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Seit zwei Tagen hatte Romeo den Fuß nicht mehr vor die Tür gesetzt. Zwei graue, gespannt hinschleichende Tage. Er schämte sich; gründlicher als je. Bis zur Hilflosigkeit schämte er sich. Er traute sich nicht mit den Mädchen wieder zusammenzukommen. Yvetts Güte und Teilnahme waren für ihn lästige Almosen, und wer bürgte ihm dafür, daß sie ihn bei der nächsten Begegnung nicht wieder so anblicken würde wie vorgestern. Er war, verschüchtert, schüchtern 228 geworden, wieder der scheue Knabe, den glücklich überwunden zu haben bisher sein Stolz gewesen. Und wie hätte er erst Lotte so unbefangen und sicher, wie sein Selbstgefühl es verlangte, begegnen können? Nicht etwa weil er sie liebte und das jetzt wußte, nein, weil sie der Anlaß seiner Beschämung war und nichts anderes. So glaubte er wenigstens, und vor allem wollte er es so glauben. In dem Bildhauer sah er nur noch eine verzerrte Karikatur seiner eigenen Kläglichkeit, er fürchtete ihn, diesen Doppelgänger, so wie er sich als Kind vor Gespenstern gefürchtet hatte.
Noch niederdrückender als seine Ratlosigkeit bei jedem Gedanken an ein Zusammensein mit den anderen, war seine Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, sobald er sich allein sah. Es war ihm selbstverständlich gewesen, an sich zu glauben. Und sein Auftreten, aber auch der Inhalt seines Empfindens, waren Propaganda dafür gewesen. Jetzt war er ein Apostel, der seinen Glauben verloren hatte. Plötzlich, über Nacht. Er war nichts. Und er war außerstande, etwas anderes zu denken als das. Die Zeit, wo er – ein paar Tage vorher noch – jugendlich hoffnungsvoll im Gefühl seiner Zukunft dahingelebt hatte, lag nun unwahrscheinlich weit zurück. Was konnte ein Nichts hoffen? Er fühlte sich Yvett verwandt, aber das beglückte ihn nicht, tröstete ihn auch nicht, sondern vermehrte seine Beschämung. Gerade indem er sich bewußt war, ihr damit näher zu rücken, wollte er nichts mit ihr gemein haben. Denn auch sie wurde für ihn damit nur eine Bestätigung seines Unwertes und – nichts anderes. Er war ein Selbstmordkandidat, der nicht an Selbstmord dachte. Das, woran er mit fiebriger 229 Unermüdlichkeit dachte, war darum nicht weniger quälend.
Er mußte loskommen von Yvett, aber auch von Lotte, von ihnen allen, von dieser ganzen verfluchten Stadt, er mußte zu sich selbst kommen! – so schien es ihm. Mit Yvett verband ihn doch nur das eine, daß sie ihn liebte und daß er sie . . . gut leiden konnte. Aber er liebte sie nicht, nein, er wollte sie nicht lieben. Er fürchtete sich vor ihr. – – Als sein Kopf vorgestern in ihrem Schoß lag, ihre Lippen sein Haar berührten und er sie über seinen Kopf geneigt weinen hörte, da hatte er ganz deutlich das Gefühl gehabt: ihre weinenden Lippen in seinem Haar, ihre zitternden Hände an seinen Wangen, das alles sei Untergang, ganz sicherer Untergang . . .
Der Mensch, der er bisher gewesen, dieser unmögliche feige grundverlogene Mensch, das war doch nicht er? Nein, das konnte nicht sein wahres eigentliches Ich sein, das wäre allzu fürchterlich – –! Nein, er spürte . . . ganz deutlich spürte er's in diesen letzten bangen Tagen: er war bloß verdorben, von Grund auf verdorben. Aber tief in ihm ruhte, schlief ein anderer besserer größerer Mensch. Und dieser Mensch – nicht er, Romeo, »Jurist Reif« – war es auch, der durch Yvetts bettelarme Liebe bedroht wurde.
Er mußte fliehen von hier! Irgendwohin, wo die Menschen in Ruhe das sein konnten, sein durften, was sie in Wahrheit waren; wo eine geheime unwiderstehliche Macht einen nicht trieb, in jeder Minute des Tages mehr, anderes scheinen zu wollen, als man in Wahrheit war. Und das Teuflische daran: – dieses 230 ›Mehr‹, dieses ›Andere‹, nach dessen Lügengestalt zu streben es einen hier unentwegt zwang, das war zwei Schritte jenseits von Rietheim doch wahrscheinlich gar kein Mehr, sondern im Gegenteil ein Weniger. Und war diese erbärmliche Lebenslüge endlich vom Erfolg gekrönt, hatte man sich hier allmählich zu letzter Geltung, zu allgemeinem Ansehen emporgelogen, dann war man ein fertiger erledigter Mensch, den die übrige wesentliche Welt – sie mußte irgendwo jenseits von Rietheim liegen, vielleicht in ganz großen Städten und in ganz kleinen Dörfern – ausspie und von sich warf wie ungenießbares verwesendes Fleisch.
Fort von hier! Nicht mehr lügen. Nicht länger lügen müssen!
Wie aber konnte er fliehen? Er war arm. Er war an Rietheim gefesselt. Seine Mutter . . . – nur mit den größten Opfern und unter Zuhilfenahme der Miete, die ein Gymnasiallehrer für das dritte Zimmer bezahlte, war es überhaupt möglich gewesen, an ein Universitätsstudium zu denken. Und auch da nur, obwohl ihn das am allerwenigsten interessierte, an das Studium der Rechte; weil er hierzu nicht unbedingt in der Universitätsstadt zu sein, sondern später nur zu den Prüfungen hinzufahren brauchte. Nein, an einen dauernden Aufenthalt in der Hauptstadt oder sonst wo in der Fremde war nicht zu denken. Auch würde ihn die Mutter in diesem Punkt doch niemals begreifen können. – Jetzt war sie zu allem auch krank, wer weiß, für wie lange . . . Nein, er konnte, er würde sie jetzt nicht allein lassen, gleichviel, was aus ihm wurde. Er war verloren. Er war wohl verloren . . .
231 So war Romeo in seinen Gedanken und in der Wirklichkeit einsam geworden, zuletzt auch von sich selbst verlassen.
Gerade in diesen Tagen merkte er, daß ihm eines geblieben war: seine Mutter. Aber dieser Besitz war für ihn ebenso niederdrückend wie der Verlust des andern. Immerhin empfand er es als erlösend, sich mit jemand beschäftigen zu können und dadurch seine Selbstquälereien unterbrechen zu müssen. Seine Zärtlichkeit, die nichts mehr durfte, durfte wenigstens diesen Schutz vor sich und den anderen lieben.
Er beschäftigte sich mit der Mutter, in der Art, wie er sich manchmal mit Yvett beschäftigt hatte: mit einer Zärtlichkeit, die eigentlich – Mitleid war. Aber er beschäftigte sich mit ihr aus stärkeren äußern und stärkeren innern Gründen. Denn so wenig er es sich eingestehn wollte, und trotzdem der Arzt es nicht wußte oder nicht zu wissen schien, die Mutter war krank, schwer krank und brauchte ihn ganz anders als Yvett. Und er, der nun Trostlose, brauchte das Zärtlichseinkönnen viel mehr als jemals in den Tagen Yvetts. Damals war er neben anderem auch zärtlich gewesen. Jetzt blieb ihm nichts anderes als das. Und er war es um so stärker, als er fürchten mußte, daß auch diese letzte Möglichkeit ihm vor seinen Augen, zu seiner Qual dahinschwinden würde.
Soweit er zurückdenken konnte, war die Mutter nicht krank gewesen. Nun lag sie zu Bett, mit abgezehrtem Gesicht, und hatte Schmerzen. Wo es sie schmerzte, sagte sie nicht, so sehr er auch in sie drang.
Gestern noch hatte sie es sich nicht nehmen lassen, gegen Mittag aufzustehen, um für ihn zu kochen. 232 Heute ließ er es nicht zu. Das Essen wurde aus dem Gasthof nebenan geholt. Doch abermals nahm die Mutter nichts zu sich, keinen Bissen. Da schickte Romeo, ohne die Mutter vorher zu fragen, die Aufwartefrau nach dem Arzt.
Der Arzt gab Romeo beim Fortgehn beruhigende Versicherungen. Er könne nichts finden. Die Mutter bedürfe lediglich der Ruhe und Schonung. Bei Frauen sei von einem gewissen Alter angefangen immer etwas in Unordnung. Aber das gehe natürlich vorüber. Sollte es der Mutter wider Erwarten in einigen Tagen nicht besser gehen, so möge Romeo ihn neuerlich verständigen. Dann wolle er die alte Frau einmal gründlich untersuchen, für alle Fälle sozusagen. Denn einer eingehenden Untersuchung habe sie sich bisher widersetzt. Na ja, das seien bei alten Frauen eben gewisse unausrottbare Verschämtheiten. Aber, wie gesagt, zur Beunruhigung sei vorläufig kein Anlaß. –
Trotz diesen beruhigenden Mitteilungen des Arztes und ohne daß Romeo ihnen mißtraute, wurde er ein dumpfes Furchtgefühl nicht los, das offenbar gar nicht in seiner Besorgnis um den Zustand der Mutter begründet war. Er hätte sich in diesen Tagen freilich auch nicht gewundert, wenn der Boden ihm unter den Füßen geschwunden wäre. Er hielt es für selbstverständlich, daß auch die Mutter ihm entgleiten müsse wie alles, woran er sich hielt und klammerte. Und da sie ihm etwas war, was er verlieren sollte, verlieren mußte, bedrückte es ihn doppelt, daß er es niemals besessen hatte. Es quälte ihn, daß er von ihr, seiner Mutter, fast nichts wußte; daß er sein ganzes Leben von ihr noch weniger Notiz 233 genommen hatte als sonst Kinder von Eltern. Er hatte sie tagtäglich um sich herum schalten gesehen, ihre eintönige Besorgtheit als etwas Selbstverständliches über sich ergehen lassen und hatte sie, wenn sie ihm lästig wurde, mit Nachdruck von sich weggescheucht. Und doch hatte er, wie ihm jetzt einfiel, nur ein einziges Mal nicht mit ihr unter einem Dach gewohnt: die beiden Tage, da er zur Immatrikulation in der Hauptstadt war.
»Die alte Frau . . .«, hatte der Arzt gesagt. Ja war sie denn eine alte Frau, die Mutter? Eigentlich konnte sie doch nicht gar so alt sein . . . Er selbst war kaum zwanzig; sie hatte, wie er zu wissen glaubte, in den üblichen Jahren geheiratet, und er war auch gleich im ersten Jahr ihrer Ehe, unmittelbar nach dem Tod des Vaters, eines von auswärts gekommenen Ingenieurs, der die große Eisenbahnbrücke gebaut hat, zur Welt gekommen. Freilich, so weit er auch zurückzudenken vermochte, immer war es eine alte, stets die gleiche alte Frau mit den blassen, leicht zitternden Lippen und dem vergrämten Gesichtsausdruck, die vor seinen Augen stand. War sie denn niemals jung gewesen, seine Mutter –?
Romeo trat zu ihr ins Zimmer. Wie alt sie eigentlich sei? – fragte er. Der Arzt habe ihn danach gefragt.
Sie wisse es nicht genau, sagte sie. Aber eigentlich würde sie selbst es nun gerne wissen . . . Er möge doch in der Tischlade nachsehen, dort müsse ihr Geburtsschein mit den anderen Papieren aufbewahrt liegen.
Verwirrt starrte Romeo auf den Schein in seiner 234 Hand; er mußte sich zusammennehmen, um seine Erschütterung zu verbergen. War das möglich –? Nicht älter als achtundvierzig war die Mutter? Und doch . . . eine Greisin . .
Zögernd wandte Romeo ihr das Gesicht zu; er zwang sich zu einem Lächeln. »Gott, wie jung du eigentlich bist, Mutter. Achtundvierzig Jahre!«
Ihr Gesicht lag klein und spitz in den Kissen; ihre Augen blickten die Zimmerdecke an. »Achtundvierzig . . .«, wiederholte sie leise.
Romeo preßte es die Kehle zusammen. Hatte er richtig gesehn –? Dünne starrende Tränen, die langsam über ihre schlaffen Wangen hinabrannen.
Hastig entfernte sich Romeo, auf Zehenspitzen, aus dem Zimmer. So sacht wie möglich schloß er die Tür. Er stand und lauschte . . . Langsam sank seine Stirn auf die Finger herab, die immer noch die Klinge hielten. So stand er Minuten. In sich versunken.
*
Die Mutter schlief.
So gut es ging, brachte Romeo die Wohnung in Ordnung. Mit einem Ausdruck, der Ingrimm, Besessenheit verriet, wischte er mit dem Handtuch Staub von den Möbeln. Seine Bewegungen hatten etwas Wildes Aufgeregtes. Ein dumpfer Fanatismus schien ihn zu treiben, sein Reinigungswerk so gründlich, so unerbittlich wie möglich zu tun.
In Hemdärmeln und Hausschuhen war er gerade dabei, mit einem um den Besen gewickelten feuchten Küchenfetzen so, wie er's die Mutter oft hatte tun 235 sehen, den Fußboden des kleinen Korridors zu reinigen, als an der Wohnungstür zaghaft die Glocke anschlug. Romeo fuhr zusammen. Lotte . . . vielmehr . . . Yvett! – zündete es wie ein elektrischer Schlag durch sein Hirn. Er warf den Besen in die Ecke, tat zwei Schritte gegen sein Zimmer hin, besann sich, hielt inne. Flüchtig brachte er mit den Händen sein Haar in Unordnung, nur einen kurzen prüfenden Blick warf er in sein Zimmer, dessen Tür offen stand, dann trat er mit müden schlürfenden Schritten an die Wohnungstür, öffnete.
Draußen stand atemlos Yvett – in einem neuen hellen Frühjahrsmantel. »Was ist los, Romeo?« stammelte sie mit furchtgeweiteten verwirrten Meeraugen.
»Guten Tag, Yvett«, murmelte Romeo sterbensmüde. »Komm herein.« Er hielt die Tür.
»Nein!« flüsterte sie entsetzt. »Ich geh wieder hinunter und warte an der Straßenecke. Komm du herunter!«
Romeo schüttelte verneinend den Kopf. »Ich komme nicht. Jetzt nicht und niemals mehr. Aber komm du herein, Yvett. Wir haben miteinander zu reden.« Der mutlose Ton seiner Stimme schnitt ihm ins Herz.
Yvett starrte ihn ratlos an. »Das geht nicht, Romeo!« flüsterte sie anklagend. »Es kommt bestimmt heraus!«
Romeo erwiderte nichts. Er hielt immer noch die Tür; sein Blick ruhte starr auf ihrem Hals. Ihre vibrierende Aufgeregtheit schien ihn zu erregen.
Oben, im dritten Stock, ging eine Tür. Jemand kam die Treppe herab.
»Jemand kommt!« flüsterte Romeo gepreßt, faßte 236 Yvett am Arm, zog sie in die Wohnung. Leise schloß er die Tür; er hielt den Finger vor den Mund. Beide standen bewegungslos. Die Schritte entfernten sich . . .
Romeo deutete auf sein Zimmer. »Leise!« ermahnte er. »Die Mutter ist krank. Sie schläft.« Er schlich auf den Zehenspitzen voran.
Unruhe im Blick, betrat Yvett Romeos Zimmer. Romeo schloß die Tür. Furchtsam – Romeo schien es: entsetzt – blickte sie stumm im Zimmer umher. Argwöhnisch folgte Romeo ihrem Blick; eine flüchtige Röte stieg in seine Wangen. »Ja, so und nicht anders sieht es bei mir aus«, sagte er laut, und eine merkwürdige feindselige Gereiztheit war in seiner Stimme. »Damit wird sich die Tochter des Herrn Winternitz leider abfinden müssen.«
Verständnislos, aufgeregt blickte Yvett ihn an. »Ja also, was ist denn eigentlich geschehn, Romeo?«
»Du kannst laut sprechen. Hier hört uns niemand«, unterbrach Romeo sie gereizt.
»Na sag, was ist los? Warum warst du gestern und heute nicht vor der Schule? Rasch. Ich muß augenblicklich von hier fort!«
»Na, dann bitte!« verkündete Romeo herausfordernd. »Ich will dich durchaus nicht aufhalten. Ich kann sehr gut begreifen, daß die ungewohnte Umgebung hier . . . dich nicht heimlich berührt.«
»Aber was hast du nur, Romeo?«
»Also lassen wir das!« entschied Romeo mit einer leidenschaftlichen Handbewegung. Und aus seinen Augen brach ein besessenes düsteres Licht. »Auch ich hab dir eigentlich nur wenig mitzuteilen. Folgendes: Sobald meine Mutter wieder gesund ist, verlasse ich 237 Rietheim. Für immer. Bis dahin aber bin ich fest entschlossen, mich von dir . . . und von allen Menschen hier, zurückzuziehn. Es muß sein. Schwerwiegende innere Gründe, über die ich nicht sprechen will, zwingen mich zu diesem Schritt. So. Und jetzt will ich dir auch nicht länger den Aufenthalt hier zumuten.« Er hielt ihr die Hand entgegen. »Leb recht wohl, Yvett, laß es dir gut gehn. Denk manchmal an mich.«
Yvetts Augen waren die eines ertrinkenden Tiers. Ohne zu atmen, starrte sie auf Romeos Hand hinab. »Warum, Romeo?« hauchte sie, Tränen in der Stimme.
»Sehr einfach. Weil ich sonst zugrund gehe. Das ist alles.«
»Ich hab's mir gedacht«, flüsterte sie. Ihr Kinn sank auf die Brust. »Du hast recht, Romeo. Du mußt frei sein . . . von mir . . .«
»Von euch allen.«
»Nein, Romeo, bloß von mir. Von Lotte . . . nicht.«
»Na, wenn du's so interpretieren willst – bitte, es sei dir überlassen!« fuhr Romeo gereizt auf. »Selbstverständlich werde ich Lotte ebenso wenig wiedersehn wie dich. Lotte ist mir total gleichgiltig. Ich stehe jetzt vor ganz anderen Lebensentscheidungen. Um Sein und Nichtsein geht es bei mir, meine liebe Yvett! Aber so weit reicht dein Verständnis für mein Seelenleben natürlich nicht! Es interessiert dich ja nicht einmal zu erfahren, was mit meiner Mutter ist!«
»Quäl mich doch nicht, Romeo«, schluchzte Yvett nun fassungslos heraus. »Ich bin doch eben deshalb gekommen, um zu erfahren, was los ist. Sag mir alles! Du weißt doch, daß ich nichts bin . . . und daß ich 238 nichts will, als dich verstehn. Du sollst alles tun können, alles, Romeo, was du tun mußt. Nur quäl mich nicht! Sag mir etwas! Schick mich nicht fort wie eine gemeine Dirne! Du siehst mich doch heute zum letzten Mal . . . Nein! Sag mir lieber nichts! Es ist ja doch zwecklos. Küß mich noch einmal . . . und ich will gehn . . .« Das Schluchzen schüttelte, würgte sie. »Ich . . . hab doch nie . . . etwas anderes gewollt . . . als dein Bestes . : . Aber ich sehe ein . . .« Sie vollendete nicht, wandte sich ab, preßte ein Taschentuch gegen die Lippen.
Romeo fühlte, daß er maßlos ungerecht gegen sie war. Aber er war keines befreienden Wortes mächtig. Ihr Schluchzen erschütterte, befriedigte und erregte ihn zugleich. Als sie jetzt mit dem Rücken zu ihm stand, sah er nichts als die stoßweise Bewegung ihrer Schultern, die geheimen Schauer ihrer Hüften . . . Sie muß den Mantel ablegen! – war sein einziger Gedanke. Zögernd trat er von rückwärts an sie heran. Nun fühlte er die schlanke Rundung ihrer Hüften an seinem Körper. Es war ihm mit einem Mal leicht und wohl, beinahe freudig zumute. Unschlüssig strich seine Hand über ihr Haar. Aber ich kann sie doch jetzt, ganz ohne Überleitung, nicht zu küssen beginnen! – fiel ihm ein. Er wandte die leise Weinende zu sich herum. »Liebe Yvett –«, flüsterte er traurig. Gleich darauf preßte er beide Hände gegen die Augen und verzerrte das Gesicht, als hätte er einen qualvollen inneren Kampf zu bestehen. »Nein! Geh fort, Yvett. Geh! Sonst geht alles wieder seinen alten Gang, und ich falle rettungslos in alles das zurück, was ich unbedingt in mir überwinden muß – sonst bin ich 239 verloren. Ich weiß doch, wie es jetzt werden würde! Ich werde dich zu trösten beginnen, zuerst mit guten Worten, dann mit Zärtlichkeiten und Küssen . . . und alles wird wieder gut sein und die alte Lebenslüge geht weiter, dieses ganze verheerende Gesellschaftsspiel . . . Nein, Yvett, es darf nicht mehr sein! Geh! Wenn du mich liebst, so geh jetzt!«
Wenn sie aber nun wirklich geht? – dachte er. Warum eigentlich hatte er, jetzt eben, schon wieder gelogen? – Aber dieser Gedanke erschien ihm nun eigentlich geringfügig, gleichgiltig. Wenn sie nur blieb und den Mantel ablegte.
»Ja, Romeo«, flüsterte sie mutlos, »ich gehe schon.« Sie hatte zu weinen aufgehört, sie war blaß, aber gefaßter als vorher. Denn sie wußte, sie fühlte es, daß Romeo sie nun nicht fortgehn lassen werde. Und weiter dachte auch sie nicht.
»Leb recht wohl, Yvett«, flüsterte Romeo schmerzlich bewegt und hielt ihr die Hand hin. »Ich werde immer an dich denken.«
»Leb wohl, mein Junge«, hauchte sie sterbenstraurig und legte ihre Hand in die seine. »Denk manchmal an mich, auch wenn ich – –«
Romeos Lippen saugten sich an ihrem Halse fest. Er zog sie neben sich aufs Bett, öffnete ihren Mantel, warf sich über sie. Seine Hand irrte über ihre Blößen hin, vergrub sich . . . Er stöhnte dumpf auf, bewegte sich wie besessen über ihr.
»Nicht! Nicht so! Laß mich!« flüsterte sie. »Ich will . . . deine Geliebte werden!« Romeo preßte seinen Mund auf den ihren; er keuchte Unverständliches. Besinnungslos warf er sich auf ihr herum. Er stöhnte 240 wollüstig, wie zu Tode getroffen, auf. Schlaff, atemlos fiel er über ihr in sich zusammen.
Yvett hält den Atem an. Doch in wahnsinniger Erregung hämmert sie plötzlich mit beiden Fäusten gegen Romeos Brust, rüttelt ihn an den Schultern, stößt ihn von sich. »Wieder diese Gemeinheit!« schluchzt sie verzweifelt.
Romeo taumelt vom Bett auf. Unsicheren Schritts tritt er in die Mitte des Zimmers, fährt sich mit beiden Händen durchs Haar, streicht einige Male über seine Stirn. »Schweig!« fährt er Yvett gereizt an. »Du wirst noch die Mutter aufwecken!«
Verstört, verwüstet hockt Yvett am Rand des Bettes. Eine dunkle Röte steigt ihr in die Wangen, staut sich bedrohlich um ihre Halsschlagader. Ein tödlich erbitterter Blick streift Romeo: »Auf einmal! Vorhin sagtest du: hier kann uns niemand hören.«
Romeo wendet sich stumm, verletzend von ihr ab, zieht einen Kamm aus der Tasche, bringt seine Frisur in Ordnung.
»Feigling. Warum hast du wenigstens nicht den Mut aufgebracht, mich richtig zu deiner Geliebten zu machen?«
Bei dem Schimpf ist Romeo merklich zusammengezuckt. Er lacht kurz, häßlich auf. »Aus Feigheit, meinst du –? Nun, so wisse, daß ich bei anderen Frauen nicht feige war!«
»Das weiß ich. Du hast ja mit sozusagen diskreten Andeutungen dieser Tatsache nie gespart. Eben darum aber, bevor ich dich . . . auf immer verlasse, wünsche ich jetzt Klarheit über diesen Punkt. Du hast mich die ganze Zeit mit . . . mit dunklen Aussprüchen 241 hingehalten. Ich bin kein Kind und so dumm, wie du meinst, bin ich auch nicht mehr! Warum hast du mich nicht zu deiner richtigen Geliebten gemacht?!«
In Romeos Gesicht ist Haß, nichts als feindlich lauernder Haß. »So. Ich habe . . . mit diskreten Andeutungen nicht gespart, sagst du. Du hältst mich mit einem Wort also für einen feigen verlogenen schleimigen Kerl?«
Erregt hält Yvett dem erbittert auf sie gerichteten Blick seiner Augen stand: »Zuerst wünsche ich eine klare ernste Antwort auf meine Frage, Romeo. Das heißt: ich selbst will sie dir geben. Du hast mich deshalb nicht zu deiner Geliebten gemacht, weil du zu unmännlich, zu feig warst, die Verantwortung, die Verpflichtung für diesen Schritt zu übernehmen. Und weil das ganze in der von dir bevorzugten Art ja schließlich auch zum Ziel führt, nicht wahr? Für dich! An mich aber hast du dabei nie gedacht. Das sieht dir ähnlich. Du hast mich, die wenigen Male, die wir allein waren, stets nur aufgeküßt, um mich dann . . . unerlöst von dir zu schicken. Das war niedrig von dir! Denn seither bin ich in einem qualvollen Zustand von ständiger Überreiztheit, ich kann nichts anderes tun, nichts anderes denken . . . Es ist . . . es war eine Gemeinheit von dir! Warum eigentlich? Warum andere . . . und nicht ich?! Sei jetzt wenigstens nicht feig, nicht gemein! Antworte!« Yvett ist vom Bett aufgesprungen, sie zittert vor Erregung. Die Schlagader an ihrem Hals hämmert beängstigend.
Romeo läßt sich auf einen Stuhl niederfallen, er schlägt die Beine übereinander. In seinen Zügen ist 242 vernichtungsbereiter blasser Hohn. »Bitte. Du sollst die Antwort haben. Aber sie wird anders ausfallen als du meinst. Nicht aus Feigheit, aus Unmännlichkeit hab ich dir andere Frauen vorgezogen – übrigens war es bloß eine, ein Dienstmädchen, ein ganz gewöhnliches Dienstmädchen, Fräulein Winternitz! – sondern deshalb, weil dieses Dienstmädchen mir für diesen Zweck einfach lieber war als du. Sie war nämlich keine höhere Tochter und vor allem – keine Jungfrau.«
Yvett blickt ihn ohne Bewegung ratlos an. »Ich brauchte doch auch keine Jungfrau mehr zu sein. Wir kennen uns schließlich lange genug.«
»Freilich müßtest und solltest du keine Jungfrau mehr sein«, wiederholt Romeo höhnisch. »Nur hättest du in dieser Beziehung nicht mit mir rechnen dürfen. Die Frauen und Mädchen, die ich besessen habe . . .«
»Es war doch nur eine, sagtest du eben.«
»Diese eine also . . . hab doch auch nicht ich von ihrer Tugend erlöst!«
»Schön. Sehr schön. Irgendeiner aber muß doch auch bei deinem . . . deinem Dienstmädchen der erste gewesen sein! Und hätte ich nicht ein Anrecht darauf gehabt, daß du dieser Erste bei mir gewesen wärst? Dich liebte ich doch! Leider.«
Erbittert lächelnd zündet sich Romeo eine neue Zigarette an. »Die Jungfräulichkeit ist etwas mir im Innersten Verhaßtes, Widerwärtiges«, sagt er, in einem überheblichen lehrhaften Ton, der zu wissen scheint, daß er unerträglich wirkt.
»So«, höhnt nun auch Yvett. »Dir ist also 243 widerwärtig, was die größten Dichter aller Zeiten als Reiz und Tugend verherrlichten!«
»Kleine Yvett . . .!«
»Ich bin keine kleine Yvett!«
»Liebe Yvett also . . . Das Vergnügen am Zerstören der Jungfräulichkeit überlasse ich gern den größten Dichtern aller Zeiten. Ich für meine Person habe kein Bedürfnis, mich in einen blutigen und dabei vielleicht aussichtslosen Kampf mit irgendwelchen gehässigen physischen Gebilden einzulassen.«
In Yvetts Gesicht ist keine Farbe mehr. »Wie bodenlos gemein du sein kannst, Romeo. Das hätte ich niemals gedacht . . . Und dabei wagtest du zu behaupten, du hättest mich ein bißchen lieb.«
»Hab ich, liebe Yvett. Aber vielleicht hättest du irgendeinem andern das . . . Geschenk deiner Unschuld darbringen und nachher in meine Arme zurückkehren müssen. Auf diese Art wärst du dann höchstwahrscheinlich meine ›richtige Geliebte‹ geworden – wenn du schon so großen Wert darauf legst. Geliebt . . . hätte ich dann freilich eine andere. Wieder eine Jungfrau nämlich. Lotte, zum Beispiel.«
Yvett beginnt den Boden unter den Füßen zu verlieren. Zuviel dringt auf einmal in ihr Bewußtsein.
»Also . . . einem andern hätte ich mich hingeben sollen –!« wiederholt sie, um Zeit zu gewinnen.
»Ja. Warum nicht?« sagt Romeo.
Yvett setzt sich, wie von Schwäche überfallen, wieder an den Rand des Bettes. Auch Romeo ist bleich. Doch mitleidlos, unfreundlich haftet sein Blick auf Yvetts Gesicht. Yvetts Schläfen hämmern. Die Erregung droht ihr die Stimme abzuschneiden. »Daß du 244 so sprechen kannst – heute! – das ist wohl das Äußerste. Übrigens . . . übrigens wird es dir nach all dem ja Freude machen zu hören, daß ich . . . daß ich in einem richtigen Instinkt deinem Rat bereits gefolgt bin.«
Romeo lächelt ungläubig höhnisch verletzend. »Wie, bitte?«
»Ja! Ohne zu wissen, daß das dein Wunsch war, hab ich es bereits getan.«
»Was?«
Yvett schweigt, blickt von ihm weg.
Auch Romeo schweigt. Er überlegt. »So. Und das sagst du mir jetzt erst?« – Nach einer Weile, da keine Antwort kommt: »Wer war das Schwein?«
Yvett blickt krampfhaft geradeaus vor sich hin. »Ein Mensch, den ich hochschätze.«
»Älterer Herr demnach?«
»Nein. Ein Tänzer.«
Romeo blickt nun finster zu Boden; aber das höhnisch-feindselige Lächeln liegt erstarrt, verzerrt noch immer um seinen Mund.
Auch um Yvetts Lippen spielt jetzt schlagbereiter Hohn. »Nun, diese Mitteilung muß dich doch eigentlich freuen, nicht?«
Romeo lächelt. »Du lügst.«
»Nein, mein Freund! Es ist so, wie ich sage.«
Romeo erhebt sich, klopft von seiner Zigarette die Asche ab. Seine Stimme klingt gepreßt. »Höre. Wir sind heute zum letzten Mal zusammen, nicht wahr? Und heute erst – jetzt, in der allerletzten Minute – teilst du mir eine Tatsache mit, die, hätte ich früher davon gewußt, unsere Beziehungen weitaus 245 genußreicher, jedenfalls wesentlich anders hätte gestalten können. Du hast mich also um etwas betrogen, was . . .«
»Jetzt auf einmal! Merkwürdig!« unterbricht ihn Yvett, düstern Triumph in der Stimme. »Du sagtest doch selbst eben erst, daß ich . . .«
»Ruhe! Jetzt spreche ich!« schneidet ihr Romeo drohend, sprungbereit das Wort ab. Er beißt sich auf die Lippe, sucht in möglichst ruhigem Ton weiterzusprechen. »An der Tatsache, daß du dich einem andern hingegeben hast, läge mir – wohlgemerkt – nichts, soferne es im Bunde mit mir, mit meinem Wissen und einzig und allein im Hinblick auf mich geschehen wäre. In der von dir gewählten Form hingegen kann ich nichts anderes erblicken als einen groben abgefeimten Vertrauensbruch, und ich betrachte mich daraufhin in gar keiner Beziehung mehr mit dir verbunden. Darf ich dich bitten, mich nun zu verlassen. Ich muß jetzt übrigens nach der Mutter sehn.« Romeos Gesicht ist plötzlich von einem unheimlich einsamen besessenen und entschlossenen Ausdruck entstellt.
Etwas Ungreifbares Banges Geheimnisvolles ist mit diesen letzten Sekunden ins Zimmer getreten, Yvett, aber auch Romeo, fühlen es; beiden engt es die Kehle ein.
Yvett erschrickt; sie vergißt sich und ihre Rolle. »Du bist mir ein Rätsel, Romeo«, stammelt sie, weinend.
Kaum hörbar, doch in einem so eisigen herzlosen Ton, daß seine Stimme Yvett wie ein Gespenst an die Nerven greift, wiederholt Romeo: »Ich bitte dich, 246 mich nun von deinem Anblick zu befreien. Ich muß jetzt übrigens nach meiner Mutter sehn.«
Als wäre ihr Körper von Asche, so widerstandslos fällt Yvett nun am Bettrand in sich zusammen. Fast grau wirkt jetzt ihr Gesicht. »Aber so warte doch, Romeo, um Gotteswillen«, stammelt sie. »Du hast mich doch gar nicht fertig erzählen lassen . . . Wenn du mich auch so herausforderst! Es ist in Wirklichkeit doch gar nichts vorgefallen, es war nur die Rede davon und . . . – Ich muß es dir erzählen, wie es war. Eines Abends . . . du hattest mich am Nachmittag wieder einmal so von dir geschickt, so wie vorhin . . . da war ich mit den Eltern in einer Gesellschaft, wo getanzt wurde. Ich war verzweifelt und wollte auf andere Gedanken kommen, ich wußte damals bereits, wie es um dich und um Lotte stand, und so trank ich heimlich einige Gläser Sekt, die dort auf den Tischen standen. Ein junger Mann aus unserer Gesellschaft tanzte immer von neuem mit mir. Er flüsterte mir gewisse Dinge, Schmeicheleien ins Ohr, die mich im Augenblick freuten. Schließlich bat er mich um ein Rendezvous. Bei ihm zuhause.«
»Und du gingst hin . . .«
»Nein. Ich ging nicht hin. Aber vor einigen Tagen, als du täglich – nicht mich, nein, wie ich ganz genau fühlte: die Lotte, vor der Schule erwartet hast, da ging ich dann doch zu ihm. Unter dem Vorwand, bei seiner Schwester ein Buch abzuholen. In seine Wohnung.«
Romeo stiert auf ihren Hals. »Also doch.«
»Aber es ist doch gar nichts vorgefallen, Romeo!«
247 »Was heißt das! Willst du mich . . .?! War die Schwester dabei?«
Yvett krampft die Finger ineinander. »Nein. Sie war nicht zuhause. Er war allein.«
»Und?«
Yvett wendet das Gesicht zur Seite. Ihre Wangen, ihr Hals sind wie mit Blut übergossen. »Er wollte auch nicht der Erste sein.«
Romeo spricht einige Sekunden kein Wort. Im Raum herrscht eine unerträgliche Spannung, eine Geladenheit, die am Atmen hindert. Romeo lacht kurz trocken unheiter auf. Gleich darauf nimmt sein Gesicht abermals jenen unheimlich einsamen entschlossenen Ausdruck an. »Ich ersuche dich trotzdem, mich jetzt zu verlassen, Yvett«, wiederholt er in einem immer seltsameren Ton, der an eine Schallplatte erinnert. »Ich muß jetzt nach meiner Mutter sehn.«
Willenlos, zerschlagen erhebt sich Yvett vom Bettrand. Mit den gleichen müden apathischen Bewegungen streichen ihre Hände über das Kleid hinab, tritt sie vor den Spiegel, um den Hut aufzusetzen, zieht sie den Mantel an. »Mir träumt jetzt oft von dir«, sagt sie, ohne Romeo, der reglos wartend an der Tür steht, anzublicken. »Heute träumte mir: ich stand auf einer Wiese mit vielen vielen Frauen. Wir bildeten eine endlose Reihe, deren Ende im Grau verschwand. Alle hielten wir ein rotes Band, das eigenartig leuchtete . . . nein, das Band hielt uns. Ich wollte mich losmachen, mich aus der Reihe befreien, da kamst du. Du tatst so, als wolltest du mir helfen. In Wahrheit sahst du aber bloß lächelnd zu, wie ich mich immer mehr verwickelte und . . .«
248 Yvett geht zu Romeo hin, hält ihm die Hand entgegen. Ihre Augen sind groß meergrün verwüstet.
»Leb recht wohl, mein Junge«, sagt sie, ohne Mut. »Ich hab deinetwegen nicht erst heute gelitten. Doch ich weiß jetzt, daß ich niemals einen Freund hatte. Aber einen Feind, den ich besser gefürchtet hätte. Dich. Und . . . siehst du, ich kann dich auch jetzt nicht hassen. Ich hab dich gern. Weiterhin. Ich stehe vor Unbegreiflichem.«
Romeos Stirn ruht einen Augenblick auf Yvetts Schulter. Dann öffnet er mit einer übertrieben brüsken Bewegung die Zimmertür, geht Yvett voran. Er öffnet die Wohnungstür. Sein Gesicht ist blaß, unbewegt. Aber seine Stimme klingt jetzt menschlicher; sie klingt traurig und verlassen. »Leb wohl, kleine Yvett. Ich . . . ich kann dir nichts erklären. Trachte, daß dich unten, vor dem Haus, niemand sieht.«
Yvett geht. Das zerknitterte Taschentuch gegen den Mund gepreßt.
Leise schließt Romeo hinter ihr die Tür.
Im gleichen Augenblick klopft es schwach noch einmal an die Tür. Romeo öffnet.
Seine mühsam aufgebotene Widerstandskraft will ihn beim Anblick von Yvetts tränennassem, in Schmerz aufgelöstem Gesichtchen verlassen. »Siehst du, Romeo«, stammelt Yvett, »als ich vorhin zu dir ging, hat eine alte Frau mir an der Straßenecke Veilchen angeboten. Die gibt es jetzt wieder . . . Veilchen.«
Der hoffnungslos-hilflose Klang ihrer Kinderstimme schneidet Romeo ins Herz. Er will etwas sagen, da stürzt Yvett bereits ohne sich aufzuhalten 249 die Treppe hinab. Er macht eine Bewegung, um ihr zu folgen, in diesem Augenblick entdeckt er im Halbstock oben, beobachtend über das Treppengeländer herabgebeugt, Emma. Ein blindes Wutgefühl überkommt ihn. Mit drei Sätzen ist er bei ihr, packt sie am Handgelenk, verdreht ihr den Arm. Emma schreit auf. Er hält ihr die Faust unter die Nase – vor seinem entfesselten Blick erstirbt ihr der Schrei auf den Lippen. »Du Bestie, du elende, dreckige Hure!« stößt er hervor. »Wenn ein Wort von dem, was du gesehn hast, über deine Lippen kommt . . .!«
Er hält inne. Die Frau Inspektor, Emmas Dienstgeberin, ist in diesem Augenblick auf die Treppe herausgetreten. »Was ist denn da los?!« ruft sie, wie aus den Wolken gefallen.
Romeo läßt das Handgelenk des Mädchens los, seine Faust, immer noch geballt, sinkt hinab. »Gehorcht hat sie schon wieder, das Luder!« ruft er der Frau zu.
In diesem Augenblick stürzt Emma die Treppe hinauf, stellt sich fluchtbereit neben die geöffnete Wohnungstür; ihr Gesicht verzerrt sich in einem Ausdruck von dreister Vernichtungswut; sie reißt einen zerknitterten Zettel aus der Tasche, schwenkt ihn in der Luft. Vor Wut bringt sie zunächst kein Wort heraus, endlich gelingt es ihr, Romeo zuzuschreien: »Keine Aufregung! Herr Winternitz weiß bereits alles! Telefon Nummer vierhundertachtundsechzig, da sehen Sie! Ich hab das feine Fräulein schon beim Kommen gesehn! Pfui Teufel, das sind die ›feinen Damen‹!«
Romeo vollführt eine unbeherrschte Bewegung. Im 250 gleichen Augenblick ist das Mädchen hinter der Tür verschwunden.
»Unterstehen Sie sich, mein Dienstmädchen noch einmal zu behelligen! Kümmern Sie sich um Ihre Damenbesuche, Sie – besserer Herr, Sie!« schreit die Frau Inspektor so laut sie kann.
Jetzt öffnen sich auch in den anderen Stockwerken Türen; Köpfe neigen sich übers Geländer herab, stieren von unten herauf.
Langsam, wie verfolgt nach allen Seiten blickend, steigt Romeo die wenigen Stufen hinab, betritt er die Wohnung. Im Vorzimmer lehnt er sich mit dem Rücken gegen die Tür. Ein dumpfer Laut dringt aus seiner Kehle. Sein tastender Blick fällt auf die Zimmertür der Mutter: Eisig legt sich ihm eine beklemmende Ahnung um die Brust. Die Mutter! Er hatte sie bei dem Letzten jetzt völlig vergessen . . . – Er zwingt sich – etwas in ihm will ihn daran hindern – auf jene Tür zuzugehn, die ihn wie etwas unsagbar Feindliches Drohendes anstarrt. »Soll ich die Mutter nicht lieber noch ein wenig schlafen lassen?« denkt er. »Der Schlaf wird ihr gut tun und ich könnte sie aufwecken!« Aber er weiß, daß dieser Gedanke nichts ist als eine absurde Ausflucht, und daß er jetzt hineingehen muß. »Vielleicht benötigt sie irgend etwas. Ich muß doch wenigstens nachsehn, ob sie noch immer schläft«, ermahnt er sich. Er erschrickt vor dem Klang einer fremden Stimme: seiner eigenen Stimme. Die letzten Worte hatte er halblaut vor sich hin gesprochen. Er beißt die Zähne zusammen, sucht zu lächeln, legt die Finger auf die Klinke. Er besinnt sich, er tut so, als würde er sich besinnen, geht 251 in sein Zimmer, gießt Wasser ins Waschbecken, wäscht sich angelegentlich Gesicht und Hände. Er erschrickt vor dem stieren ausdruckslosen Blick seiner Augen im Spiegel – irgendwie aber erleichtert es ihn gleichzeitig, daß er jetzt keinen normalen, sondern einen starren, halb verrückten Blick hat. Er kämmt sich das Haar. Er betritt den Korridor, hält inne, da er sich die Anfangstakte eines Operettenschlagers pfeifen hört; er schließt für einen Augenblick die Augen, reißt sich zusammen und geht rasch zu der fürchterlichen Tür hin, öffnet sie.
Das stets dunkle Hofzimmer erscheint ihm im Dämmerlicht noch düsterer als sonst. Nur mit Anstrengung glaubt er die Gegenstände unterscheiden zu können. Das Bett . . . – Er zwingt sich, näher an das Bett heranzutreten. Weiß und spitz liegt der Kopf der Mutter in den Kissen. Sie bewegt sich nicht, sagt nichts. »Na also, sie schläft noch immer, das wird ihr gut tun!« glaubt Romeo zu denken. Er sucht erleichtert zu lächeln; er wendet sich auf dem Absatz, um auf den Fußspitzen das Zimmer wieder zu verlassen . . . »Du Hund, du elender, sie ist ja tot!« heult etwas in ihm auf. Er hält inne, das Herz klopft ihm zum Zerspringen. »Mutter!« ruft er unterdrückt, immer noch gegen die Tür gewandt. Er lauscht. »Mutter!« ruft er heiser noch einmal und stürzt zum Kopfende des Bettes hin.
Geisterhaft ruht der Kopf der Mutter in den Kissen.
Romeos Hand sucht tastend die Wand nach dem Lichtschalter ab. Licht flammt auf.
»Sie ist tot!!« hämmert es Romeo in den Schläfen. 252 Er ist keiner Bewegung fähig. Das Gesicht ein wenig zur Seite gewandt, wie zur Flucht nach der Tür hin, stieren seine Augen von der Seite auf den Kopf der Mutter hinab. »Sie ist tot . . .! Unsinn, ich bin verrückt, sie schläft!!« wirbeln die Gedanken durch sein Hirn.
Das Gesicht der Mutter ist nicht so wächsern wie in den letzten Tagen; es ist wohl sehr bleich, ist aber glätter beruhigter als vorher. Und doch ist etwas Fürchterliches Unheimliches Jenseitiges und . . . Feierliches in dem Gesicht. Die Mutter schläft . . . Nur das linke Auge steht mit einem ganz schmalen Spalt offen, und nur diese eine Gesichtshälfte erscheint Romeo tot; mehr tot als die andere. Das Kinn, die Unterlippe hängen herab, als wollten sie von dem übrigen Gesicht fortstreben, ins Nichts. Unheimliche rätselhafte Schatten liegen unter den Augen, auf den Wangen. Auch die Stirn der Mutter ist absonderlich. Groß und furchtgebietend. Sie schläft . . . Die Bettdecke ist bis zum Kinn heraufgezogen, als würde die Mutter frieren. Romeos Blick schleicht über die Decke hin, zum Fußende. Die Zehen des einen Fußes liegen bloß. Eine große knöcherne Zehe mit einem häßlichen Höcker . . . Unter dem Nagel ist sie schwärzlichgrau. Ist es Schmutz . . . oder sonst etwas . . . – Romeos Blick schleicht zum Gesicht der Mutter zurück. Es schwindelt ihm; er muß sich an den Bettpfosten klammern, um nicht umzusinken. Seine Hand tastet sich zur Wange der Mutter vor, berührt sie . . . – Er stößt einen dumpfen Angstlaut aus, wie ein Tier, tastet sich aus dem Zimmer, verläßt taumelnd die Wohnung. Er hält sich am Treppengeländer fest. 253 Mühsam steigt er Stufe für Stufe hinan. Seine Zähne schlagen wie im Schüttelfrost gegeneinander. »Emma! – Emma! Die Mutter!!« stöhnt er mit weit aufgerissenen Augen.
*
Vom Weinen halb blind, von Hitze und Frost geschüttelt, ohne klare Besinnung, doch von einem erbarmungslos klaren messerscharfen Schmerzgefühl in der Brust, in der Seele, dahingetrieben, irrt Yvett durch Straßen. Fremde Straßen . . . Ein Haus sieht wie das andere aus. Fremd kalt hämisch und abweisend. In der Luft aber, die lau und sehnsüchtig über diesen feindlichen trostlosen Straßen schwebt und auch die seltsam fernen Häuser umschmeichelt, ist die beklemmend süße tieftraurige Ahnung eines Frühlingsabends, ist der Geruch von Feldern und Wiesen, weit draußen vor der Stadt.
Ohne es zu merken, ist Yvett auf ihrem Weg schon zweimal durch Romeos Straße gekommen und blind an dem Haus, wo er wohnt, vorbeigehastet. Plötzlich sieht sie sich an der Tür Axel Kolbenstetters stehen. KOLBENSTETTER – liest sie mechanisch immer von neuem von einem alten verblaßten Emailschildchen ab. Sie steht da und sucht zu begreifen, was sie hier will. Nur einen dumpfen Drang fühlt sie in sich, die Glocke zu bewegen und einzutreten. Eine atemlose eisige und doch unendlich ruhige beruhigte Stille umgibt sie. »Um Sie wird es vielleicht schade sein . . .«, geht es ihr immer von neuem durch den Kopf. Der Blick zweier einsichtsvoller grauer abseitiger Augen hinter Brillengläsern begleitet ihn, 254 diesen Satz, vertieft Klang und Bedeutung der Worte. Ihre Hand will die Glocke berühren, da wird Yvett abermals von einem krampfartigen haltlosen Schluchzen gepackt. Ohne Besinnung stürzt sie, das nasse zerknitterte Taschentuch gegen die Lippen gepreßt, wieder auf die Straße.
Sie steigt eine breite teppichbelegte Treppe empor. Zweiundfünfzig Stufen . . . Die muß sie schon oft gegangen sein. Sie steht vor einer anderen fremden Tür. RUDOLF WINTERNITZ – liest sie, buchstabiert sie von einem edelrostfarbenen Kupferschild ab.
Ein Mädchen öffnet ihr. Pauline ist es, ganz richtig, Pauline . . . Warum Yvett plötzlich wieder an ein entsetzliches und doch wunderbar erregendes Bild denken muß, das lange Jahre, in vielen heimlichen Nacht- und Tagesstunden vor ihren Augen stand, das ihr in letzter Zeit aber – seltsam! – eigentlich nie mehr in den Sinn gekommen war: ein entblößter, schaurig entblößter rasender Trainsoldat und ein keuchendes Mädchen, ähnlich wie Pauline, in einem Kämmerchen . . . –
»Fräulein Yvett«, schlägt Paulines Stimme wie aus der Ferne an Yvetts Ohr. »Gehn Sie jetzt besser gar nicht hinein, ins Speisezimmer! Es hat einen riesigen Streit gegeben zwischen den Herrschaften. Wir in der Küche waren schon ganz verzweifelt. Die gnädige Frau ist jetzt in ihrem Zimmer, aber der Herr – –«
Sie verstummt. Eine Tür wird aufgerissen. Herr Winternitz tritt heraus, das Gesicht fahl, von Wut entstellt, die Stimme bis zur Unkenntlichkeit 255 verändert. »Du gehst augenblicklich auf dein Zimmer und erwartest mich dort!« stößt er wie mit Anstrengung hervor und tritt sogleich wieder ins Zimmer zurück. Schlägt die Tür hinter sich zu.
Yvett geht in ihr Zimmer, legt Hut und Mantel ab. »Seltsam«, denkt sie, »daß ich zittere. Daß in meiner Seele überhaupt noch Raum ist für ein Gefühl der Angst, noch dazu vor dem Vater. Kann mir denn noch Schlimmeres geschehn, als sich heute ohnehin schon ereignet hat? Kein Zweifel: die Eltern wissen bereits, daß ich am Nachmittag bei Romeo in der Wohnung war . . .«
Sie hört den Vater kommen. Hastig wischt sie mit dem Taschentuch über die Augen.
Bleich und fremd steht der Vater mitten im Zimmer. Wie ist er überhaupt hereingekommen? Er tritt ganz nahe an sie heran. Sie weicht zurück, denn sie will ihm den Weg freigeben, dem Vater . . . Er hebt die Faust.
Er läßt die Faust sinken. »Wo warst du – heute nachmittag?« Seine Stimme klingt heiser mißtönend atemlos. »Antworte!!« brüllt er und stampft mit dem Fuß. Die Augen treten beängstigend aus seinem erdfahlen Gesicht hervor.
Yvett muß sich am Nähtischchen festhalten; es flimmert ihr vor den Augen. »Bei der Schneiderin war ich«, entgegnet sie mit schwacher Stimme, ohne Hoffnung, daß der Vater es glauben könnte.
Im Gesicht des Vaters geistert ein Hoffnungsschimmer auf. »Bei welcher Schneiderin?« fragt er drohend.
»Bei . . . bei der Lachowsky«.
256 Der Vater fährt mit den Fingern über die Stirn. »Hat sie Telefon?«
»Nein.«
»Wo wohnt sie?« Der Vater zieht ein Notizbuch, einen Bleistift aus der Tasche.
»Sie wohnt . . . Schubertstraße dreizehn, dritter Stock.«
»Lachowsky soll sie heißen?«
»Ja.«
Der Vater läßt die Hand mit dem Notizbuch sinken. Hilflos, gequält irren seine Augen über Yvetts Gesicht. »Du warst dort?«
»Ja.«
»Warum hast du geweint?«
»Weil . . . weil ich bei der Prüfung heute abermals ein Nichtgenügend aus Geographie bekommen habe.«
»Deshalb?«
»Ja. Ich werde durchfallen.«
In die Wangen des Vaters kehrt die Farbe zurück, seine Augen nehmen einen kindisch-erleichterten Ausdruck an. Er macht eine Bewegung, als wollte er Yvetts Hand ergreifen, die schlaff hinabhängt. Plötzlich zieht er Yvett an seine Brust, schlingt beide Arme um sie, preßt sie an sich. »Du lügst nicht, Yvett, nicht wahr?!« stöhnt er. »Du warst bei der Schneiderin! Wirklich! Und aus keinem andern Grund hast du geweint! Nur weil du ein Nichtgenügend bekommen hast!«
Yvett schmiegt ihren Kopf an seine Brust. Es geschieht, so weit sie zurückdenken kann, zum ersten Mal, daß der Vater sie in die Arme schließt. Die 257 Tränen laufen ihr über die Wangen hinab. »Nein, Vater, aus keinem andern Grund hab ich geweint. Sei gut zu mir.«
Der Vater streichelt ihr das Haar. Auch er weint, doch in seinem Gesicht ist ein befreiter, maßlos erleichterter Ausdruck. »Na, weißt du, Yvett, mach dir nichts aus dem dummen Nichtgenügend. Wenn du willst, nehm ich dich schon jetzt aus der Schule heraus und du kannst in einem feinen Pensionat wohnen, weißt du? – in der Schweiz, oder sonst irgendwo, wo's dir eben gefällt. Wir werden uns doch nicht quälen und uns das Leben verbittern, nicht wahr, mit dieser blöden Schule! Ist es dir recht so, ja?«
Yvett nickt stumm, sie bringt nun keine Silbe mehr hervor. Der Vater küßt sie auf die Stirn, gibt sie frei. Wie gut er ist! So gut wie noch nie! Und wie weh es ihr tut, daß sie ihn so belügen muß, gerade heute!
Der Vater starrt auf das Notizbuch in seiner Hand. Ein Schatten von argwöhnischer Besorgnis kehrt in sein Gesicht zurück. »Du hast mich wirklich nicht angelogen, Yvett?« fragt er, weinerlich, und in seinen Augen irrlichtert von neuem die Angst. »Du –! Ich geh jetzt in die Schubertstraße und werde bei der Schneiderin nachfragen, Yvett!«
Yvett nickt zustimmend mit dem Kopf; anderes vermag sie nicht mehr zu tun. Sie muß sich setzen . . .
Noch eine Sekunde ruhen die Augen des Vaters – jetzt fast demütig, bettelnd – auf ihrem Gesicht. Dann wendet er sich rasch und geht zur Tür.
Um Yvetts Schläfen, um ihre Brust legt sich ein eisig-feuriger Ring. »Vater!« ruft sie, und ihr Herzschlag setzt aus.
258 Der Vater wendet sich heftig nach ihr um. Furcht dämmert in seinen aufgerissenen Augen. »Du hast . . . gelogen!« zischt er. Abermals wird sein Gesicht fahl wie die Erde.
»Ja.«
Ein gurgelnder Laut dringt aus seiner Kehle. Sein Gesicht verzerrt sich, tappend tritt er heran. Mit dem Fuß schleudert er das Tischchen beiseite – Yvett taumelt vom Stuhl auf -– zwei harte heftige Schläge treffen ihre Wangen. Yvett läßt sich zu Boden gleiten. Sie sitzt auf der Erde, die Beine, als fröre sie, eng an den Leib gezogen. Sie gibt keinen Laut von sich, sie schüttelt nur verneinend den Kopf. Und das immer von neuem. Unentwegt. Ihr Blick ist erloschen, ausdruckslos. Sie hört, wie der Vater das Zimmer verläßt, wie von außen der Schlüssel zweimal im Schloß herumgedreht wird – es klingt wie ganz weit von hier entfernt. Sie schüttelt verneinend den Kopf. Sie hört auf dem Korridor draußen einen kurzen Wortwechsel, unterscheidet die Stimme der Mutter und die des Vaters . . . Sie schüttelt den Kopf. Sie hört die Stimmen herankommen, erhebt sich, geht zum Fenster, öffnet es, schüttelt verneinend den Kopf, blickt auf die spätabendliche Straße hinab. »Ich werde mich nicht hinunterstürzen«, denkt sie, kopfschüttelnd, »nein, das darf ich nicht und will ich nicht tun. Meine Eltern sind gut, auch die Schläge des Vaters waren gut, und darum darf ich's nicht tun. Aber sehen sollen die Eltern, wie nah ich dem Selbstmord bin. Das ist keine Lüge, das ist wahr! Sobald sie ins Zimmer treten, werde ich tun, als würde ich mich hinunterstürzen wollen. Sie werden 259 mich im letzten Augenblick zurückreißen, werden mir verzeihn, und der Vater wird dann immer so lieb zu mir sein wie heute. Auch Romeo wird es erfahren, daß ich mich seinetwegen hab töten wollen, und auch er wird wieder lieb zu mir sein.«
Sie hört die erregten Stimmen der Eltern ganz nah an der Tür, hört, wie der Schlüssel hastig im Schloß herumgedreht wird. Kopfschüttelnd kriecht sie aufs Fensterbrett, richtet sich auf dem Fensterbrett in die Höhe. Mit beiden Händen hält sie sich am Vorhang fest. Kopfschüttelnd vernimmt sie in ihrem Rücken einen angstvollen Aufschrei der Mutter, einen warnenden Entsetzensruf des Vaters. »Jetzt werden sie mich zurückreißen«, denkt sie. Kopfschüttelnd neigt sie sich – der Vorhang hält sie doch! – ein wenig aus dem Fenster. »Damit die Eltern glauben, daß es mir ernst damit ist!« denkt sie. Da – –, sie stößt einen durchdringenden Schreckensruf aus – der Vorhang gibt nach, löst sich . . . sie sucht sich nach rückwärts zu werfen; unwiderstehlich reißt es sie vorwärts. Ein wildbewegtes feuriges Meer brandet vor ihren Augen – sie fällt, sie weiß, daß sie ins Bodenlose fällt, daß es das Ende ist.
Über ihr, wie eine wehende Flagge, fällt der Vorhang auf die Straße hinab.