Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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4

So merkwürdig es scheint, Lottes Geist und auch Lottes Sinne hatten sich an Herrn Kolbenstetters Gelächter entzündet. Dieses taumelhafte gequälte gierige atemlose Gelächter, das ihn bei ihrem Anblick diesmal ergriffen hatte, seine körperliche Erschöpftheit nachher, die leichte Trauer in seinem Blick und der 37 matte gütige Klang seiner Worte – alles das wirkte in der Erinnerung eigenartig erregend auf Lotte. Denn in ihrer Vorstellung empfand sie es so, als hätten sie sich in diesem Lachensrausch aneinander erschöpft, als wären sie nachher miteinander traurig und gütig gewesen, und als wären sie schließlich Hand in Hand, auf dicken weichen Teppichen, in die strahlende Helle des Bücherwunderlandes hineingeschritten. Lotte dachte in diesen Tagen viel und beinahe zärtlich an Axel Kolbenstetter, und unaufhörlich hörte sie das Lachen des Außenseiters in sich klingen. Es wirkte so überzeugend und kam aus dermaßen hohen Gefilden des Geistes herab, daß Lottes Glaube an die würdigen ernsten Pflichtmenschen, die sie umgaben, wankend wurde. »Mit ihm verglichen . . . sind sie alle . . . Pinsel«, sagte sie sich. »Axel Kolbenstetter, ja, der steht über dem Leben: er lacht.«

Vor dem Einschlafen strich sie mit den Fingerspitzen liebevoll über die Blätter, auf die sie, seinem Diktat folgend, die Hausarbeit notiert hatte – das einzige, was sie von ihm jetzt besaß. Diese Blätter waren ihr lieb und teuer wie einer Mutter das erste Kind ihrer Liebe. Sie hatte die Arbeit noch am gleichen Abend in das Schulheft eingetragen, das Heft gleich am nächsten Morgen abgegeben und die Blätter seitdem nicht mehr angesehen. Sie strich bloß im Dunkeln mit den Fingerspitzen über die Seiten. Lesen wollte sie die Arbeit mit eigentlichem Genuß erst dann, wenn ihr die Professoren und der Vater und überhaupt alle, alle bereits staunendes Lob gezollt haben würden. Und erst dann würde sie mit dem Heft auch zu Herrn Kolbenstetter gehen . . .

38 Als beim Abendbrot die Eltern plötzlich den Namen Kolbenstetter erwähnten, errötete Lotte heftig; sie fühlte ihr Herz stillestehn. »Dieser Mensch hat sich im letzten Jahrzehnt in Rietheim bei Tageslicht ein einziges Mal gezeigt!« hörte sie wie im Halbschlaf den Vater ausrufen. »Und dieses eine Mal erregte er überdies allgemeines Ärgernis. Es war am Tage des großen Schützen- und Feuerwehrfestes, das die Gauleitung in einem der ersten Nachkriegsjahre hier veranstaltet hatte – du warst mit Lottchen, glaube ich, bereits in die Sommerfrische vorausgefahren. Wer beschreibt das Erstaunen der guten Rietheimer Gesellschaft, die aus der Ferne dem Feste zusah, als mitten im frohen Treiben des Volkes plötzlich Herr Kolbenstetter auftauchte, den man, seit er Mann geworden, doch nirgends mehr erblickt hatte. Man freute sich einigermaßen darüber, ja manch einer dürfte ihm im Stillen sogar abgebeten haben, was über seine nationale Lässigkeit und unsoziale Denkart damals schon Übles im Umlauf war. Freilich tat dieser Kolbenstetter alles, um den günstigen Eindruck alsbald in helle Empörung umzuwandeln. Nun, ich war auch niemals ein Vereinsmeier und etwa ein ungeistiger Mensch, aber als da mit klingendem Spiel und inmitten höchster Begeisterung des Volkes die nach Tausenden zählenden Kolonnen der auswärtigen Schützenvereine – lauter treue gediente Leutchen – am Festesplatz aufmarschierten, da fühlte ich meine Augen doch feucht werden. Und sogar Rudi Winternitz, der – wie soll ich sagen – dem wahren Volkstum doch ferner steht als wir, verlieh seiner Ergriffenheit spontan Ausdruck. Was tat indes dieser 39 bessere Herr Axel Kolbenstetter? Er brach in schallendes andauerndes Gelächter aus – widerlich anzusehen! – und mußte schleunigst vom Platze verschwinden. Nur der Gutmütigkeit unserer Bevölkerung ist es zu danken, daß er nicht gezüchtigt wurde.« – »Geschadet hätte es ihm ja am Ende nicht, diesem größenwahnsinnigen Nichtstuer«, setzte der Vater nach einem kurzen düsteren Schweigen mit Nachdruck hinzu.

»Ja –?« seufzte Frau Freißler auf, tief und gedankenlos.

Lotte erhob sich ein wenig aus ihrer geduckten Haltung. »Kennst du Herrn Kolbenstetter denn eigentlich, Pappi?« fragte sie mit fester Stimme. Der Regierungsrat blickte mit hochgezogenen Brauen kurz vom Teller auf. »Nein!« entgegnete er, sichtlich ungehalten. »Das ist zur Beurteilung dieses Mannes auch weder nötig, noch habe ich das geringste Bedürfnis danach.«

Lottes Halsadern pochten. Heldisch kämpfte sie die aufsteigende Furcht vor dem Vater nieder; sie wußte, daß er, besonders in der Familie, keine Meinung neben der seinen vertrug. Aber sie fühlte es in sich als eine heilige Verpflichtung, für den fernen unverstandenen Freund einzutreten. »Dann hast du aber auch nicht das geringste Recht, Pappi, so verächtlich über Herrn Kolbenstetter zu sprechen«, erklärte sie mit vor Erregung gepreßter Stimme. »Was bedeutet das?!« rief der Regierungsrat jetzt aus und legte zürnend die Gabel nieder. »Sollte sich meine Tochter gegen ernste erfahrene Männer, die ein Leben unentwegter Arbeit dazu verwendet haben, sich selbst und die Nation 40 höher zu bringen, etwa auf die Seite eines untätigen und überheblichen Narren stellen wollen?! Ja dann muß ich mich allerdings fragen, ob mein Leben und Schaffen nicht zwecklos gewesen ist!« Flammend und vernichtend sprühte sein Blick zu Lotte hinüber. Die schöne Mama war bleich geworden. Ängstlich gab sie Lotte verstohlen ein Zeichen, nichts mehr zu erwidern. Und liebevoll legte sie dem erbosten Gatten hastig noch etwas Braten auf den Teller. Der schob den Teller von sich. »Danke!« sagte er schneidend. »Da muß ich mich ja fragen, ob ich überhaupt noch ein Anrecht darauf habe, zu essen, wo mein leibliches Kind, die Inkarnation meiner Hoffnungen« – am Vorabend hatte er im Volksbildungsverein dem Vortrag eines bekannten Anthroposophen beigewohnt – »keinen unerschütterlichen Glauben mehr in mich setzt!« Das kam Lotte nun allerdings maßlos übertrieben vor, erbitterte sie. Aber in diesem Augenblick sah sie die Mutti in leises Schluchzen ausbrechen, und auch Pappis Kinn bebte wie in verhaltenem Weh. Da senkte Lotte im Zwiespalt den Kopf. – – Gerührt und ängstlich blickte Frau Freißler auf den Regierungsrat. Es sah aus, als wollte das Eis in der Seele des düster vor sich hin schweigenden Mannes soeben zu schmelzen beginnen und sich wieder einmal in einer schmerzlich-gütigen Aufzählung alles dessen auflösen, was er bereits geleistet hat, auf daß seine Tochter sich dereinst mit Stolz ihres Vaters erinnern könne. Da vernahm Lotte abermals, diesmal zwingend, den Klang von Herrn Kolbenstetters Gelächter in sich. Voll Angst spürte sie's in die eigene Kehle hinaufsteigen. Um Ernst zu bewahren, blickte sie dem Vater starr 41 ins Gesicht, wodurch ihre Augen einen stumpfblöden Ausdruck annahmen, und um ihren Mund zuckte es unterdrückt. Im Gemüt des Herrn Regierungsrats wollten gerade wieder die weicheren Regungen siegen, sah er doch, wie mutig sein Kind gegen das Weinen ankämpfte. »Mein Kind –«, hub er männlich gerührt an. Da platzte Lotte so unbeherrscht heraus, daß ein feuchter Sprühregen bis ins Antlitz des Vaters spritzte; Lottes Kiefern aber vollführten hilflos kauende Bewegungen, als ob sie das katastrophale Lachen damit totbeißen könnte. Der Vater sprang vor Empörung flammend auf, gab Lotte über den Tisch hinweg eine schallende Ohrfeige. So hatte der Mann sich niemals vergessen. »Dreckgöre, verkommene!« brüllte er und stürzte aus dem Zimmer. Lotte schrie klagend auf, daß ihre Kinnlade ausgerenkt sei, die schuldlose Mutter aber lief jammernd, ziellos wie eine aufgescheuchte Henne, in der Wohnung umher und bemühte sich abwechselnd um den maßlos aufgebrachten Gatten und um die Kinnlade der Tochter. Sie hatte Erfolg aber nur mit der Kinnlade. Denn der Regierungsrat weigerte sich hart, das entratene Kind noch zu sehen, er ließ sich Käse und Obst – nicht einmal von der Gattin, nein, vom Mädchen – auf seinem Zimmer servieren und legte sich zu Bett.

In Lottes Brust aber tobten noch die halbe Nacht zwei feindlich entgegengesetzte Welten im Kampfe.

*

Am gleichen Abend, während die unglückliche Lotte mit den Eltern bei dem verhängnisvollen Abendbrot 42 saß, hatte Yvett von der süßen Liebe die erste beglückende Sensation gekostet. Und das hatte sich folgendermaßen zugetragen.

Wie in den letzten Tagen zumeist, hatte sich Yvett auch an diesem Nachmittag mit Romeo Reif auf den Feldern draußen vor der Stadt getroffen. Sie hatten, ziellos dahinschlendernd, von Gott und der Welt gesprochen, und als die Essenszeit herannahte, hatte Romeo Yvett bis zu ihrem Hause zurückgeleitet. Hier standen sie nun und blickten sich inniglich in die Augen, im Halbdunkel des Hausflurs heimatlich geborgen. Sie sprachen nicht aus, was sie beide bewegte. Nur in Yvetts zärtlich leuchtenden Augen spiegelte sich ein wahres Märchen der Auferstehung. Endlich besaß sie ein Wesen, das ihr, und nur ihr, gehörte. Das fühlte sie in diesen Sekunden mit überirdischer Klarheit.

Im Anfang hatte Romeo sie mit zynischen Äußerungen noch öfters einzuschüchtern versucht. Als sie ihm zum Beispiel anvertraute, daß sie, um ihm auch in der Trennungszeit ganz ganz nahe zu sein, seit ihrem ersten Gespräch mit ihm allabendlich Mozart spiele, da hatte er sich höhnisch dagegen verwahrt, daß sie »ihr Denken an ihn mit diesem albernen abgeschmackten Rokokogebimmel verwässere«. Oder als sie ihm gestand, sie könne sich nicht helfen, sie sei vielleicht altmodisch, aber sie liebe ganz einfach die Veilchen, da hatte er so was wie »Quatsch« oder »Kitsch« gemurmelt. Heute aber kannte Yvett ihn schon besser. Und heute wußte sie auch genau, daß er solche Dinge bloß sagte, weil er sie eben in irgendwelchen neuartigen Büchern gefunden hatte, daß er in 43 Wirklichkeit aber noch gar nicht erlebt hat, sondern ein guter, im Grunde gefühlvoller dunkelblonder Junge ist.

Jetzt standen sie aber, verstummend vor dem Wunder ihrer nicht mehr zu verbergenden Gefühle, im Hausflur und blickten sich nur noch groß und voll Bangigkeit in die Augen. Yvett fühlte ihre Kehle trocken werden.

Vom Turm schlug es dreiviertel. Yvett schrak zusammen: um Gotteswillen. Seit einer halben Stunde mußte oben die Familie grollend beim Abendessen sitzen! Das Leuchten in ihren Augen erlosch. »Adieu, mein . . . Romeo«, hauchte sie.

Romeo ergriff ihre Hand. »Meine Yvett . . .« Ganz ganz langsam streifte er zart den Handschuh von ihrer Hand . . . Ein namenlos süßer Schauer rieselte Yvett dabei den Rücken hinab. Erblassend schloß sie die Augen; Halt suchend taumelte sie zurück gegen die Wand.

Romeo erschrak. »Was ist dir, Yvett?« stammelte er und ließ ihre Hand los.

Yvett öffnete übermäßig die Augen. Das Weiße darin erschien im Halbdunkel rötlich, wie entzündet. »Liebster!« schluchzte sie leise auf und stürzte davon, die Treppe hinauf.

Romeo stand wie gelähmt. In der Faust hielt er immer noch den Handschuh. Er betrachtete ihn, erst mechanisch, dann mit steigendem Entzücken. Ein Wollhandschuh . . . Wunderbar, diese grobe Wolle an der Hand eines so vornehmen Mädchens! Und hier war gar ein Loch . . . Und ein großer dunkler Fleck, wie von Tinte . . . Und hier noch ein Loch. Nein, ein 44 Prachtgeschöpfchen, diese Yvett. Dermaßen verinnerlicht –!

Romeo preßte den Handschuh mit beiden Händen gegen die Lippen. »Mein Engel, mein einziger guter.« Wie verfolgt stürzte er auf die Straße hinaus.

*

Lyceum. Auf dem Korridor hatte es eben geläutet. Eiliger als sonst kehrten die Mädchen ins Klassenzimmer zurück, hastig und erwartungsvoll nahmen sie ihre Plätze ein. Heute mußte der Professor die korrigierten Hausarbeiten über den Triumph der bürgerlichen Moral in Hebbels »Maria Magdalena« zurückbringen. Semesterschluß stand vor der Tür, die Note unter der Arbeit war für das Zeugnis fast jeder Schülerin ausschlaggebend. Nur Yvett war von der allgemeinen Spannung in keiner Weise angegriffen. In den Augen ein heimliches Leuchten – ein Licht, das kaum diesen Schuldingen galt – kehrte sie zerstreut auf ihren Platz zurück. Als letzte trat schlendernd, doch etwas blaß, Lotte ins Klassenzimmer; auch sie schien der Angelegenheit gar keine Bedeutung beizumessen.

Strammer als sonst erhoben sich die Mädchen, als der Professor das Zimmer betrat und eiligen Schrittes das Podium gewann: er trug die Hefte!

»Setzen!«

Teilnahmlos blickte Lotte durchs Fenster den Himmel an: Winterwolken . . . Gern hätte sie mit einem Blick, mit einem ganz kurzen Blick nur, das Antlitz des Professors gestreift. Doch sie bezwang sich. Bald mußte die Reihe ohnehin an sie kommen. Der 45 Professor würde sie aufrufen – »Fräulein Freißler« würde er sie diesmal rufen, so tat er in ganz seltenen Fällen der Auszeichnung mitunter. Dann erst aber wäre es an der Zeit, wie aus tiefer Gedankenverlorenheit aufschreckend, ihm den Blick zuzuwenden – einen Blick, in dem nichts, aber so gar nichts von der besondren Erwartung staunenden Lobes zu lesen wäre. Sie würde vielmehr selbst überrascht sein, daß eine schließlich so selbstverständliche gewöhnliche Leistung so ungebührlich wohlwollend hervorgehoben werde. Allerdings wird sie sich auch in keiner Weise zieren und etwa errötend bescheiden tun. Das wäre das allerdümmste. Nein. Einfach ruhiger sachlicher Ernst, nur ein klein wenig Überraschung im Blick. Und während der Professor ihre Arbeit nachher der Klasse vorliest, wird sie . . . da wird sie . . . nun, eben interessiert zuhören, gleichsam wie bei einem fremden Geistesprodukt. Kritisch zuhören, das Kinn in die Hand gelehnt. – Lotte spürte, daß ihre Handflächen durch die Erregung ein wenig feucht wurden. Sie fuhr mit den Händen leicht über das Kleid. Eigentümlich, wie schlecht gelaunt die Stimme des Professors klang: sicher waren es wieder lauter ganz unselbständige durchschnittliche Leistungen. Das Taschentuch verwendete Lotte absichtlich nicht; es würde am Ende so aussehen, als ob sie vor Erregung feuchte Hände bekommen hätte. – – Winterwolken draußen . . .

»Winternitz!« – –

Yvett kehrte mit ihrem Heft, das der Professor ihr wortlos eingehändigt hatte, in die Bank zurück.

»Zeig mal!« flüsterte Lotte ihr erregt zu. Gleich 46 darauf ärgerte es sie, daß sie irgendwelche Aufmerksamkeit geäußert hatte.

Yvett warf bloß einen kurzen, wenig interessierten Blick auf die Note unter der Arbeit, sie schob Lotte das Heft bereitwilligst zu. Lotte betrachtete es mit betonter Gleichgiltigkeit und scheinbar nur deshalb, weil es eben das Heft der Freundin war. Der Aufsatz, flüchtig geschrieben und voller Flecken, wies die gewohnten Rechtschreibefehler auf – nun ja, Yvett. Er trug die Note »genügend« und den Vermerk: »Gedankenlos und flüchtig gearbeitet. Schwach wie immer.« Lotte reichte Yvett über die Schulter das Heft zurück und nickte ihr flüchtig zu: gütig und aufmunternd. Yvett übersah es; sie schob mit dem Federhalter angelegentlich die Haut an ihren Nägeln zurück. Lotte wandte den Kopf von neuem zum Fenster hinüber. Mit einem ganz kurzen Blick hatte sie dabei nun doch das Gesicht des Professors gestreift: nicht eben freundlich, so schien es ihr, hatten in diesem Augenblick auch seine Augen auf ihr geruht. Aber das hatte sie sich gewiß bloß eingebildet. Lächerlich. Sie war eben ein wenig nervös. Es war vielleicht nur ein sehr ernster Blick gewesen, der ihr gegolten hatte. Nun ja, ein solcher Grad von geistiger Reife bei einer Schülerin der sechsten Klasse – das war nun auch nichts dermaßen Gewöhnliches, daß der Professor es etwa mit einem anerkennenden Zulächeln abtun könnte. – – Winterwolken draußen . . . Herrgott, jetzt mußte die Reihe doch endlich an sie kommen! – Ein elendes Wetter draußen!! – –

»Freißler!«

47 Wie ein Kanonenschuß war der Anruf Lotte in die Nerven hineingefahren. Aber auch den übrigen Mädchen; es war ein Kanonenschuß, dieser Ton, und bedeutete nichts Gutes. Verblüfft hob alles den Kopf.

Lotte stand auf; sie wandte dem Professor – viel hastiger als sie beabsichtigt hatte – die Augen zu, in denen nichts, aber so gar nichts von der besonderen Erwartung eines staunenden Lobes zu lesen war.

»Kommen Sie heraus, Freißler!« Unheilverkündend klang das.

Lotte gab sich alle Mühe, aufrechten Schritts das Katheder zu erreichen. Was bedeutete dieser Ton? Kein Zweifel mehr: nichts Gutes! Aber, um Gott, wieso nur?

Die Augen des Professors sprühten Verderben; eine kleine Weile ließ er wortlos verstreichen. Lotte färbte sich dunkelrot.

»Freißler! Haben Sie diese Arbeit verfaßt?«

Nur für den Bruchteil einer Sekunde senkte Lotte die Lider. Dann erwiderte sie im Ton einer grenzenlosen Befremdung und nicht ohne gerechte Empörung: »Gewiß, Herr Professor!«

Abermals ließ der Professor eine bange Weile verstreichen. Aus einer der letzten Bänke drang unterdrücktes Kichern in die atemlose Stille.

»Wer hat gelacht?« fuhr der Professor in die Höhe.

Kein Ton mehr in der Klasse.

Der Professor nahm wieder Platz, seine Augen gingen langsam und mit furchtbarer Drohung über die Bankreihen hin.

»Freißler!« hub er von neuem an, gedämpfter als zuvor, doch mit unheimlichem Nachdruck. »Glauben 48 Sie mir, ich will Ihnen nur wohl, wenn ich Sie frage, ob Sie diese Arbeit verfaßt haben. Sie vermuten bestimmt etwas Falsches. Sie vermuten, ich will Sie ›hineinlegen‹, dadurch, daß ich Sie zu gestehen veranlasse, daß ein anderer, ein der Schule fernstehendes Element sozusagen, diesen Aufsatz geschrieben hat. Gestehen Sie das ruhig ein, hören Sie! Es ist besser für Sie. Ich sage: es ist besser für Sie, Freißler! Merken Sie wohl, Freißler, es ist das Schlimmste nicht – – hören Sie? – wenn man sich eine Hausarbeit einmal in sechs Jahren von einem anderen machen ließ. Es gibt da weit schlimmere Dinge. Dinge, die einen Konferenzbeschluß nötig machen würden! Wenn sich nämlich zum Beispiel – ich sage: zum Beispiel – in dem Aufsatz einer Schülerin eine gewisse Verworfenheit des Denkens, eine gefährliche Amoral sozusagen, äußern würde – ich sage ausdrücklich: äußern würde!« – Pause. – »Nun, Freißler, antworten Sie. Haben Sie diesen Aufsatz verfaßt?«

Lotte war sprachlos. Was konnte ›die deutschklassische Hochblüte‹ bloß mit dem allen meinen? Trotzig schob sie die Unterlippe vor: »Ich habe den Aufsatz geschrieben, und niemand hat mir dabei geholfen. Ich wüßte nicht, wer!« Nun lächelte sie gar noch herausfordernd.

Der Professor ließ die Faust schwer auf die Tischplatte niederfallen, seine Stimme zitterte leicht: »Freißler, besinnen Sie sich! Zum letzten Mal frage ich Sie: haben Sie diesen Aufsatz geschrieben, oder hat ihn nicht vielmehr ein anderer geschrieben, der nicht der Schule untersteht?«

49 Das klang nun beinahe gütig. Alle in der Klasse verstanden, daß der Professor Lotte irgendwie zu Hilfe kommen wollte. Selbst Yvett war aufmerksam geworden: was hatte die kluge und nie fehlende Lotte da nur angestellt?

In Lottes Kopf wirbelten die Gedanken. Sie spürte nun selbst deutlich, daß sie sich in einer schrecklichen Gefahr befand – was mochte zum Kuckuck nur in dem Aufsatz stehen? Aber zugeben – vor all diesen Mädchen, die sich doch diebisch darüber freuen würden – zugeben, daß sie ihre Hausarbeiten von anderen Leuten abfassen ließ? Nein. Mochte daraus was immer werden! Etwas Dummes enthielt der Aufsatz bestimmt nicht, sicher nur etwas unerhört Kühnes und Gefährliches. Und schon empfand Lotte einen schmerzlich-beglückenden Reiz in dem Gedanken, daß sie für ihre neuartigen und kühnen Ideen nun werde leiden müssen.

»Nun, Freißler, Sie schweigen. Ich nehme dieses Schweigen als ein Geständnis, ich will Sie hier vor der Klasse auch nicht zu weiteren Aussagen zwingen . . .«

Lotte hob stolz und leidend den Kopf. »Sie irren, Herr Professor«, fiel sie ihm sanft in die Rede. »Ich schweige, weil ich nichts anderes sagen kann als ich schon zweimal gesagt habe. Ich hab den Aufsatz geschrieben, und kein anderer hat mir dabei geholfen. Ich mache mir eben meine eigenen Gedanken über alles, Herr Professor. Und dieses Thema da hat mich eben ganz besonders interessiert. Ich kann's nicht ändern. Bin so.« Damit nickte sie dem Professor zu, freundlich höflich, aber doch gemessen, und ging langsam zu ihrem Platz zurück.

50 Der Professor blickte ihr grenzenlos verblüfft nach, eine Sekunde lang stand sogar etwas wie Bewunderung in seinen halb zugekniffenen Augen zu lesen. Gleich darauf riß er die Augen weit auf, eine dunkle Röte schoß ihm ins Gesicht, er schleuderte Lotte das Heft nach. Raschelnd fiel es hinter ihr zu Boden. »Sie kommen sich wohl noch wichtig vor, Sie blöde Gans, Sie!« brüllte er.

Lotte war bleich geworden. Sie saß nun ganz still in der Bank. Eine Mitschülerin hob das Heft vom Boden auf, schob es vor sie hin. Lotte ließ es unberührt vor sich liegen.

Der Professor strich sich mit der Hand mehrmals über die Stirn. »Freißler, richten Sie Ihrem Herrn Vater aus, daß er mich noch heute nachmittag in der Schule besuche. Ich lasse ihn dringend darum bitten.«

Lotte erhob sich. In ihren Augen blinkten Tränen, unter den Augen lagen ganz leichte Schatten. In dieser Minute war sie wahrhaftig hübsch. In einem Ton, so ehrlich betrübt und ruhig, wie ihn nur das Bewußtsein eines grenzenlosen Unrechts hervorzurufen vermag, sagte sie: »Ich bitte um die Erlaubnis, jetzt nach Hause gehn zu dürfen. Ich fühle mich nicht wohl.«

»Bitte. Gehen Sie«, entschied der Professor und starrte auf die Tischplatte nieder. Lotte packte das Heft, die Bücher zusammen und ging. In diesem Augenblick gehörten ihr die Sympathien aller Mädchen, und wohl auch die des Professors.

Yvett meldete sich. »Bitte, darf ich nachsehen, ob der Freißler vielleicht schlecht ist?«

Müde winkte der Professor Gewährung. Yvett eilte auf den Gang hinaus.

51 Auf der Treppe holte sie Lotte ein. Yvett war ehrlich bewegt; sie umschloß mit beiden Händen Lottes Hand. »Lotte, liebe Lotte, mach dir nichts draus, sieh mal!« Lotte wandte den Kopf zur Seite. »Laß nur, Yvett«, murmelte sie, tragisch. Das Mitgefühl der Freundin, in dem auch ein Ton von Bewunderung und Staunen mitschwang, tat ihr in diesem Augenblick wohl.

»Was hast du denn um Gottes willen bloß geschrieben, du Unglückskind«, drang Yvett in sie. »So zeig doch endlich mal das Heft her!«

Selbst plötzlich äußerst gespannt, schlug Lotte das Heft auf: kaum ein Satz war in der ganzen Arbeit, der nicht mit roter Tinte grauenhaft verstümmelt oder dick unterstrichen gewesen wäre. Der ganze Rand war eng beschrieben mit Bemerkungen. »Satzungeheuer!« konnten die Mädchen da lesen, »Gedankengang einer Hysterischen. Keine Spur von Logik oder auch nur von Vertrautheit mit Hebbels Dichtung, die einen echt deutschen Idealismus vertritt!« Der »echt deutsche Idealismus« war dreifach unterstrichen. Auf den letzten Seiten hörten die Randbemerkungen plötzlich auf. Und nur als Schlußvermerk stand darunter: »Kann von dieser Stelle aus überhaupt nur als Stilleistung klassifiziert werden. Als eine solche – mit Rücksicht auf die früheren guten Leistungen – noch kaumgenügend. Wegen des moralisch bedenklichen Inhaltes hingegen im Disziplinarwege zu behandeln.« Und die Unterschrift des Professors.

Yvett starrte Lotte wie ein von den Sternen gefallenes Fabelwesen an.

52 »Gedankengang einer Hysterischen . . .«, ging es Lotte durch den Kopf, und Herr Kolbenstetter fiel ihr ein. Sie lächelte unfrei.

»Na siehst du, Lottchen, du lachst schon wieder. Recht so«, rief Yvett erlöst aus, und sie umarmte Lotte stürmisch. Es tat ihr wohl, es erfüllte sie mit Dankbarkeit, daß einmal sie es war, die einem anderen, und gerade Lotte, Mut zusprechen konnte.

»Na, es ist gut«, sagte Lotte und schob das Heft verächtlich wieder zwischen die Bücher. »Beunruhige dich bloß nicht meinetwegen, Yvett, ich bitte dich recht sehr. Ich hab eben mal einen Aufsatz geschrieben, der zu gescheit ist für diesen kindischen Schulbetrieb!« Damit ließ sie die verdutzte Yvett stehen und schritt grußlos die Treppe hinab – eine verwundete Königin.

*

Die Stunde des Abendbrots, sonst bei Freißlers so pünktlich eingehalten, war längst überschritten, als der Regierungsrat erst vom Besuch des Professors nach Hause kam. Kein Blick galt der Tochter, ein sehr kurzer Gruß nur seiner Frau, als er das Eßzimmer betrat und mit einer knappen düsteren Handbewegung das Zeichen zum Beginn des Essens gab. Diese Mahlzeiten, fürwahr, begannen für die arme Mutti – und sie wollte doch stets nur das beste – geradezu eine Folter zu werden. Wie kam sie eigentlich dazu? Daß etwas Schreckliches heranzog, das hatte sie schon am Nachmittag deutlich gespürt, als Lotte dem Vater mitteilte, der Professor wünsche dringendst ihn zu sprechen. Aber weiter war aus dem 53 verstockten Kind auch nicht das geringste herauszubringen gewesen. Was war denn da nun wieder los? Nie hatte es mit Lotte in der Familie Mißhelligkeiten gegeben. Was für ein gefährlicher Geist war denn plötzlich in sie gefahren? Sollte das nun ewig so weitergehen? Wie kam bloß sie, die Mama, eigentlich dazu? Jeder Versuch, den Gatten in ein harmloses Tischgespräch zu verwickeln und ihn damit ein wenig besser zu stimmen, war indes sinnlos; das las sie von seiner mörderischen Miene ab.

Nachdem die Mahlzeit in lähmendem Schweigen zuende gegangen war, brach der Regierungsrat plötzlich los. Am Beginn seines Lebensabends müsse er sich vom eigenen Fleisch und Blut mit Schande bedecken lassen, jawohl, mit Schande! Einfach haarsträubend, das, was er sich heute von einem simplen Mittelschullehrer habe anhören müssen. Eine derartige Hausarbeit abzuliefern! Da muß man sich ganz einfach an den Kopf greifen! Nicht genug an der elenden Stilleistung – also haarsträubend! Bitte: einzelne Sätze von über Seitenlänge! Alles geschwollen unverständlich und . . . na ganz einfach blödsinnig. Sogar Yvett, die dumme Yvett, habe eine weit bessere Note bekommen. Da wird der Herr Winternitz sich schön erhaben fühlen! Aber nicht genug an der Erbärmlichkeit der sprachlichen Leistung, habe Lotte sich im Inhaltlichen der Arbeit noch außerdem in geradezu provokanter Weise für einen Schurken eingesetzt – er wisse nicht mehr genau, welche Figur des Dramas es sei, na, er ist ja schließlich auch kein Schüler mehr und habe ernstere Dinge im Kopf – jedenfalls handle es sich um einen notorischen Bösewicht und 54 Gauner, und für den habe Lotte unverhehlt Partei ergriffen, gegen alle gesitteten und ordentlichen Menschen in dem Drama. Da könne man wirklich nur sagen: haarsträubend! Was aber noch allem die Krone aufsetze: Lotte, sein Kind – er, ein reifer Mann, erröte dabei, es vor der Mutter seiner Tochter zu wiederholen, und dabei sei er doch alles nur nicht unmodern – also Lotte habe den Sündenfall, die höchst unerlaubten Liebesbeziehungen der Maria Stuart, der Heldin des Dramas, gewissermaßen gebilligt. Jawohl, gebilligt und vielleicht sogar noch verherrlicht! Das sei ja schon nahezu jener zersetzende, das gesunde Volkstum vergiftende Geist, wie er in den Literatenkaschemmen der Großstädte gedeihen mag, aber in seiner Familie nie und nimmer gedeihen wird, das schwöre er bei allem was ihm heilig ist, und müsse er selbst über die Leiche seines eigenen Fleisches und Blutes hinwegschreiten! Übrigens müsse sich Lotte heimlich irgendwo den Urtext des Dramas verschafft haben, da sie auf Dinge anspiele, die, wie der Professor versichert, in der Schulausgabe überhaupt fehlen. Also noch außerdem Hehlerin. Seine Tochter. Und das alles ihm, der ein Leben unentwegter Arbeit darauf verwendet hat, sich selbst und die Nation höherzubringen. Das wisse er aber schon von neulich, wo Lotte wegen eines anrüchigen Volksverräters dem eigenen Vater ins Gesicht gespuckt habe, jawohl, Hohn ins Gesicht gespien habe! Wie? Ruhe! Es müsse ihm allein überlassen bleiben, sich diesen haarsträubenden Vorfall zu deuten. Dazu benötigte er die Meinung einer verbrecherisch nachsichtigen Affenmutter keineswegs. Man möge ihm 55 lieber dankbar dafür sein, daß das Gewicht seiner Persönlichkeit, und nur dieses allein, es beim Lehrkörper zu verhindern gewußt habe, daß Lotte nicht noch heute mit Schimpf und Schande aus der Schule ausgeschlossen wurde. Denn er habe dem Professor zu verstehen gegeben, es sei unverantwortlich – jawohl, unverantwortlich! – sechzehn- und siebzehnjährigen Mädchen ein dermaßen heikles Thema zur Behandlung zu geben. Die Früchte dieser famosen modernen Unterrichtstendenzen müßten die Herren Jugendbildner sich nachher in erster Linie selbst zuschreiben. Jawohl, so habe er mit dem Professor verhandelt, und der sei hübsch stille geworden, der Herr Professor. Imponieren lasse er sich von diesen Herren beileibe noch nicht, nein. Zwar könne er sein Einschreiten kaum mit seinem Gewissen vereinbaren, denn von Rechts wegen hätte er, und handle es sich auch zehnmal um sein eigen Fleisch und Blut – hätte er mit spartanischer Härte diese geborene Dirne . . .!

Ein aus durchstochenem Mutterherzen schrillender Aufschrei »Robert!« ließ ihn innehalten.

»Da muß ich doch wirklich fragen«, setzte er, etwas betreten, noch hinzu, »ob ich nicht besser daran täte, mich gleich ins kühle Grab hineinzulegen, statt mühsam und früchtelos weiter zu schaffen.« Damit drehte er sich auf dem Absatz herum, schmetterte die Tür hinter sich zu und ging in die Ausschußsitzung des Volksbildungs- und Unterhaltungsvereins, wo er durch seine außergewöhnliche Zuvorkommenheit und muntere Gesprächigkeit allgemein auffiel.


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