Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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16

» . . . denn nur eines zählt im Leben wirklich und wahrhaftig: das Streben, sich selbst und die Nation höherzubringen. Das darfst du mir und meiner beträchtlich reicheren Erfahrung glauben, Lotte, mein Kind.«

Ergriffen von seinen Worten, läßt der Regierungsrat eine kleine Pause eintreten. Männlich gefaßt-gerührt ruht sein Blick auf Lottes Gesichtchen, in dem noch die Spuren eben versiegter Tränen zu erkennen sind.

Das Kinn auf die Hand gestützt, sitzt Lotte dem Doktor Freißler gegenüber. Ihr Blick haftet seitwärts an der Wand. Schweigend, mit verhalten zuckenden Lippen beginnt sie einen Brief, der zerknüllt in ihrer Faust verborgen war, nun in winzige 285 Stücke zu zerreißen. Die Stücke läßt sie mit einer unbeherrscht heftigen Bewegung in den Papierkorb gleiten.

»Jedenfalls dank ich dir, Lotte, für dein Vertrauen«, spricht der Regierungsrat weiter. »Du hast durch . . . durch Unordnung und frühes Leid, um mit einem leider etwas femininen Dichter zu sprechen, den Weg zu mir, deinem Freund und Vater zurückgefunden, und das war gut. Denn mit dem, was ich dir jetzt auseinandergesetzt habe, hoffe ich dir geholfen und dich auf den rechten Weg zurückgelenkt zu haben. Du warst mir . . . beide waren wir uns in letzter Zeit leider etwas entfremdet. Künftighin aber wollen wir wieder Seite an Seite dem Leben ins Auge blicken, nicht wahr? Solange ich da bin, Lotte, sollst du stets das Gefühl haben, in mir einen starken Halt zu besitzen und einen erfahrenen Lebenslenker.«

Lotte blickt vom Boden auf. Sie sieht die eherne Rührung in Vaters Gesicht. »Ich danke dir, Vater«, murmelt sie, ein wenig verlegen.

»Ich will auch nicht weiter in dich dringen, mein Kind. Das wenige, was du mir freiwillig gesagt hast, ist mehr, als ich zur Orientierung im allgemeinen nötig habe. Dieser Axel Kolbenstetter, dieser Franz Maria Lotter und schließlich der junge Bursche, den du vorhin erwähnt hast, werden wohl in dir, ohne daß ich noch etwas hinzuzufügen brauchte, ganz von selbst die Überzeugung befestigt haben, daß sie, alle drei, einer im Innersten abzulehnenden Welt angehören, die niemals die deine sein kann und sein darf. Gestrandete – mindestens aber unfehlbar zum Scheitern verurteilte Existenzen. Tote Mollusken am 286 lebendigen Volkskörper. Auch Franz Maria Lotter, trotz seinem späten Ruhm. Ich will mich nicht darüber auslassen, auf welche Weise er zu dem Ruhm gekommen ist. Übrigens, da fällt mir ein . . . Es wird dich interessieren zu erfahren, daß einer unserer Bekannten das Schildchen »Sculpteur«, das nach dem Brandtag doch bekanntlich von der Haustür entfernt wurde, nun auf Franz Maria Lotters Schreibtisch wiedergefunden haben will – als Briefbeschwerer, in Marmor gefaßt. Das wäre denn doch schon die höhere . . . Na! Dies nur nebenher . . . Ja, richtig! Etwas anderes wollte ich dir aber erzählen, um ein Geringes hätte ich's nun vergessen. Gestern abend im Klub sprach ich mit Rudolf Winternitz. Er kam gerade aus der Hauptstadt zurück, wo er Yvett im Sanatorium besucht hat und bat mich, dir Grüße von ihr zu bestellen.«

Erschrocken blickt Lotte vom Boden auf. »Wie geht es Yvett?«

»Ja . . . Na, körperlich immer gleich schlecht. Sie ist aus dem Allerärgsten nun zwar glücklich heraus, aber sie wird jedenfalls ein Krüppel bleiben. Etwas anderes aber! Soweit dies nach einem solchen Unglücksfall eben möglich ist, teilte mir Rudolf Winternitz strahlend mit, daß Yvett bereits eingewilligt habe, den jungen Erich Gellner zu heiraten. In einigen Monaten, sobald Yvett das Sanatorium verläßt. Du erinnerst dich: der junge Mann, der bei dem Venezianischen Abend neben ihr saß. Angeblich ein sehr strebsamer intelligenter geschäftstüchtiger junger Mann. Na, und soferne sich keine Spekulation dahinter verbirgt, zeugt es schließlich auch von Herzensbildung, 287 daß der junge Gellner gerade jetzt, wo Yvett zum Krüppel geworden ist, um sie wirbt. Angeblich sagte er zu Herrn Winternitz, er habe Yvett im stillen schon lange geliebt, jedoch erst die leider veränderte Situation habe ihm nun Mut zu einer Werbung gemacht.«

Lotte ist wie vom Blitz gerührt. »Und Yvett hat tatsächlich eingewilligt?« fragt sie betroffen.

»Ja . . . Nun, was findest du daran erstaunlich? Da kann sie doch sehr zufrieden sein! Ein gesunder strebsamer junger Mann, mit gewissen Karrieremöglichkeiten . . .«

»Aber sie liebt doch einen anderen, Pappi! Die Ärmste . . .! Ich möchte nicht wissen, was dieser Verzicht sie gekostet hat!«

Der Regierungsrat hebt erstaunt, männlich-beherrscht, den Kopf. »So? Einen anderen liebt sie . . . Am Ende ist sie gar nicht, wie es heißt, beim Schließen der Oberfenster aus dem Fenster gestürzt, sondern sie wollte Selbstmord begehen! Dieser Liebe wegen, wie?«

»Ich weiß es nicht, Pappi . . .«

Das Gesicht des Regierungsrats nimmt einen detektivischen Ausdruck an. »Wird schon so gewesen sein! Mir macht man nicht so leicht etwas vor! Aber da siehst du nun am besten, Lotte, wohin solch verstiegene hysterische unzeitgemäße Gefühle führen. Ich will indes noch weiter gehen und sagen: Eben jenes . . . sagen wir: romantische Gefühl, das wohl auch deinen ersten Lebensschmerz, deine erste große Enttäuschung verursacht haben dürfte, Lotte, eben dieses romantische Gefühl war es ohne 288 Zweifel, was die Welt meiner Jugend – ich meine damit allerdings mehr die öffentliche staatliche Welt – am Rande des Abgrunds zertrümmert hat. Ja, so möchte ich beinahe sagen. Darum ist in unserer heutigen Zeit, einer Zeit emsigsten Wiederaufbaues, aber auch nicht mehr Raum, noch Platz für ein weichliches Verlorensein in Regionen eines lebensfremden Fantasmus. Glaube mir, Lotte, der wahrhaft moderne Mensch hat keine himmelblauen Illusionen mehr. Dafür kennt er aber auch die dunklen Verzweiflungen des romantisch-sentimentalischen Vorkriegsmenschen nicht mehr. Der neue Mensch steht hell fest und unbeirrbar mit beiden Füßen im . . . im Dreck des Lebens, wenn du willst – genau auf jenem winzigen Fleckchen Muttererde, wohin ein unerbittliches, doch weises Geschick ihn gestellt hat. Er blickt nicht rechts, nicht links, er blickt aufrecht nach vorne. Er arbeitet, Lotte! Dies die einzige Realität unserer Zeit! Arbeit an sich, Arbeit am Volksganzen, Arbeit an der Arbeit selbst! Und nicht die Arbeit zwingt uns, wir zwingen die Arbeit! Das ist es, was wir unseren Vorfahren voraus haben. ›Freiheit sei der Zweck des Zwangs‹ – sagt schon unser Rückert. ›Freiheit sei der Zweck des Zwangs. Wie man eine Rebe bindet, daß sie, statt im Staub zu kriechen, frei sich in die Lüfte windet.‹ Ein wahrhaft großdeutscher, erstaunlich moderner Geist, der alte Rückert. Einer, der in diesen Worten eigentlich den Geist unserer Epoche vorausgeahnt hat. Übrigens . . . da kann ich dir gleich noch einen Beitrag zur Charakteristik deines famosen Freundes Kolbenstetter liefern, zu dem du einen verirrten Moment lang aufgeblickt hast. Also gestern abend, in der 289 Ausschußsitzung, erzählt mir ganz zufällig der pensionierte ehemalige Gymnasialdirektor, du kennst ihn doch – erzählt er mir, der junge Kolbenstetter habe zwei Jahre vor dem Abitur – einfach haarsträubend, doch höchst symptomatisch! – den unwahrscheinlichen Zynismus besessen, eben diesen Rückert – ich glaube, gelegentlich einer deutschen Redeübung war es – als einen ›Schweinfurter Brahmanen‹ zu bezeichnen . . .«

Der Regierungsrat stutzt. Dann lächelt er etwas gezwungen. »Na siehst du, Lottchen, nun lächelst du bereits wieder. Alles schon in Ordnung, wie?«

Lotte wischt mit dem Taschentuch über die Augen, über Stirn und Nase. Sie seufzt leise auf. »Ach nein, Pappi, ich lächelte nur, weil . . . Weißt du, das mit dem Schweinfurter Brahmanen ist nicht so schlimm gemeint, wie es sich vielleicht anhört. Rückert stammt nämlich aus Schweinfurt und hat ein Werk ›Die Weisheit des Brahmanen‹ geschrieben.«

Ein Schatten von Unmut flüchtet über die Stirn des Regierungsrates. »Das weiß ich, mein Kind! Oder glaubst du, daß ich es nicht weiß? Ich bin schließlich auch einmal ins Gymnasium gegangen. Doch ich rate dir, dich von solch billigen Intellektmätzchen, wie diese pseudo-witzige Äußerung es ist, niemals blenden zu lassen. Gerade jener negativistische, das Erhabene frech belächelnde Literatengeist, der sich in dieser Äußerung kundgibt, ist der eigentliche Bazillus in unserer neuen tatsachenbetonten, nicht mehr ich-betonten Zeit! Du kannst mir glauben, daß . . .«

»Verzeih, daß ich dich unterbreche, Pappi. Du 290 sagst: tatsachenbetont, nicht wahr? Aber ist denn mein Ich nicht ebenso sehr Tatsache wie . . . der Tisch oder der Stuhl da, oder das Reichsversicherungsgebäude vis-à-vis?« Ernst, forschend ruhen Lottes Augen auf dem Gesicht des Vaters.

Der Regierungsrat stutzt einen Augenblick. Dann macht er eine wegwerfende Handbewegung, blickt auf die Uhr. »Das sind psychologische Spitzfindigkeiten! Glaub mir, mein Kind, und meiner immerhin beträchtlichen Lebenserfahrung: es hat nicht den geringsten Sinn, sich derlei Gedanken und Erwägungen überhaupt hinzugeben. Sie führen zu keinem Resultat und schwächen bloß unsere Tatkraft, deren unser Volk, unsere Zeit dringendst bedürfen.« Der Regierungsrat seufzt leise, gefaßt auf. »Oder glaubst du etwa, mein Kind, mir selbst würde es an Witz und sogar an gewissen romantischen Sehnsüchten mangeln? Nein. Ich habe beides nur in mir besiegt, unterdrückt. Denn beides ist in einem höheren Sinne schädlich und übrigens . . . überlebt.«

In einem Gemisch von Bewunderung Neugier und ahnungsvollem Mitgefühl hebt Lotte den Kopf. Sie blickt dem Vater aufmerksam ins Gesicht.

»Stell dir doch einmal vor, Lottchen, alle Menschen würden geistvolle Brahmanenwitze reißen, Bibliotheken züchten, oder sich, wie du es getan hast, in romantischen Empfindungswolken verlieren. Wer sollte dann eigentlich die zwar nüchternen, aber doch weit notwendigeren öffentlichen Leistungen vollbringen? Wie würde die Welt ohne sie aussehen? Na, hab ich recht oder nicht, Lotte?« Abermals blickt der Regierungsrat auf die Uhr.

291 Lotte seufzt leise, verhalten auf. »Ich glaube, du hast recht, Pappi«, murmelt sie. »Ich hatte Unrecht, daß ich mich jemals von dir und deiner Art zu entfernen versuchte. Ich war verirrt. Daß ich mich von dir entfernt habe, Pappi – weil es mich zu Menschen hinzog, die anders waren als du – wundert mich nun eigentlich selbst. Um so mehr deshalb wundert es mich, weil ich vor vielen Monaten einmal in unserm Lesebuch ein Gedicht gefunden habe, das, wie ich mich genau erinnere, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. Ein Gedicht Ullrichs von Hutten war es. Es schien mir damals, als würden die letzten Worte dieses Gedichts immer der Leitspruch meines Lebens bleiben. Ich hab sie genau im Gedächtnis behalten; sie lauten: ›Ich träume nicht von vergangner Zeiten Glück, ich breche durch – und schaue nicht zurück.‹«

Der Regierungsrat springt vom Sessel auf. Ein verstohlener Blick gilt der Uhr. »Jawohl, mein Kind!« ruft er begeistert aus. »Laß diese Worte dir auch weiterhin als Leitspruch, als Wegweiser dienen! Dann bist du auf dem rechten Weg und kannst nie mehr fehl gehen.« Er ergreift und umschließt mit männlichem Druck Lottes Hand. Lotte erwidert den Druck mit einem freien offenen Blick.

»Und was nun deine Zukunft anlangt«, setzt der Regierungsrat hastig fort, »ich muß jetzt nämlich in eine Bezirksvertrauensmännerversammlung – so laß nur mich für alles sorgen! Ich verspreche dir – mein Einfluß gestattet mir, dir das zu garantieren – ich verspreche dir, daß du am Tag nach Vollendung deiner Studien bereits ein Anstellungsdekret 292 als Hilfslehrerin für Freihandzeichnen und Geometrie am hiesigen Staatsgymnasium in Händen hältst. Recht so?«

In Lottes Wangen ist wieder gesunde Farbe; froh und dankerfüllt blitzt es aus ihren Augen dem Vater entgegen. »Weißt du, Robert – ich darf doch so sagen? – du bist . . . du bist doch der einzige Mensch, zu dem ich wahrhaft aufblicke«, stammelt sie hold-verwirrt. »Du bist . . . ein Mann!«

Der Regierungsrat blickt sie verdutzt an. Dann zieht er sie in seine Arme. Mit einem aufmunternden Schlag auf die Schulter schiebt er sie sanft von sich. »Na, na«, lacht er geschmeichelt, »nur keine Sentiments, Lottchen. Ich tue einfach meine Pflicht. Im öffentlichen Leben draußen, wie daheim in der Familie. Männer meines Schlags aber gibt es zum Glück noch genug in Deutschland, wenn auch die Radikalisten von rechts und links unser Verdienst um das öffentliche Wohl häufig in Abrede zu stellen wagen. Was wollte ich aber sagen? Ja! Bald wird zum Beispiel irgend so ein tüchtiger junger Gymnasiallehrer kommen und die hübsche junge Kollegin ihrem alten gebrechlichen Papa Robert vor der Nase wegschnappen. Nein, rot werden gilt nicht! Aber nun muß ich wirklich . . . Also, wie gesagt, Kopf hoch, mein Kind!« Abermals schüttelt er ihr mit männlichem Frohsinn die Hand, dann eilt er zur Tür.

Er wendet sich lebhaft um. »Sag mir rasch noch einmal den Spruch unseres herrlichen Hütten, Lotte! Er soll künftig auch mein Leibspruch und der aller mir ergebenen gleichgesinnten Männer hier sein.«

Lotte errötet, freudig und stolz. »Ich träume 293 nicht von vergangner Zeiten Glück«, wiederholt sie, ein wenig verlegen, doch mit schalkhaft blitzenden Augen, »ich breche durch und schaue nicht zurück.«

»Ausgezeichnet! Das ist ein Wort!« ruft der Regierungsrat aus. »Da fällt mir eben ein . . . Weniger dichterisch, doch dafür um so drastischer derber kerniger hat diesem Gedanken auch ein Volksdichter unserer engeren Heimat – der leider allzu früh verstorbene Otto Zeltner – Ausdruck verliehen in dem Refrain eines Fahnenweihliedes . . . wie heißt es denn gleich? Ja! ›Potz Rotz und Kotz, vorwärts geh der Weg!‹« Lachend mit der Hand zurückwinkend, stürzt der Regierungsrat aus dem Zimmer.


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