Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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17

Romeo durchquert den alten Park vor dem Friedhof. Die Bäume stehn in voller Blüte. Es ist spät am Nachmittag, die schmalen abseitigen Wege, die Romeo einschlägt, sind menschenleer. Wie ruhig es hier ist. Wie traurig und zärtlich der Duft von Pflanzen über den Wegen liegt . . .

Romeo zieht ein Heftchen mit verschiedenfarbigen Scheinen aus der Tasche. Auf jedem einzelnen dieser Blätter mit den fremden nordländischen Städtenamen und den dreisprachigen Ausdrücken verweilt sein Blick. Sonderbar. Wie hatte es ihn gestern noch erregt und freudig gestimmt, als er in dem kleinen Reisebüro diese bunte Bescheinigung seiner Flucht in die Welt in Empfang genommen hat; in jene andere höhere Welt, von deren Existenz ihn der Fremde auf dem Bahnhof und Bild und Brief dieser wunderbaren 294 Kirsten Johannsen überzeugt hatten. Den Namen wird er wohl niemals vergessen. Und jetzt –? Der Gedanke, daß er morgen um die gleiche Zeit Rietheim bereits weit hinter sich gelassen haben wird, hat nichts Erregendes Beglückendes mehr für ihn, erscheint ihm vielmehr selbstverständlich und – gleichgiltig. Das Heftchen mit den Fahrscheinen in seiner Hand stimmt ihn verzagt. Er wird sich trotz diesen Fahrscheinen nicht retten können.

Ist es die Nähe des Friedhofs, der Weg zum Grab der Mutter? Sein erster und vielleicht auch sein letzter . . . seit jenem Begräbnistag. Oder ist es der alte blühende Park, in dem jeder Winkel ihm die Erinnerung an kleine, lang vergessene Geschehnisse seiner Kindheit zurückgibt? Hier, auf diesem Rasen hat er mit seinen ersten Freunden Räuber und Gendarm gespielt. Dort auf der Bank hat er den »Winnetou« gelesen . . . Wie genau er sich plötzlich an alles erinnert. Beim Tod des »roten Gentlemans« war er in Tränen ohnmächtiger Wut über den Meuchelmörder, dieses feige Kommanchenschwein, ausgebrochen; selbst- und weltvergessen hatte er allerlei bestialische Racheschwüre vor sich hin gemurmelt, bis ein vorübergehender würdiger Herr ihn anrief und fragte, was ihm denn über die Leber gelaufen sei? Da hatte er sich furchtbar geschämt, war von der Bank aufgesprungen und mit seinem dicken Buch davongelaufen; nicht ohne dem alten Bleichgesicht noch rasch die Zunge herausgesteckt und »Karacho!« gemurmelt zu haben. Was dieses Wort zu bedeuten hat, weiß er eigentlich heute noch nicht. »Karacho« . . .

Romeo weiß auch nicht, wie sehr der Ausdruck 295 seines Gesichts jetzt dem des »Winnetou«-lesenden, »karacho«-murmelnden Knaben gleicht. –

Durch eine neue Pforte, an der ein alter Mann in einer blauen Bluse fröstelnd in der Sonne sitzt, verläßt Romeo den Park seiner Kindheit. Auf der Straße – auch hier zu beiden Seiten neue Häuser, die letzten der Stadt – beschleunigt er seine Schritte. Er wollte, er wäre bereits wieder zuhause in seinem nun fast leeren Zimmer. Der Friedhof, diese endlose weißliche Mauer dort, flößt ihm Furcht, Unbehagen ein. Seit dem Begräbnistag war er nicht mehr dort gewesen. Dieses Begräbnis –! Qualvoll war es, scheußlich, anwidernd. Es fröstelt ihn, wenn er daran zurückdenkt. Der Geistliche! Die alten Weiber und das alles. Lüge, gemeine heuchlerische widerliche Lüge. Wie sich das mit dem Schmerz in der eigenen Brust vermengt und diesen Schmerz vergiftet. Welche mittelalterliche Schmach.

Ob es wohl auch im Land der Frau Kirsten Johannsen . . . – ist's möglich, daß er in kaum vier Tagen schon die Luft dieses Landes, Frau Kirstens Luft, atmen wird? Ob es auch dort noch solche Begräbnisse gibt? Ob gar sie selbst einmal in dieser Weise . . . – Unvorstellbar.

Wie nah die Friedhofsmauer zu liegen scheint und wie weit es trotzdem dahin ist. Endlos.

Wie müde er plötzlich ist. Übernächtigt. Nun ja, es war auch schon hell draußen, als er sich heute morgen schlafen gelegt hat. Die ganze Nacht hatte er über dem Abschiedsbrief an Yvett zugebracht. Ob es sie wohl ein wenig freuen wird, all das Liebe, was er ihr in diesem Brief sagt –?

296 Romeo betritt den Friedhof. Auch hier die gleichen blühenden Bäume, das Vogelgezwitscher, der Duft und die Stille. Seltsam. All das Unbehagen, die dumpfe Furcht, die vorhin, im Angesicht der Mauer, über ihn gekommen waren, sie weichen nun, innerhalb dieser Mauer, von ihm. Es ist ihm fast wohl zumute. Sonderbar ausgeglichen, beruhigt fühlt er sich. Wäre der Ausdruck »Friedhof« mehr als eine bloße Bezeichnung –?

Romeo geht Wege, die denen im Park genau gleichen. Nur liegen Gräber zu beiden Seiten. Es ist der alte Teil des Friedhofs; die Mutter liegt am anderen Ende, im neuen Teil. Dorthin ist es ziemlich weit. Das Reich der Toten in Rietheim ist ausgedehnt.

Romeo geht sehr langsam. Vielleicht will er das Wiedersehn mit dem Grab der Mutter, den Abschied davon, noch ein wenig hinausschieben. Vor einzelnen Grabsteinen bleibt er stehn, betrachtet die Inschriften. Mit welcher Sorgfalt und Erpichtheit überall die Berufe und Titel der Verstorbenen vermerkt sind. Gilt derlei denn nicht einmal hier für gleichbedeutend? – »BÜRGER, METZGER UND HAUSBESITZER«, liest Romeo. »ZUCKERINSPEKTOR«. »OBERBANKBEAMTENSGATTIN UND HAUSBESITZERIN«. »ORGELBAUER«. »RIETHEIMER BÜRGERSGATTIN«. »OBERWACHTMEISTER i. R.« – Im Ruhestand . . .! Muß das hier erst besonders hervorgehoben werden? – »GESCHÄFTSMANNSGATTIN« . . . »OBERSCHULDIENERSGATTIN« – und klein darunter: »VERDIENSTKREUZ MIT DER KRONE«. Das Verdienstkreuz des Mannes vermutlich.

Ein armselig gekleidetes häßliches Mädchen, ein 297 Wickelkind im Arm, kreuzt Romeos Weg. Romeo blickt sich nach ihr um. Auch das Mädchen blickt sich um. Hastig geht Romeo weiter. Sonderbar, das Wickelkind hier, zwischen den Gräbern.

»FAMILIE PETER«. Ein winziges, von den gewichtigeren Grabsteinen ringsum gleichsam zur Seite gedrängtes gußeisernes Kreuz. Es steht ganz schief und ist mit einem rostigen Draht an einer Kirchenlaterne des Nachbargrabes befestigt. Sonst würde es wohl umsinken und von den bemittelteren Friedhofbewohnern zertreten werden.

Wie gleichartig in allem und jedem dieses Reich der Toten von Rietheim doch dem der Lebenden ist. Diese Rivalität der Grabhügel Grabsteine Grabtitel und Grabblumen, diese Erpichtheit auf Geltung vor dem anderen, dies Mehr- und Andersscheinenwollen auch noch hier, diese Gespreiztheit Verschämtheit Verlogenheit und Verquältheit allüberall. Wie die ärmlicheren Gräber sich gleichsam zwischen die Reihen der reicheren einzuschleichen versuchen. Und mit welch fühllosem morbiden Protzentum die großen Steine auf die kleineren drücken und sie vom Wegrand ins Gestrüpp zurückzudrängen trachten.

»FRANZ ZIMMER, VORSITZENDER DES RIETHEIMER FUSSBALLKLUBS USW.«

Wie gelassen, wie ernst und hoheitsvoll in sich selbst beruhend dagegen die Bäume über dem kleinlichen rohen Gezanke der Grabstätten stehen. Buchen Trauerweiden Ahorn Akazien und der »Lebensbaum« . . .

»BANK DER FAM. MAYRHOFER, FRIEDHOF III., ABT. 7b, NR. 12« – liest Romeo mechanisch 298 von der Rückenlehne einer Bank ab, die mißtrauisch eine Gruft bewacht.

Ovale Bildchen der Verstorbenen auf schmiedeeisernen Kreuzen. Auf einem von ihnen ein Mann im Hochzeitsstaat, verlegen einen Zylinderhut in der Hand haltend. Frauen mit verkniffenen Zügen unter riesenhaften Hüten mit barbarischem Federschmuck. Auf einem Kreuz sieht Romeo zwei solche ovale Bildchen. Brüder. Beide haben das gleiche breite Gesicht mit dem aufgedrehten Schnurrbart, die gleichen kleinen, im Fett verschwindenden Äuglein, den wuchtig ausladenden Brustkasten. »JOSEF LANGMEIER, GEWESENER METZGER UND HAUSBESITZER«, steht unter dem einen, »DIETRICH LANGMEIER, GEWESENER METZGER UND HAUSBESITZER«, unter dem anderen.

Gewesene Metzger . . .! Verweste Metzger . . . Hastig geht Romeo weiter. In welch erdrückender Überzahl der Stand dieser gewesenen Metzger hier überhaupt vertreten ist.

Lilien. Wappengeschmückte Grabmäler. Romeo befindet sich im ältesten Teil des Friedhofs. Neben gut erhaltenen Grüften halbverfallene verwahrloste. Durch die verrosteten Gitterstäbe eines kleinen Fensters blickt Romeo – was zwingt ihn nur? – ins Innere solch einer winzigen Kapelle. Ein spinnwebenverhangenes undurchdringliches Loch. »CLAUDINE FREIIN VON REHOFF, STIFTSDAME«, entziffert Romeo auf einer ausgelöschten verwitterten Marmorplatte. »AMALIA VON DOEGGERN, STIFTSDAME«, liest er von einer anderen ab. Löchergrüfte. Wie unnahbar voneinander geschieden die Totenkategorien 299 auseinander liegen; die gewesenen Stiftsdamen und die gewesenen Metzger und Oberschuldiener mit dem Verdienstkreuz mit der Krone.

Der Weg wird breiter. Uralte vornehme Gräber, mit Wappen und vielfach mit gekreuzten Schwertern verziert. Einige prangen im Schmuck frischer Blumen; die Familien der hier Begrabenen scheinen noch zu existieren.

Napoleonische Jahreszahlen. Hohe Offiziere. Adelige. Alle ihre Orden sind auf den Grabsteinen vermerkt. »ST. ANNA MIT DER KRONE«, liest Romeo. Und unweit davon: »ST. ANNA IN BRILLANTEN«. Ob der mit der Krone wohl den in Brillanten beneidet? – geht es ihm durch den Kopf. Und der Oberschuldiener mit dem armseligen Verdienstkreuz mit der Krone fällt ihm ein.

Ermüdet, mit einem leisen Gefühl von Schwäche im Magen läßt sich Romeo auf eine Bank nieder, die vor einer schlichten geschmackvollen Marmorgruft steht. Eine schwarzgekleidete alte Frau geht vorüber. Romeo blickt ihr nach, bis sie an der Wegbiegung verschwindet. Jetzt fällt sein Blick auf das Wappen über dem Eingang der Gruft. »ARTE AUT MARTE«, liest er. Das bedeutet wohl »Durch Kunst, aber auch durch Krieg« – was mag damit gemeint sein? 1764 bis 1829. Und die endlose Inschrift! Wären das alles Titel –? Trotz seiner Müdigkeit und Unlust zwingt etwas Romeo, sich zu erheben und aus der Nähe den verblichenen Text zu entziffern. Unverständliche Abkürzungen. Jedenfalls aber eine hochgewichtige gewesene Persönlichkeit, dieser »RODERICH EDLER VON WARNHOLZ, KGL. KAEMMERER UND 300 GENERAL-MAJOR DER RUSS. ST. ST. ANNA It. CL * ST. WLAD. IV. CL. * DES K. FRAN. ST. LUD. * U. R. PREU. MIL. VERD. OR. RIT. * DES K. SIG. MIL. MIL. St. GEO. OR. GR. K. K. * DES K. SARD. ST. MAU. U. LAZ. OR. RIT. * U. DER G. H. TOS. ST. JOS. * U. G. H. PAR. CON. ST. GEO. OR. COMMAND.«

Der Kopf beginnt Romeo zu schmerzen. Warum eigentlich liest er das alles und denkt darüber nach? Er würde besser tun, zu eilen. Der toten Mutter Adieu sagen und dann so rasch wie möglich den Friedhof verlassen. Denn was er hier empfängt, ist nicht die Stimmung, die er zur Abreise morgen früh, zu einem auch nur ein wenig zuversichtlichen Start ins neue Leben so notwendig braucht.

Und doch . . . Täuscht er sich nicht? Zeigt ihm dies Rietheimer Totenreich – dem der Lebenden dermaßen verwandt – nicht auch, wie weit er sich im Innern bereits aus dieser Sphäre entfernt hat? Beweist es ihm nicht, daß er – einfach zufolge der Tatsache, die Absurdität der hier steingewordenen Welt einmal erkannt zu haben – daß er nun alles bereits mit ganz anderen Augen, mit den Augen und Sinnen eines Fremden Unbeteiligten, in sich aufnimmt? Fast ist es, als ginge ihn das hier nichts mehr an, als interessiere es ihn nur noch aus sachlichen unpersönlichen Gründen. Nicht anders als irgendwelche Ausgrabungen, fossile Überbleibsel einer verschütteten einstigen Welt. Seiner einstigen Welt . . . Ja, es ist wohl das insgeheim beglückende Gefühl eines bereits errungenen Sieges, was ihn zum Verweilen bei all 301 den Ungeheuerlichkeiten ringsum zwingt. Aber nun hat er wirklich genug, auch davon!

Romeo beschleunigt seine Schritte. Bescheidener, ärmlicher werden die Grabstätten längs seines Wegs. »HAUPTMANN«, »LIEUTENANT«, »LIEUTENANT«, liest er im Vorübergehen auf einzelnen Steinen.

Der Weg wird breiter, gepflegter, das Bild trostloser und peinlicher. Romeo ist im neuen Viertel. Pathetische, in ihrer gewollten Prunkhaftigkeit unendlich armselige Skulpturen, frische Blumen da und dort. Ein Grabmal, fast schon ein Domgewölbe, überragt alle anderen. Mit den machtgedunsenen Armen seiner weit ausholenden Rampenflügel scheint es, asthmatisch keuchend, alles ringsum beiseiteschieben zu wollen. »FAMILIE LOTTER«. Daneben ein Denkmal. Ein überlebensgroßer beleibter Steinbonze mit einem riesigen, über die halbe Brust herabreichenden Bart, eine Schriftrolle in Händen. Selbst die Glieder der wuchtigen Uhrkette an der Wölbung des steinernen Bauches sind genau zu erkennen. »UNSEREM VEREHRTEN BÜRGERMEISTER – DIE DANKBARE STADT«.

Romeo eilt weiter, den Blick auf den Weg vor sich geheftet; er will nun durch keine gleichartigen Beobachtungen mehr zurückgehalten werden.

Der Weg biegt scharf nach rechts. Flüchtig hebt Romeo den Blick. Er hält inne. Was ist das –? Eine kleine Reihe von Steinpiedestalen, im Halbkreis geordnet. Glasbehälter ruhen auf ihnen, die je eine Metallvase oder ein Kästchen der gleichen Beschaffenheit umschließen. Der Bezirk des Fortschritts! – 302 fällt Romeo ein. Urnen sind es, mit dem Staub der in Krematorien Eingeäscherten. Romeo entsinnt sich nun auch dunkel, daß diese neue Bestattungsart vor Jahren einmal einen heftigen Kampf der Meinungen in Rietheim hervorgerufen hat. Hat nicht sogar Lottes Vater, der Doktor Freißler, dabei eine Rolle gespielt? Natürlich, der viel erörterte und geschmähte Zeitungsartikel über die Vorzüge dieser hygienischeren zeitgemäßeren Bestattungsmethode stammte doch von ihm! Und das Gewicht der Persönlichkeit des Regierungsrats Freißler war es dann auch, was im Stadtrat schließlich den Ausschlag dahin gegeben hatte, dem Einzelnen bleibe es fortan freigestellt, auf ausdrücklichen schriftlichen Wunsch auch eingeäschert zu werden.

Verblüfft bleibt Romeo gleich darauf abermals stehen. Hier ist ja ein ganzes kleines Gebäude mit solchen Urnen! Merkwürdig. Wie viele hier sich doch eigentlich zum Fortschritt, zur Modernität bekennen – muß er denken. Wieso merkt man außerhalb des Friedhofs aber so wenig von ihrer Existenz? – Eine vage Vermutung drängt sich Romeo auf. Ob es nicht einfach diejenigen sind, denkt er, die es im Leben zu nichts gebracht haben – die Peripheren Unzufriedenen von Rietheim – und die sich dann nur zum Protest gegen die Anderen Geachteteren in diesen vielgeschmähten Urnen beisetzen ließen? Sonderbar, das Glashäuschen mit den vielen Fensterchen und den Urnen dahinter! Wie Honigwaben – nein, wie ein Verkaufsstand sieht es aus. Ja, wie ein Verkaufsstand in einem Warenhaus, besonders jetzt, mit dem bleichsüchtigen trauernden Fräulein dort 303 zwischen den Regalen und Fächern mit Vasen. Die Verkäuferin . . .

Was aber hatten dann eigentlich jene ersten, gesondert stehenden Urnen dort um das Blumenbeet herum zu bedeuten gehabt? – denkt Romeo im Weitergehn. Wahrscheinlich lagen dort die Erlauchten aus der mißachteten Kategorie der Urnen-Toten bestattet, das Villenviertel der Urnen sozusagen. Das hier dagegen ist eine ganz gewöhnliche Urnenmietskaserne. Romeo schüttelt den Kopf; ein schmales Lächeln flüchtet über seinen Mund.

Das Lächeln gefriert ihm auf den Lippen. Vor seinen Augen liegt ein weites Feld, auf dem nichts ist als ungezählte, völlig gleichartige Eisentäfelchen, kaum über die Rasenflächen hinausragend. Bedrückend legt sich Romeo der Anblick auf die Seele. Soldaten. Die Gefallenen des Weltkriegs . . . Romeo tritt näher an den Rasen heran. Die Tafeln sind völlig von Rost zerfressen. Kein Name, keine Ziffer mehr, ist zu erkennen. Ausgelöschte. Für immer aus dem Geschehen Getilgte . . . Dort, von einem Hinterbliebenen wie zum Protest mit Kreide auf die Rückseite einer Tafel geschrieben: »J. KRUMMEL, 17. REG., GEB. 1900, † 1918 * WESTFRONT.«

Erschüttert gleitet Romeos Blick über das Feld mit den namenlosen rostzerfressenen Tafeln hin. So viele also hat Rietheim verloren. Und wie viele mögen erst draußen geblieben sein. Er hätte das nie gedacht. Und nichts, nichts ist anders geworden . . .

In der Mitte des Rasens entdeckt Romeo jetzt eine Reihe von größeren Tafeln; auf ihnen ist auch die Schrift noch zu erkennen. Richtige Grabhügel sind es, 304 kleine Bäumchen sind dazwischen gepflanzt. Ein eigener Weg führt zu der Ruhestätte dieser Bevorzugten hin.

Romeo geht diesen Weg. Es läßt ihm nicht Ruhe; er muß sehen, wer die wenigen Besserbestatteten auf dem Elendsfeld uniformer Namenlosigkeit sind. »UNTEROFFIZIER«, »FELDWEBEL«, »UNTEROFFIZIER«, liest er. Die Tafeln sind durch eine Glasur gegen das Verrosten geschützt. Das Unteroffiziersgräber-Kasino . . .

Romeo fröstelt es. Ein Ekelgefühl, Trauer und ohnmächtige Verzweiflung ergreifen ihn. Also selbst hier, auf dem Feld der von ein- und demselben furchtbaren Geschick Betroffenen, um Leben und Namen Betrogenen und grausam Verhöhnten, gibt es noch trennende Rangunterschiede! – Romeo streicht mit der Hand über die Stirn. Hastig geht er den schmalen Pfad zwischen den Soldatengräbern zurück, zum Hauptweg. Genug! – denkt er, bleich und finster. Ich bin jetzt im Bilde. Einer treibt ein verwerfliches Spiel mit uns, seinen Geschöpfen. Ich würde ihn hassen, wenn er mich nicht zum Lachen reizte!

Verstört blickt er um sich. Wo liegt eigentlich das Grab der Mutter? Er findet sich plötzlich nicht mehr zurecht, erkennt nichts mehr. Ist er vom Weg abgekommen?

Ein Mann mit einem Spaten nähert sich auf dem Hauptwege: ein Totengräber. Hastig geht Romeo ihm entgegen. Eine Pfeife hängt dem Mann aus dem Mund; ein Schein von häuslichem Wohlbehagen, von geruhsamer Ausgeglichenheit liegt wie der Abglanz der Spätnachmittagssonne über seinem Gesicht. 305 Romeo grüßt, fragt nach dem Grab seiner Mutter. Zweimal muß er den Namen wiederholen. Umständlich nimmt der Mann die Pfeife aus dem Mund, spuckt aus, lächelt versöhnlich, grunzt etwas Unverständliches, deutet mit der Hand auf einen schmalen Querweg.

Romeo dankt und geht. Ja, nun erinnert er sich auch wieder an diesen Weg, an das Begräbnis, an alles.

Vor einem fremden schmiedeeisernen Kreuz bleibt er stehn. »CAMILLA REIF«, liest er. Finster starrt er auf den Hügel mit den verwelkten Blumenresten zwischen dem jungen sprießenden Gras hinab. Er schauert leicht zusammen, er schließt die Lider. Um seinen Mund ist ein harter verkniffener Ausdruck. Mutter, denkt er frierend, ich bete nicht zu Gott, ich bete zu dir. Vielleicht ist Gott in dir verborgen, ich weiß es nicht. Nie hat mich etwas stärker gepackt als dein Tod, Mutter. Die Art deines Sterbens nämlich . . . und jetzt der Gedanke an dein deinem Sterben so ähnliches Leben. Vielleicht hätte ich seitdem an nichts anderes denken dürfen als an dein Leben, an dich. Ich hab fortwährend an anderes gedacht. Ohne dich zu vergessen, glaube ich, Mutter. Du selbst würdest mir doch sagen, ich soll an etwas anderes denken. Nicht wahr, Mutter, ich hab dich nicht verlassen? – – Du hast mir das Leben gegeben. Ich hab nichts damit gemacht. Es war kein Leben. Und jetzt hast du mir ein Sparkassenbuch hinterlassen, gute liebe Mutter, ich ahne, wie schwer es dir fiel . . . Dadurch gibst du mir nun zum zweiten Mal das Leben. Du hilfst mir damit – vielleicht – in ein neues Leben. Ich will es versuchen. Wirklich, ich will es 306 versuchen. So gut ich's nur kann. Ich verspreche es dir . . . und . . . Ich verlaß dich nicht, Mutter, ich geh nur weg von dort, wo dein Grab . . . und das meines bisherigen Lebens ist. Warst du Christin, Mutter? Hast du an Gott geglaubt?

Romeos Stirn sinkt auf die Brust hinab. Ich weiß nichts von dir, Mutter. Nicht einmal das weiß ich. Ich weiß nicht, wie du warst. Ich weiß so vieles – nur von dir weiß ich nichts. Romeos Blick haftet an dem jungen sprießenden Gras. Verzeih es mir, Mutter . . . Womit kann ich dir eine kleine Freude machen? Ich möchte dir so gern eine Freude machen. Wenn du gläubig warst, sollst du einen schönen großen Grabstein bekommen, wenn es dich freut . . . Bald! Ich werde nicht vergessen, Mutter, wirklich! – Liebe Mutter . . . – – – – –


Romeo geht zurück durch den blühenden alten Park, die Wege seiner Kindheit. Bei einer Wegkreuzung bleibt er stehn. Verlassen – ohne Herrn, ohne jubelnde Kinder in dem Wägelchen, das er zieht – steht dort am Rand des Fahrwegs ein kleiner magerer Esel. Sein Haupt mit dem lustigen bunten Federbusch hängt traurig in den Zügeln, er ist alt und vielleicht müde. Niemand kümmert sich um ihn.

Romeo verspürt ein Brennen in den Augen. Dieses Wägelchen mit dem Esel – sicher ist es nicht mehr derselbe Esel – kennt er seit seiner frühesten Kindheit. Immer war es hier, in dem Park. Er selbst ist nie darin gefahren. Aber auf dem winzigen 307 Kutschbock hat er oft weißgekleidete Kinder gesehen. Damals kostete eine Fahrt . . . wieviel nur –?

Wenn er bloß ein Stück Zucker bei sich hätte, für den traurigen alten Esel. Würde das Tier sich darüber freuen –? So gern würde er dem armen Esel eine kleine Freude machen. Etwas unsagbar Rührendes Beklemmendes geht von der Gestalt dieses Tieres aus.

Romeo geht zu dem Esel hin, streicht ihm mit der Hand über die Stirn. Mit einem merkwürdig verschlossenen undurchdringlichen Ausdruck hebt der Esel die Augen zu Romeo, um gleich darauf wieder vor sich hin, zu Boden zu blicken.

Scheu, betroffen läßt Romeo die Hand sinken, die das Tier streichelte. Der kurze Blick aus diesen seltsamen einfarbigen Augen, der ihm galt, hat ihn im Tiefsten erschüttert. Ein dumpfes schmerzliches Mitschuldgefühl durchdringt ihn, legt sich beengend um seine Brust. Wie rätselvoll verschlossen wir in uns selbst sind, denkt er. Und wie wir einander wehtun, wehe tun müssen. Warum nur? – Alles ringsumher leidet. Und wie ängstlich versteckt jeder leidet. Wieso aber bemerke ich das alles erst jetzt? War ich denn vordem fühllos, mitleidlos –? Nein, ich war wohl nur blind . . . – Vielleicht müßten wir wirklich nur ein wenig gut sein zum andern, weniger in uns selbst verkapselt sein und nicht nur uns selbst, auch den andern und das, was ihn betrifft, merken und mitempfinden . . . und betrachten . . . als wäre es eigenes Schicksal. Am Ende würde dann wirklich alles anders sein in der Welt . . .

Romeo spürt in sich eine Regung, mit den Lippen die Stirn des Tieres zu berühren. Er tut es nicht. 308 »Armer lieber Esel«, flüstert er; er spürt Tränen in den Augen. Er wendet sich rasch und geht.

An der Wegkreuzung wendet Romeo den Blick nochmals nach dem Esel zurück. Er sieht einen Mann, den Kutscher, aus dem Gebüsch treten und nach den Zügeln des kleinen Gespanns greifen.

Romeos Hand fährt in die Tasche, zieht einige kleine Münzen ans Licht. Ich werde sie dem Kutscher geben, er soll dem Esel dafür Zucker kaufen, denkt er erleichtert und geht auf den Mann zu. Aber wird er's denn tun? Er wird das Geld wahrscheinlich für sich behalten, fällt ihm ein. Nun, vielleicht tut er's doch, wenn ich's ihm ans Herz lege.

Romeo bleibt stehen. Das Blut in seinen Adern stockt; für einen Augenblick setzt sein Herzschlag aus. Er sieht, wie der Mann mit beispielloser Roheit an den Zügeln reißt, um den Esel zum Gehen anzutreiben. Der Esel rührt sich nicht. Der Mann flucht, reißt mit aller Gewalt an den Zügeln. »Himmeldonnerwetter!« schimpft er und stößt dem Tier das Knie in den Bauch.

Der Anblick berührt Romeo wie glühendes Eisen. »Quälen Sie doch das arme Tier nicht so, Sie Schinder!« schreit er, außer sich.

Der Mann dreht sich nach ihm um. Ein pralles gemeines, dabei gar nicht unschönes Gesicht mit einem schwarzglänzenden Schnurrbart. Ein feindlicher hinterhältiger Blick trifft Romeo, taxiert ihn flüchtig. »Was geht das Sie an? Machen Sie mal rasch, daß Sie weiterkommen!« ruft er Romeo verächtlich zu, kehrt ihm den Rücken und reißt noch heftiger an den Zügeln.

Romeo fühlt das Blut in sich aufsteigen. Seine 309 Hände zittern vor Erregung. Doch kein Wort will über seine Lippen.

»Hü!! Nu aber mal fix, Scheißvieh miserables!« brüllt der Kutscher. Dumpf schlägt seine Faust auf der Stirn des Esels auf; zugleich tritt er mit dem Schuh heftig gegen das Vorderbein des Tiers.

Romeo wird es siedend heiß, eisig kalt. Er stürzt vor. »Sie Rohling, Sie ganz gewöhnlicher Schinder Sie! Ich zeige Sie bei der Polizei an!« schreit er und reißt den Kutscher beim Arm zu sich herum.

Die Augen des Mannes stehn nur zu einem kleinen Spalt offen. Das pralle Schöne-Mann-Gesicht füllt sich mit Blut, plötzlich stehen die Augen wutlodernd offen. Romeo weicht einen Schritt zurück. Das unmenschliche Gesicht flößt ihm Entsetzen ein. »Was haben Sie jesagt?« zischt es aus dem Gesicht, das näher rückt. »Sagen Sie das 'n zweites Mal!«

Romeo fühlt sich von Schwäche übermannt. Er ist totenblaß. Ratlos hält er dem Kutscher die Hand mit den Münzen hin. »Ich wollte Sie . . . gerade bitten, daß Sie Zucker für den Esel . . .«, stammelt er, zurückweichend.

Das Gesicht rückt näher. Diese Augen . . .! Nur den Bruchteil einer Sekunde ruhen sie auf den kargen Münzen, dann sind sie wieder nichts als ein lodernder Spalt. Der Arm des Kutschers holt zum Schlag aus.

»Wiederholn Sie, was Sie jesagt haben!« Wirtshausatem schlägt Romeo ins Gesicht.

Romeo spürt eine Schwäche in den Knien. »Entschuldigen Sie meine Heftigkeit«, stammelt er, »das arme Tier tat mir so leid . . . Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

310 Das Gesicht des Kutschers entspannt sich ein wenig, richtet sich in die Höhe. Höhnisch, gedunsen blickt es auf Romeo hinab. »Geht in Ordnung. Aber nu machen Sie fix, daß Sie weiterkommen«.

Verwirrt blickt Romeo zur Seite. »Wollen Sie . . . für das Geld dem Esel Zucker kaufen?« murmelt er, tonlos, ohne den Mann anzublicken. Tränen würgen ihn. Er hält die Hand mit den Münzen vor sich hin.

»Könn' se haben!« knurrt der Mann. »Geben Sie her.«

Apathisch läßt Romeo die Münzen in die Hand des Kutschers gleiten. »Danke«, murmelt er und entfernt sich ein paar Schritte. Ihm schwindelt, er muß stehen bleiben. Er möchte laut herausschluchzen. »Hü!!« hört er die verhaßte Stimme in seinem Rücken. Und einen dumpfen klatschenden Schlag. Er spürt ihn glühend in seinen Nerven. Feigling! stöhnt es in ihm auf, elender Feigling! Er schließt die Augen. Du sollst nicht so feig sein! hämmert es ihm in den Schläfen. Es ist nicht schade um dich! Der arme kleine Esel . . . Laß dich von dem Knecht ruhig zuschanden schlagen, erbärmlicher Feigling. Niemand wird es leid tun.

»Hü!! Bestie verfluchte!!« Und wieder ein dumpfes Aufklatschen.

Romeo reißt die Augen auf, starr blickt er vor sich hin, ins Leere. Er preßt die Zähne aufeinander. Sein Blick irrt über den Boden hin. Zwei Schritte, er spürt Erde an den Fingern, einen Stein in seiner Faust. Schwerfällig wendet er sich um. Tappend, automatenhaft nähert er sich dem Mann. Er sieht nur den prallen wutgeröteten Nacken. Siedend steigt etwas in 311 ihm hoch, es flimmert ihm vor den Augen. Seine Hand schließt sich fest um den Stein, zuckt in die Höhe. Mit einem kurzen scharfen Knall schlägt der Stein gegen das Holz des Wagens, prallt ab. Blind taumelt Romeo vorwärts. Mit einem Satz ist er im Rücken des Kutschers, reißt ihn zu sich herum. Seine Nägel graben sich in Fleisch, warmes pralles widerwärtiges Fleisch; er sieht, spürt das verhaßte Gesicht vor seinen Augen, unter seinen Nägeln; dumpf spürt er im Hinterkopf einen Schlag, etwas Warmes über seine Wange herabrieseln; es ist ihm wohl, er möchte jauchzen; seine Nägel zerfetzen Fleisch, zerreißen Lippen, Haare bleiben zwischen seinen Fingern; er fällt nach vorn, spürt unter sich einen zuckenden, sich bäumenden Leib; er stößt mit den Knien dagegen, er sieht das blaurote keuchende Gesicht, den Schnurrbart . . . Er schnellt in die Höhe, hockt mit den Knien auf dem Brustkasten des Feindes, holt zum Schlag aus; klatschend trifft seine Rechte die gedunsene Wange; er keucht Unverständliches, holt mit der Linken aus, schlägt von neuem zu, mit der Rechten, der Linken, die Knie in die Brust des Feindes hineinbohrend; wieder schlägt er zu und noch einmal . . . Er fühlt sich zur Seite geschleudert, auf dem Boden liegen. Sogleich ist er wieder auf den Beinen. Er ringt nach Atem, sieht den Kutscher die Allee hinabrennen, sich selbst von johlenden jubelnden Kindern umringt. Er sieht, wie der Gegner sich bückt, einen Stein aufhebt und, sich umwendend, blitzschnell nach ihm wirft. Romeo duckt sich; der Stein pfeift über ihn hinweg. Romeo schnellt vor. Er sieht den Kutscher vor sich herrennen. Blind, atemlos setzt er ihm nach; er 312 bückt sich im Laufen nach einem Stein, spürt einen stechenden Schmerz in der Hand; er stürzt. Blitzschnell richtet er sich auf, jagt weiter. Da sieht er den Kutscher mit einem Satz über den Graben springen und im Gebüsch verschwinden. Keuchend bleibt er stehn. Ein wildes frohes siegtrunkenes Feuer flammt in seinen Augen. Auflachend reißt er das Taschentuch hervor, wischt über die Wange, über die Hand – Blut . . . Lachend streicht er sich das Haar aus der Stirn, klopft den Staub von den Knien; keuchend geht er weiter, begegnet Leuten, die ihn verwundert anstarren, es ist ihm gleichgiltig, er lacht sie an, er möchte laut jubeln, jauchzen, jemand umarmen, ein junges Mädchen, es ist keines da; er läuft ein paar Schritte, Leute kommen, er zwingt sich, langsamer zu gehen, reibt sich die Hände, ein stechender Schmerz läßt ihn innehalten, lächelnd wischt er von neuem das Blut von der Wange, sein Gesicht ist jung und erhitzt und strahlt von Glück. Er sieht sich am Ringplatz, schützend hält er das Taschentuch vor die Wange, keck, glücklich blickt er in die Gesichter fremder Leute, sein Blick fällt in die Auslage eines Herrenmodegeschäftes, bleibt an einem weißlichen Regenmantel mit Gürtel haften, der Mantel des Fremden auf dem Bahnhof! – jubelt es in ihm auf, fast im gleichen Augenblick sieht er sich im Verkaufsraum, er scherzt mit den Verkäuferinnen, die ihn umringen, probiert Mäntel, er hat kein Geld bei sich, das macht nichts, den Mantel noch heute abend in seine Wohnung schicken! – und von neuem sieht er sich auf der Straße. Morgen früh auf dem Bahnhof werde ich ebenso herrlich aussehen wie der Fremde! scherzt er 313 mit sich selbst. Ich bin ein anderer, ein Mensch, ein Mann! jubelt's aus seinem ganzen Wesen. In dieser Dreckseele von einem Kutscher hab ich Rietheim bezwungen, ich werde das Leben bezwingen! Ach, und es gehört doch so wenig dazu! Nur Mut, ein bißchen Mut, und etwas Gutes, Wahres, für das man mutig ist! Ich bin gerettet! Er sieht sich im Flur seines Hauses, aufjauchzend jagt er die Stiegen hinauf.


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