verrückt geworden? Wozu war das nötig?«

»Wozu?« entgegnete Senderl verwundert, »erst habe ich in der Kammer angeklopft, und du hast nicht geantwortet, darauf klopfte ich an die Stubentür. Da ist Selde halbtot vor Schreck erwacht, und ich fragte sie nach dir!«

»Wir sind verloren, Senderl! Eine schöne Suppe hast du uns eingebrockt, jetzt wird Selde uns verfolgen, Selde wird . . .«

»Geh, fürcht dich nicht, Binjamin! Sie hat mich zu allen bösen Geistern fortgejagt, mit einer Wut, als hätt' ich ihr eine Kostbarkeit beschädigt. ›Geh, pack dich fort, zusammen mit meinem Juwel, möcht euch beide doch die Erde verschlingen!‹ schrie sie und schlug die Tür zu. Eine Weile blieb ich ganz verwirrt stehen, dann erst erinnerte ich mich an die Windmühle und dachte mir, du wirst schon dort sein. Darum hat sie's wohl gesagt, sie hat dich gewiß weggehen sehen, schließ ich draus.«

»Was? Was? Sie hat gesehen? Am Ende folgt sie dir, am Ende kommt sie.«

»Bewahre, Binjamin, sie hat die Kette vorgelegt. Als ich dann nochmal anklopfte und fragte: ›Selde, Selde, soll ich deinem Mann vielleicht etwas von dir ausrichten, oder willst du etwas für ihn mitgeben, was ja auch möglich wäre, Selde?‹ Da gab sie keine Antwort mehr, sie hat offenbar einen recht festen Schlaf, möge der böse Blick sie meiden! ›Nun‹, sagte ich, ›schläfst du, Selde, dann schlaf gesund, so leb denn wohl, Selde‹, sagte ich, und ging fort.«

Senderls letzte Worte wirkten wie eine belebende Arznei auf Binjamins Gemüt, er fing an freier und tiefer zu atmen, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Sein Antlitz strahlte, seine Augen leuchteten vor großer Freude.

»Und jetzt, Senderl«, rief er mit heller Stimme, »angetreten, mit dem rechten Fuß!«


 << zurück weiter >>