Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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7

»Was ist, Yvett, wie siehst du denn wieder aus! Halt dich gerade!« nörgelte Herr Winternitz, der mehr denn je wie ein Graf aussah und für die ganze Familie Brot abschnitt, patriarchalisch wie immer am oberen Tischende thronend. »Was stiert sie eigentlich wieder und hört nicht zu, was man spricht?« wandte er sich, als Yvett nicht antwortete, geärgert an seine Frau.

Frau Winternitz seufzte. Kopfschüttelnd warf sie Yvett einen mahnenden Blick zu. Herr Winternitz hielt die Stirn in tadelnde Falten gelegt. »Wo es so wichtige Dinge zu besprechen gibt! Dazu hat man nun eine fast erwachsene Tochter im Hause«, grollte er. Und dann seufzte er selbst so tief, als wäre er von Gott und den Menschen verraten und verlassen.

Yvett richtete sich im Sessel ein wenig auf. »Aber ich höre doch, was ihr sprecht«, log sie und seufzte.

80 »Was gibt es da zu seufzen!« herrschte der Vater sie an. »Diese Dinge langweilen das gnädige Fräulein wohl gar?«

»Aber nein, warum sollen sie mich denn langweilen«, erwiderte Yvett gelangweilt, indem sie ein neues Aufseufzen, das ihr bereits in der Kehle steckte, im letzten Augenblick unterdrückte.

Herr Winternitz schien in seinem Gedächtnis angestrengt nach irgendeinem Ausdruck zu fahnden. Plötzlich glomm es in seinen schwarzen Augen freudig auf. »Dich hätten sie sollen in einem Sack auf die Seufzerbrücke stecken!« verkündete er, fast jubelnd, und begann auch sogleich schallend über die Äußerung zu lachen. Um ihn nicht zu verstimmen, zauberte Frau Winternitz ein kurzes beifälliges Lächeln auf ihre Lippen, um gleich darauf wieder düster und hart vor sich hin zu starren. Auch Yvett lächelte pflichtschuldigst, als der Vater sie beim Lachen werbend anblickte, und auch das Mädchen, das die Schüsseln herumreichte, lächelte bescheiden, als Herr Winternitz auch sie beim Lachen werbend anblickte. Trotzdem schien Herr Winternitz von dem Echo seiner witzigen Äußerung nicht restlos befriedigt zu sein. »Ich hab dir doch von der Seufzerbrücke in Venedig erzählt, wie?« wandte er sich leicht gekränkt an seine Tochter. »Ja natürlich«, beeilte sich Yvett zu erwidern, wobei sie sich abermals zu einem kurzen zerstreuten Lächeln zwang. »Na also!« tadelte Herr Winternitz. »Trotzdem scheinst du den Witz nicht verstanden zu haben, wie? Die Seufzerbrücke ist eine Brücke in Venedig, auf der die Doschen jeden, der . . . –« Er unterbrach sich. »Die Schüssel 81 immer von links herreichen!« fuhr er mit bösem Blick das zusammenschreckende Mädchen an. Denn Yvett hatte mit den Kinnladen soeben ein Gähnen zerbissen.

Schweigendes Kauen.

Yvett fühlte, daß sie den Vater durch ihr Gähnen beleidigt hatte. Sie mußte das Gespräch nun irgendwie wieder auf Venedig bringen, um zu zeigen, daß es sie interessierte und daß sie eben nur so gegähnt hatte. Aber es fiel ihr nichts ein. Endlich fiel ihr etwas ein. »Unser Professor sagt: Dogen«, bemerkte sie.

Der Vater fuhr mit der Hand an die Ohrmuschel. »Wie?«

»Unser Professor spricht es aus: Do-gen. Ge. Weiches Ge. Gh!«

Der Vater sah die Mutter an: »Verstehst du, was sie will?«

Frau Winternitz zuckte mit den Schultern. »Sie meint, daß es in der Schule Do-gen ausgesprochen wird. Do-gen! Mit weichem Ge!«

»Ja, aber was denn?« rief der Vater, sehr erregt. »Was meint sie denn damit? Was soll denn das heißen: Do-gen?«

Frau Winternitz' Lider zuckten nervös. »Sie meint, daß es nicht Doschen heißt, sondern Dogen.«

»Ach so! Von den Doschen spricht sie noch immer!« rief Herr Winternitz befreit aus; er war jetzt im Bilde und sogleich wieder besänftigt. »Nun, du weißt doch hoffentlich, wer die Doschen – oder Dogen, je nachdem wie man's ausspricht – waren?« wandte er sich belehrungsfreudig an Yvett. »Die Doschen waren . . . – –«

82 Yvett vernahm längst nichts mehr; trotzdem sie dem Vater noch immer lauschend ins Gesicht blickte. Es war einfach schon, um junge Katzen zu bekommen! Seit die Eltern von ihrer Mittelmeerreise zurück waren, war von nichts anderm mehr die Rede als von Italien. Und in den letzten Tagen nur noch von der Venezianischen Nacht, die die Eltern übermorgen im Hause veranstalten wollten. Alle Klubfreunde des Vaters mit ihren Frauen waren dazu geladen. Und noch viele andere Leute. Was das für Aufregungen mit sich brachte!

» . . . und jeder, der einen Konkurrenten umbringen wollte, brauchte bloß in das Maul des steinernen Löwen ein Denunziationsschreiben hineinzuwerfen. Das genügte!« hörte sie den Vater ihr erklären.

»Aha«, machte sie, sehr interessiert.

»Ja, und da gab es auch noch . . .«

»Erklär ihr das ein andermal, Rudi!« unterbrach ihn die Mutter, entnervt. »Du sagtest doch selbst, daß wir noch so viele wichtige Dinge zu besprechen haben, wegen übermorgen.«

»Ja gewiß, ja«, ereiferte sich Herr Winternitz. »Ich möchte wirklich nur wissen, wie das mit dem Lautenspieler zum Beispiel werden soll! Muß ich denn für alles allein sorgen?«

»Ja, mein Lieber, ich weiß nicht, wo man hier einen solchen Lautenspieler herbekommen soll«, gab die Mutter nervös zurück. »Noch dazu einen, der italienisch singen kann.«

»Was heißt das: ich weiß nicht«, wies Herr Winternitz sie zurecht. »Ich weiß auch nicht. Und niemand weiß. Aber haben müssen wir einen solchen 83 Lautenspieler. Sonst ist es keine Venezianische Nacht, sondern ein Blödsinn und für uns eine Blamasch.«

Frau Winternitz zuckte mit den Schultern. »Na ja, aber tu etwas dagegen.« Sie legte ihrem Mann von der Mehlspeise auf den Teller.

»Und muß denn so ein Lautenspieler unbedingt sein?« fragte Yvett, denn sie wollte nicht den Eindruck hervorrufen, als nähme sie so gar keinen Anteil an den Sorgen der Eltern.

»Ist das ein dummes Ding!« entrüstete sich der Vater. »Der Lautenspieler ist doch das allerwichtigste dabei!«

»Wieso, Vater?«

»Wieso! Wieso! Das fragt sie noch!« schrie der Vater und schlug sich mit der flachen Hand mehrmals gegen die Stirn. »Weil du ganz einfach nicht aufpaßt, während man diese wichtigen Dinge erörtert! Du weißt doch, daß gleich nach dem Diner die ganze Gesellschaft auf die Veranda zu strömen hat, wo inzwischen bereits die Lampions in Brand gesteckt worden sind. Dort lehnen sich die Damen und älteren Herren jetzt behaglich in die Korbsessel zurück, während wir jüngeren Herren auf dem Boden Platz nehmen, der mit einer großen Strohmatte und vielen Polstern bedeckt ist. Haben Bondys übrigens schon die Polster herübergeschickt, die sie uns leihen wollten? So, na also. So, und jetzt wird also der Mokka serviert, und jetzt . . . Also jetzt frag ich dich: Was, meinst du wohl, soll nun geschehen, wie? Jetzt muß eben von unten, von der Garasche, gedämpftes Lautenspiel und italienischer Gesang heraufklingen. Sonst ist es keine Venezianische Nacht, 84 sondern ein Blödsinn und für uns eine Blamasch. Trotz der großen Kosten.« Herr Winternitz seufzte bekümmert auf, er blickte düster vor sich hin.

Frau Winternitz fuhr mit einer Bewegung des Erschreckens plötzlich zu ihrem Mann herum. »Ja, aber . . . Wir haben mit einem nicht gerechnet. Es ist doch Winter und in der Nacht sehr kalt!«

»Was heißt das: es ist Winter«, entrüstete sich Herr Winternitz. »Wir haben doch die Zentralheizung auf der Veranda.«

»Ja, aber während unten im Hof gesungen wird, muß auf der Veranda doch ein Fenster geöffnet werden, sonst hört man nichts«, fiel Yvett eifrig ein.

»Aber wieso denn?« tadelte Herr Winternitz. »Ich sagte doch ausdrücklich: gedämpftes Saitenspiel. Oder wollt ihr vielleicht behaupten, daß man's hier oben nicht hört, wenn im Hof unten die Leierkastenmänner mit den Leierkästen musizieren und singen?«

»Ja, da hat Vater schon recht«, beschied sich Yvett; sie zauberte damit einen Schimmer von Befriedigung auf das Antlitz des Vaters.

»Aber so meinte ich es doch gar nicht«, bemerkte Frau Winternitz mit noch immer erschreckten Augen. »Ich meinte, daß der Lautenspieler bei der Kälte unten auf dem Hof ganz erstarrte Finger bekommen und nicht spielen können wird.«

»Ja, da hat Mutter auch recht«, rief Yvett aus, die sich mit einem Mal brennend für eine Lösung des Problems zu interessieren schien.

Herr Winternitz blickte ratlos von einer zur anderen.

»Das heißt, wartet mal!« besann sich Frau 85 Winternitz. »Der Lautenmann kann ja schließlich im Hausflur warten, wo es warm ist, und erst in dem Augenblick, wo er zu spielen und zu singen hat, tritt er dann rasch auf den Hof hinaus. Da hat er ja schließlich noch keine erstarrten Finger, natürlich.«

»Na eben. Natürlich. Er wartet doch im Hausflur«, bekräftigte der Vater, maßlos erleichtert.

»Also. Dann ist ja auch diese Schwierigkeit glücklich beseitigt«, sagte Yvett, nahezu beglückt von dieser überraschend friedlichen Lösung. Denn sie fühlte, wie nah es dem Vater gegangen wäre, hätte sein Lieblingswunsch unerfüllt bleiben müssen.

Herr Winternitz warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Könnte man nicht auch einige junge Leute zuziehn als Gesellschaft für Yvett?« wandte er sich an seine Frau. Es war ihm darum zu tun, Yvett für ihr freundliches Interesse sogleich irgendwie zu belohnen.

»Ach Gott, Vater, du weißt doch, wie wenig mir daran liegt«, murmelte Yvett. Aber sie war brennend rot geworden. Denn sie hatte sogleich an Romeo gedacht.

Die Mutter hatte ihr Erröten bemerkt; eine Sekunde lang ruhte ihr Blick voll argwöhnischer Sorge auf der Tochter. »Lotte kommt doch mit ihren Eltern«, entgegnete sie unfrei.

»Ach was, Lotte«, tadelte der Vater. Er war plötzlich in strahlender Laune und hatte den Gesichtsausdruck eines Operettenbonvivants. »Ich meinte doch: einige junge Leute! Tänzer für Yvett. Denn es soll doch später auch getanzt werden. Und in meinem Hause soll sich meine Tochter ebenso gut 86 amüsieren wie der letzte meiner Gäste.« Er meinte: der erste von seinen Gästen.

Yvett lächelte, ein wenig geniert. »Es ist sehr lieb, sehr aufmerksam von dir, Vater . . . Aber, wirklich, ich brauche das doch nicht.«

.,Unsinn!« verkündete der Vater, sehr aufgeräumt. »Ein junges Mädchen muß tanzen und singen und springen und sich unterhalten!«

Frau Winternitz' Augenlider zuckten nervös. Mit schlecht verhehlter Erbitterung richtete sie sich im Sessel empor: »Entschuldige, Rudi –! Du scheinst – aber total – zu vergessen, daß Yvett jetzt ganz andere Dinge im Kopf zu haben hat . . .«

Der Vater riß vor Erstaunen die Augen weit auf. »Wieso? Was . . . ich verstehe nicht.«

»Na ja, wie immer«, rief die Mutter, mit hochrotem Kopf. »Du spielst den feschen Kerl – sogar deiner Tochter gegenüber – aber wenn sie bei Schulschluß dann durchgefallen sein wird, dann tobt der Herr Winternitz wieder – natürlich! – und ich bin für alles verantwortlich. Mir überläßt du es, jetzt wie immer, der Popanz zu sein, die Spielverderberin . . .«

»Na höre mal, Doris!«

»Aber Mutter – –«

»Schweigt! Ich danke für diese Rolle, ich habe es satt! Du weißt ebenso gut wie ich, wie es mit Yvett steht. Vor zwei Tagen haben wir erst davon gesprochen. Aber, natürlich, der fesche Herr Winternitz ist fesch wie immer, seine Tochter muß sich in seinem Hause amüsieren. Kolossal. Das ist jetzt die Hauptsache. Die Venezianische Nacht. Aber 87 vorgestern, als Yvetts Zensur ins Haus kam, da hast du gebrüllt wie ein Büffel und mir die Schuld gegeben, was? Da könnte man doch wirklich –!« Frau Winternitz hielt inne. Nur die Schlagader an ihrem Hals hämmerte beängstigend.

Herrn Winternitz' Miene hatte sich jäh verdüstert. »Ja es ist selbstverständlich, daß deine Schulpflichten nicht im mindesten darunter leiden dürfen«, fuhr er die betretene Yvett jetzt böse an. »Sonst könntest du mal was von mir erleben, du dumme gleichgiltige Gans. Spiel dich nicht auf, das sag ich dir.«

»Ja gewiß, natürlich!« höhnte Frau Winternitz voll tiefem Groll. »So macht man's. Genau so. Deine Erziehung!« Sie verstummte gereizt: das Mädchen war, unsicher und mit hektischen Flecken auf den Backen, wie immer, wenn bei den Herrschaften drin ein Streit im Gang war, ins Zimmer getreten. Sie trug ein Tablett mit zwei Mokkatassen. Yvett war vom Genuß dieses Giftes im allgemeinen ausgeschlossen.

»Also lassen wir das jetzt«, suchte Herr Winternitz nach kurzem Schweigen einzulenken. »Also – dann wäre die Sache mit dem Lautenspieler ja also so ziemlich geregelt, wie? Gibt es sonst noch was wegen übermorgen zu besprechen?«

»Aber ich bitte dich, wir haben doch noch gar keinen Lautenspieler!« verkündete Frau Winternitz, mühsam beherrscht.

»Was heißt das?« fuhr Herr Winternitz verblüfft empor. »Wir haben doch gerade festgelegt . . .«

»Ja, daß er im warmen Vorhaus warten kann, anstatt draußen in der Kälte. Aber damit ist doch noch 88 nicht gesagt, daß wir einen Lautenmann überhaupt finden werden!«

Die Spannung in den Zügen des Vaters schwand plötzlich dahin und machte einem Ausdruck von Schlaffheit und Traurigkeit Platz. »Ach richtig, wir haben ja noch gar keinen Lautenmann«, murmelte er.

Frau Winternitz kämpfte mit sich. Aller Groll war plötzlich vergessen. Diesen Gesichtsausdruck, diesen Ausdruck eines schmerzlich enttäuschten verratenen Kindes und diesen unglücklichen Ton von Verlassenheit in der Stimme, das konnte sie nicht ertragen. Das war es, was sie unter allem am meisten fürchtete; das hatte sie diesem Mann gegenüber seit jeher schwach gemacht und versöhnlich. Ein Lautenspieler! Es mußte ein Lautenspieler gefunden werden! Sonst war er wieder tagelang unglücklich und hatte im Blick und in den Gebärden und in der Stimme wieder diese unbegründete, unbegreiflich ansteckende Schwermut, die sie so oft schon den Tränen nahegebracht hatte. Er war, dieser Mann, mit seinen silbernen Haaren heute an den Schläfen, niemals etwas anderes gewesen als ein Kind, ein dummes Kind, voll von Einbildungen, dem man vieles nachsehen, dessen Launen und Fantasien man erfüllen mußte, so weit es eben ging, und dem man im Grunde gut sein mußte. Liebte sie ihn gerade dieser Kindhaftigkeit wegen noch immer? Was hatte der Mann ihr nicht alles schon angetan! So viel – und so unentwegt, die ganzen Jahre, daß ihr niemals genügend Atem übrig blieb für das Kind, für Yvett. Ach, aber jetzt mußte vor allem einmal dieser Lautenmann gefunden werden. Himmel, wo könnte man 89 einen solchen Lautenspieler doch gleich auftreiben. Einen, der italienisch singen kann . . .

Yvett saß geduckt. Mehrmals schon hatte sie Anlauf genommen, etwas zu sagen. Doch in dem brütenden Schweigen, das eingetreten war und das, wie sie deutlich empfand, hellhörig war auch für die geheimsten Untertöne ihrer Stimme, würde es ihr nicht unbefangen genug von den Lippen gehen. – Das brütende Schweigen herrschte ungebrochen weiter.

Yvett hielt den Blick auf die Tischplatte geheftet, sie zwang sich zur äußersten Gelassenheit. »Wartet mal!« rief sie plötzlich aus, so lebhaft, als wäre der Gedanke ihr in diesem Augenblick urplötzlich gekommen. »Wartet mal. Mir scheint, ich kenne einen, der . . . der von so einem Lautenspieler vielleicht wüßte. Ja. Möglich.« Unbefangen lächelnd blickte sie zuerst den Vater, dann die Mutter an; doch es schien ihr, als errötete sie dabei abermals.

Aber darauf schien jetzt keiner zu achten. Der Vater hob mit leidendem, doch unverkennbar interessiertem Ausdruck sogleich den Kopf, und die Mutter herrschte sie gereizt an: »Warum sagst du denn das nicht gleich?«

»Weil's mir jetzt eben erst einfiel«, erklärte Yvett, ein wenig beleidigt. Im Innern war sie höchst befriedigt. Sie hatte ihre Sache gut gemacht. Jetzt nur nichts übereilen, predigte sie sich, nur weiter hübsch vorsichtig und geschickt zu Werke gehen!

»Na?« fragte die Mutter erwartungsvoll.

»Also wer?« fragte auch der Vater, atemlos. »Wer wäre das?« Er konnte seine Ungeduld nicht länger verbergen.

90 »Ja, ich weiß ja nicht . . . Ich meine nur . . .«, entgegnete Yvett gedehnt.

»Also gu-u-ut!« fiel Herr Winternitz ihr nervös in die Rede. »Aber sag schon! Wer!«

»Ach Gott, wer weiß denn, ob er – der, den ich eben meine – zufällig einen solchen Lautenspieler kennt. Möglich wäre es. Er ist sehr musikalisch . . . und verkehrt viel in Musikerkreisen, glaube ich wenigstens.«

»Wer denn nun?!«

»Ach, ein Bekannter von der . . . von einer Bekannten, einer Mitschülerin . . . Ich meine, ich weiß ja nicht, aber . . .«

»Von welcher Mitschülerin?« unterbrach die Mutter.

»Von der Erna«, log Yvett ohne Wimperzucken. Und erst in der nächsten Sekunde wurde ihr klar, daß sie da gar nicht gelogen, sondern zufällig die reine Wahrheit gesprochen hatte: Romeo war doch tatsächlich ein Bekannter von Erna! Hatte sie da, weil sie die Wahrheit sagte, nicht etwa eine gefährliche Unklugheit begangen?

»Von der Erna –?« vergewisserte sich die Mutter, stirnrunzelnd. »Das wird dann schon was Rechtes sein. Überhaupt: mit der Erna verkehrst du?«

»Herrgott, aber das ist doch jetzt nicht das Wichtigste, Doris!« fuhr Herr Winternitz seine Frau gereizt an. »Immer mußt du alles unnötig komplizieren. Laß Yvett doch erst mal fertig reden!« Freundlich wandte er sich Yvett zu. »Ein Bekannter von der Erna? So. Und der weiß von einem Lautenspieler?«

»Das weiß ich nicht, ob er von einem weiß«, 91 verteidigte sich Yvett. »Aber er ist, glaube ich, sehr musikalisch und verkehrt viel . . .«

»Ja!! Das sagtest du schon!« unterbrach sie der Vater voll Ungeduld, doch unentwegt freundlich. »Ob er aber von einem Lautenspieler weiß –? Das ist doch die Hauptsache.«

»Das weiß ich nicht bestimmt. Aber ich könnte . . . man könnte . . . Das heißt, mich geht's ja eigentlich nichts an, nicht wahr? Ich meinte nur . . . Bloß, weil ihr . . .«

»Was heißt das: dich geht es nichts an!« tadelte Herr Winternitz. »Du, als die Tochter des Hauses – –!« Er unterbrach sich, warf seiner Frau einen Blick voll Haß zu. »Jetzt hast du sie gleich wieder kopfscheu gemacht!« fauchte er. Zärtlich strich er mit der Hand über Yvetts Scheitel. »Laß dich von Mama nicht einschüchtern, Yvett. Also sag schön, wer ist dein Bekannter eigentlich? Wie heißt er, wo könnte man mit ihm verhandeln?«

Yvett spürte, daß ihre Sache gut stand. Drum tat sie jetzt auch, als wäre sie im Innersten gekränkt, unterdrückt und wieder einmal zu Unrecht gescholten. »Ach, ich sehe schon, ich sag am besten gar nichts mehr. Die Mutter – –«, schluckte sie mit tränenerstickter Stimme. Erschrocken blickte sie auf: die Mutter hatte sich mit einem Ruck erhoben, die Serviette zu Boden geworfen, sie hatte die Augen voll Tränen, und jetzt stürzte sie zur Tür hin.

»Doris!« rief der Vater ihr nach. Yvett eilte hinter der Mutter her, holte sie ein, hielt sie am Ärmel fest. Sie fühlte, daß sie zu weit gegangen war, daß alles, was so günstig für sie begonnen, jetzt auf dem 92 Spiele stand. Die Mutter mußte unter allen Umständen versöhnt werden. Sogleich. »Aber Mutter!« bat sie vorwurfsvoll. Jetzt war auch der Vater hinzugetreten. »Aber Doris! So mach doch keine Geschichten, bitt dich. Hat dich vielleicht jemand beleidigt?«

Frau Winternitz strich mit dem Taschentuch über die Augen. Mit einer heftigen Bewegung befreite sie ihren Arm aus Yvetts Umklammerung; sie maß Gatten und Tochter mit einem verächtlichen schmerzerfüllten Blick, wortlos schritt sie zum Tisch zurück. Herr Winternitz und Yvett folgten ihr, ein wenig betreten. Alle drei nahmen ihre Plätze wieder ein.

»Also kommt, hört auf. Damit wir schon endlich zu einem Resultat kommen«, suchte Herr Winternitz mit unsicherer Gemütlichkeit einzulenken. »Besprechen wir jetzt alles in Ruhe zuende.«

»Bitte«, sagte Frau Winternitz in starrer Ruhe; sie hielt die Lippen aufeinandergepreßt und den Blick von den beiden abgewandt.

»Na?« wandte Herr Winternitz sich neuerdings an Yvett, um einen Grad strenger als vorher.

»Ja –?« machte Yvett gedehnt, huldvoll, als erkundige sie sich nach Vaters Wünschen.

»Frag nicht so dumm!« herrschte der Vater sie aufgebracht an.

»Ach ja«, beeilte sie sich zu sagen, »wegen Romeo –!« Erschrocken hielt sie inne.

»Weeer?«

Yvett war dunkelrot im Gesicht. Sie hätte sich für ihre Zerstreutheit ohrfeigen mögen.

»Romeo!« würgte sie nochmals, möglichst harmlos, hervor. »Na ja, so heißt er!«

93 »Wer heißt so?«

»Der . . . der Bekannte, der den Lautenspieler kennt.« Jetzt hatte sie sich wieder einigermaßen gefaßt.

»Romeo?«

»Ja! Romeo. Ich kann's nicht ändern. Glaube wenigstens, daß er so heißt.«

»Ro–meo? Das ist doch kein Name. Das ist ein Theaterstück!« Der Vater schüttelte den Kopf. »Verstehst du das, Doris?«

Doris schwieg mit undurchdringlichem Gesicht.

Yvett war froh, daß nur der Name dem Vater aufgefallen war. »Vielleicht heißt er anders. Das ist doch auch ganz gleichgiltig«, entschied sie gelangweilt.

»Na eben. Romeo wird er doch nicht heißen. Aber das ist doch auch gleichgiltig jetzt«, meinte der Vater.

Yvett war wieder Herrin der Situation, oder glaubte wenigstens es zu sein. »Also sieh mal, Vater, ein junger Mann ist das, ein Student«, erklärte sie überlegen und voll Nachsicht, »ich glaube, er studiert sogar Musik . . .«

»Vielleicht könnte er selbst singen?« fiel Herr Winternitz mit freudig aufleuchtenden Augen ein.

»Ach nein«, hauchte Yvett und lächelte verlegen.

»Warum nicht? Ist doch keine Schande.«

»Also, Vater, ich werde mein möglichstes tun, dessen kannst du gewiß sein. Ob meine Bemühungen den gewünschten Erfolg haben werden, das kann ich natürlich nicht garantieren.«

»Aber gleich? Ja? Du bemühst dich gleich?« vergewisserte sich der Vater ungeduldig, und da von Yvett als Antwort ein freundliches Kopfnicken kam, erhob 94 er sich, befreit aufatmend. »Gut. Dann wäre das also erledigt.«

Yvett fuhr mit den Fingerspitzen an die Schläfe, als fiele ihr plötzlich etwas sehr Fatales ein. »Ja, allerdings . . . das heißt . . .«, murmelte sie nachdenklich, umdüstert.

»Was ist wieder?« Leicht erschrocken, erwartungsvoll blickte der Vater sie an.

»Na, nein, das ist schließlich nicht so schlimm«, besann sie sich. »Man könnte ihn ja schließlich einladen.«

»Einladen? Wen?«

»Den jungen Mann. Weißt du, er ist doch schließlich ein feinerer Mensch, und wenn man von ihm für unsern Gesellschaftsabend eine Gefälligkeit will, dann muß man ihn doch mindestens dazu einladen, nicht?«

»Einladen –? Ja, ist er denn . . . ich meine, ist er denn . . . Kann man ihn denn einladen?« Mißmutig überlegend blickte der Vater vor sich hin.

Yvett fühlte, daß die nächste Sekunde über alles entschied. »Na ja, siehst du, das ist es eben«, pflichtete sie ihm nachdenklich bei. »Man kann doch schließlich nicht einen wildfremden Menschen einladen. Da werde ich mich lieber erst gar nicht an ihn wenden, wegen eines Lautenspielers, nicht?«

»Warum? Nein, das geht nicht!« stieß der Vater aufgeregt heraus. »Er muß uns einen Lautenspieler beschaffen, dieser Ro–meo.«

»Ich glaube, er ist aus recht kleinem Hause«, warnte Yvett stirnrunzelnd.

»Das macht doch nichts«, fuhr Herr Winternitz empört auf. »Was ist das wieder für ein alberner 95 Stolz! Morgen kann ich bettelarm sein, du Dummkopf. Sieht er denn halbwegs passabel aus?«

»Das schon, o ja. Ach Gott, ja, warum nicht?«

»Also dann lädst du ihn selbstverständlich ein«, entschied der Vater strenge und mit Nachdruck. »Und jetzt beeile dich und nimm die Sache gleich in Angriff, verstanden?«

»Na gut, bitte, wenn du willst«, gab Yvett etwas widerwillig nach. »Also dann – auf Wiedersehn. Auf Wiedersehn, Mutter.« Nachlässig, ohne alle Hast entfernte sie sich, bedächtig schloß sie hinter sich die Tür. Draußen jubelte es in ihr auf: sie hatte erreicht, was sie von ganzem Herzen ersehnte. Romeo würde künftig im Hause verkehren!

Herr Winternitz stand noch, er blickte lächelnd, gedankenverloren zu Boden. Plötzlich zuckte er, wie von einem Reptil berührt, zusammen. Etwas unnennbar Großes mußte ihm in den Sinn gekommen sein. Er stürzte zur Tür, riß sie auf. »Telefoniere mir in die Fabrik, Yvett, sobald du wegen des Lautenmanns Rücksprache genommen hast«, rief er auf den Gang hinaus.


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