Willy Seidel
Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Willy Seidel

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Herrn Zinkeisens eigene verwunderliche Geschichte

Der Musterkoffer

Wo steigt man in Singapore ab?

Natürlich im Adelphi-Hotel. Wiewohl viel englisches Publikum dort verkehrt, ist man als »Fremder« – als »Europäer« schlechthin – nicht ganz isoliert, da auch andere Leute dort anzutreffen sind, die nicht das beneidenswerte Glück haben, britisch zu sein. – Dorthin also ließ Herr Zinkeisen seinen großen Kabinenkoffer und seinen Musterkoffer schaffen; er war nicht das erstemal, verstehen Sie, in Singapore, und kannte auch genau die Trinkgelder. Fröhlich ließ er sein völlig ausreichendes Gebrauchs-Malaiisch erschallen und wählte sich an der Werft selbst seinen Rikschakuli aus.

Die ersten Tage seines diesjährigen Aufenthaltes (man zählte Mai 1914) waren der Aufnahme alter Geschäftsverbindungen gewidmet. Um vier Uhr nachmittags von den Boys angemeldet, zeigte er sich in einer adretten Aufmachung, die nicht zu überbieten war, im Rahmen der hölzernen Verschläge, der tropischen »Empfangsräumchen«, im Hof des Hotels. Ebenso stämmig und seifig duftend erschien er auf den Wandelgängen des ersten und zweiten Stockes (durch deren Bögen man hindurch eine Aussicht auf den Platz der St. Andrews-Kathedrale genießt) und klopfte diskret in Kopfhöhe an den Klapptürchen. – Gewöhnlich war das Echo seines Erscheinens zunächst ein langgezogener Fluch; hierauf ächzte es noch, räusperte sich und spie Tabak, und endlich tönte eine gottergebene Stimme: »Come in...«

Ging Herr Zinkeisen dann wieder, so hatte er gewöhnlich die Herzen gewonnen oder doch zum mindesten den Humor dieser vertrackten Burschen, wie er die Engländer nannte, in Schwingung versetzt. Dies zeigte sich darin, daß eine grinsende Figur im Schlafanzug ihm gewöhnlich persönlich die Klapptür öffnete und ihn hinausgeleitete. Im übrigen schonten sie seine Würde nicht, die Engländer, beileibe nein. Sein Korrektheitsnerv hatte eine ziemliche Anzahl von Malen Gelegenheit, schmerzhaft zu zucken; und auf die geistigen Hühneraugen ihm zu treten, das liebten sie geradezu. – Aber wie schon angedeutet, nahm er das als Märtyrer des Völkerverständnisses schweigend entgegen, wie Schulterklapse des Schicksals selbst.

Daß er Edmund hieß, hatten sie herausgefunden. Folglich war er für sie »Parademarsch« oder »Goose-step-Eddy«. Witterten sie ihn in der Nähe – (saßen sie etwa in der Halle drunten und er erschien am Kopf der Treppe), so flüsterten sie an ihren Pfeifenmundstücken vorbei: »There ›floats‹ Goose-step-Eddy...«, über welchen Wortwitz sie sich lautlos amüsierten. – Inzwischen »schwebte« Zinkeisen herab; das heißt, er kam, indem er seinem Bürstchen selbstvergessen gezwirbelten Aufschwung zu geben versuchte, steif die Stufen herabgewandelt und durchquerte die Halle mit strammem Schwengelwerk kurzer Beine in bretthart gestärkten Leinenhosen, – leuchtend weiß, im übrigen von rosiger Appetitlichkeit. In kleiner Entfernung hinter ihm drein keuchte der Boy, der den klirrenden Musterkoffer trug. Leise so von Klirren begleitet, schönste Verklärung seines Typs, zog er blendend am Horizont vorbei.

Bei den Tischen angelangt, in deren Korbsessel die Engländer sich flegelten (die in Khaki oder in Putties steckenden Beine aufeinandergeschichtet oder durch Stuhllehnen oder Tischkanten in Schwebe erhalten), so machte er eine verbindliche Kopfneigung nach ihrer Richtung, lebhaft lächelnd, und sagte scharf: »Evening, gents«, worauf sie die hölzernen Finger an die Schläfen schoben und im Chor zurücksangen: »How d'ye do, Eddy.« – Es kam vor, daß er an ihren Nachmittagsgelagen teilnahm; es kam vor, daß er so recht eigentlich einer der Ihren sein durfte; daß sie ihn traktierten und sich von ihm traktieren ließen; daß sie ihn auf die Schulter schlugen und ihn »jolly good sport« nannten. – Das waren seine Höhepunkte, wenn er sich auch zuweilen bei ihren respektlosen Späßen innerlich krümmte. Das mußte eben in Kauf genommen werden.

Er hatte dann gewöhnlich, gleichsam zur Erholung nach dieser Anstrengung, noch eine zwanglose Unterhaltung mit dem irischen Buchhalter Maloney. Diesem gegenüber fühlte er sich ziemlich ungebunden. Schwebten ihm die Engländer als höhere Daseinsform vor, so erschien ihm Maloney, als in abhängiger Stellung und als Kelte, wie prickelndes Sodawasser, womit er den scharfen Brand der britischen Originalfüllung mildernd löste. – Und Maloney, gute Seele, nahm ihn blutig ernst und sparte nicht mit gutem Ratschlag sowohl Behandlung der Herrenmenschen betreffend als auch die Erholungsmöglichkeiten in dieser äußerst bunten orientalischen Stadt.

– – – Die Zenitsonne, die unbarmherzig ihre zwölf Stunden hindurch den dampfenden Hafen bestrahlt, geht zu Rüste. Steil hat sie ihre Lichtwellen herabgetrieben und alles in einen Brodem von Staub und Gerüchen gehüllt. Ebenso steil aufstrebend hat ihr das Leben Widerpart geboten mit dem leuchtenden Trotzdem, das aus Grundwassern sein Mark saugt. Doch auf dem Europäer lastet die funkelnde Faust wie ein Fluch. In kühle Steinhäuser verkriecht er sich; ins Dämmerlicht abgeblendeter Kontore; nur unersättliche Erwerbsgier vergewaltigt die matten Finger an Schreibmaschinen, zwingt das Hirn zum Kalkulieren und die widerwilligen Lippen zum Sprechen.

Nun ist das vorüber. Es geht gegen halb sieben Uhr. Die Sonne sinkt steil in den Westen: eine ungeheure, zerfetzte Orange, die langsam herabsackt, von einer Armee von Wölkchen belagert und verschlungen. Der Südwestmonsun hat sie regimenterweise aufgereiht, hat rhythmisch zum Sturm geblasen: nun kleben sie, unter seiner Peitsche erstarrt, als rillenartig gemusterter Fächer an einer Wand von Türkis. Und dieser Fächer glüht immer intensiver orangefarben; er schillert ins Rostbraun hinüber. und das grüne Blau weicht einem gleichmäßig bengalischen Gelb, vor dem alle Dinge sich schwärzen.

Dies ist nun so: alles Volk wird munter, wenn der Sonnenfluch erlischt. Endloses Gekrabbel und Geschrei erwacht in den Höhlen der Chinesen- und Malaienstadt, unter den Arkaden der blau und rot getünchten Häuser. Die Bazarbesitzer schöpfen Mut, und ihre schmeichelnden Plauderstimmen werden laut. Glücksspiele rasseln, Singsang durchwebt den Lärm. Der Staub setzt sich; Rikschas rollen. Farbig erwacht das Laster, mit roten Zähnen lächelnd, und geht, nacktfüßig tastend, vorgeschobenen Leibes, seine Bahn . . . Und überall brutzeln fahrende Garküchen.

Auch die Europäer werden munter und atmen auf. Denn diese Abendstunden sind die wahrhaft erträglichen, in denen man wieder Mensch wird; eine kühle Brise weht. Mit dem Sonnenuntergang fällt das Thermometer sprunghaft um sechs Grad . . . Noch ist es warm; aber der plötzliche Fall bewirkt ein rapides Verdunsten des Schweißes auf lechzender Haut, so daß man noch dazu nach einer Dusche ganz in wohlige Kühle gepackt ist.

Ist es schwarze Nacht (und keine Nacht ist so schwarz wie die Tropennacht, von silbernen, lichtschwachen Sternen durchstochen), so sitzt man auf der Terrasse und lauscht einer Kapelle von malaiischen oder Halfcast-Musikanten, die europäische Musik, wie sie's verstehen, vom Blatt spielen . . . Am besten gelingen ihnen noch bekannte Schlager. Verirren sie sich aber in »klassische« Musik, so verschwimmen sie in nie gekannten Rhythmen. Es ist, als ersticke man vertraute Klänge unter schwülem Tuch. Oder als lasse man die Weisen bei erschöpfter Grammophonfeder langsam krepieren. Wagners forsche Sinnenfreude wird zum quiekenden Chaos, und aus dem Klangkörper wird ein Klangkadaver, der sich dumpf zersetzt.

Und doch wird diese östliche Kränkelei, an der die Musik leidet, zu einer neuen Wollust – wenigstens für Herrn Zinkeisen. (Denn die Engländer nehmen, unmusikalisches Gelichter, tiefernst Notiz davon, als von gutgemeintem Begleitgeräusch zu ihren phantasielosen, silbenarmen Gesprächen.) Mit Zinkeisen steht es nämlich umgekehrt: den Tag über ist er munter und abends lässig träumerisch. Die Zenitsonne hat auf ihn den Effekt wie auf die Fische, die er draußen am Kalang oft freundlich betrachtet, wenn man sie füttert. Vor Gier in Schichten sich überstrudelnd, erzeugten sie eine wahrhaftige Brandung. – So erweckte der Sonnenpfeil in ihm zappelnde Lebendigkeit und war der Entladung seiner Energien nicht dämpfend schädlich, sondern im Gegenteil günstig. Von der schauerlichen Straffheit, die ihn mittags beseelte, wußten seine Kunden, die wie tote Fliegen umherlagen, ein Liedchen zu singen. Es war nicht ausschließlich nur der frische Geschäftswind wilhelminischer Energie, der durch die stagnierende britische Atmosphäre fuhr, sondern Zinkeisens persönliche Frische . . . eine fluchenswerte Frische, die keine Kompromisse kannte . . . Und mit der Wichtigtuerei, von der er besessen war wie ein hastendes Insekt, ärgerte er alle Welt bis zum Weinen. – Dann, wenn es kühl wurde, wenn er sich hätte gehen lassen dürfen, wenn jedermann es ihm verziehen hätte, daß er sich laut austobte. – – ja, dann machte er es gerade umgekehrt als seine Umgebung; er »baute ab«. Saß schlaff und träumte. Wurde weich und schweigsam. Innig gleichsam. So wenigstens sah es aus.

In Wahrheit war es etwas anderes. Zu seinem Gefühl tagsüber restlos erfüllter Pflicht trat allabendlich ein seine ganze Person derart durchtränkendes Selbstbewußtsein, daß er mit Mühe an sich hielt, um nicht keck zu werden. Er hatte Geld in der Tasche, war ein unabhängiger Mann. Weißer war er, Europäer im weitesten Sinn, der die farbige Stadt in die Tasche steckte. Auf einmal kamen die Engländer nur noch als Auch-Europäer in Betracht. Unter diesem Gesichtspunkt blähte sich abends, was klein war, und schrumpften die Tagesgötter. Man geriet aufs gleiche Niveau und stand, sofern man weiß war, hübsch in Reih und Glied. Dann wurde das trocken gehaltene Pulver von Potsdam bündig gegen den Union-Jack gesetzt . . . Schach gegen Schach. Dann verschwanden die feineren Unterschiede; man war eine geschlossene Front und bot dem Osten Trotz. In diesen verträumten Völkerbund, der im Hirn Zinkeisens nistete, wurde aus dem Süden nur noch Mijnheer hineinbezogen . . . Dann, nach Verschweißung dieses Trios, war Schluß.

Kein Wunder, daß »Eddy« sich abends auch am natürlichsten benahm. Da gab es kein geschmeicheltes Aufzucken mehr unter einem Schulterklaps. Er lebte und ließ leben.

 

Am Vorabend des Tages, an dem sein Schiff nach Bangkok ging, um ihn nach einigen Stationen in Vorderindien der deutschen Heimat wieder zuzutragen, speiste er noch mit einem besonderen Genuß auf der Gartenterrasse des Adelphi. Er hatte guten Grund, mit den Ergebnissen seiner Tätigkeit zufrieden zu sein.

In seiner Nähe saß ein junger Beamter, dem man ansah, daß er zur Garnison gehörte. Seine blauen Augen wirkten in der satten Bronzefarbe seiner Züge, unter der falterumtaumelten Bogenflamme, schier lila. Er war sehr schlank und groß; ein Prachtexemplar. Jede seiner Bewegungen verriet, daß er seinen Körper unablässig trainierte. Vermutlich war er als Hafenbauingenieur bei den Pionieren tätig; dies war die Kompagnie, an die die radikalsten körperlichen Anforderungen ergingen. Er schien im Alter des Betrachters, beiläufig siebenundzwanzig Jahre alt.

Geräuschvolle Lustigkeit herrschte an jenem Tisch; offenbar wurde ein Geburtstag gefeiert. Major Prendergast (diesen Namen entnahm Zinkeisen ohne Mühe dem Gespräch) schien jedoch nur gezwungenerweise mitzumachen. Er stützte mehrmals seine Stirn in die Hand, an der, wie ein Blutstropfen, ein Siegelring mit einem großen Karneol blinkte. Angeprostet, riß er sich zusammen und mimte den Fröhlichen; es war erstaunlich, welche Quantitäten von Alkohol er zu sich nahm ohne sichtbare Wirkung.

Zinkeisen spürte eine gewisse Sympathie für diesen Mann, ohne genau bei sich zu erforschen, weshalb. Er ließ sich nur von seiner träumerischen Paschastimmung ins Grenzenlose dahinschwemmen, und so mochte ihm eine Art von Allgefühl, eine brüderliche Tendenz zum allgemein Menschlichen, unterlaufen . . . Dies Empfinden wurde leis materiell unterstrichen durch das aristokratische Äußere des jungen Majors, durch die gewissermaßen hilflose Partie seines schmalen, eckig vorgeschobenen Kiefers, gepreßten Mundes. ausladenden Hinterkopfes. – – – Ja, dieser war eindeutig genug behaftet mit Symptomen einer Herrenrasse, und zweifellos erwartete alle Welt, daß er sich entsprechend benehme. Irgendwie war es tragisch, so abgestempelt zu sein –, aber erhebend zugleich. Vor so etwas Abgerundetem mußte man den Hut ziehen.

Herr Zinkeisen ließ sich durch seine Stimmung hinreißen, sein Augenmerk auf die Gruppe etwas zu deutlich zu richten – den Kopf, wie er's selten tat, schief geneigt, so daß der scharfkantige Kragenrand tief in die Halshaut schnitt und die sanfte Strenge seiner Augen durch Güte gemildert wurde. Man ertappte ihn dabei. »Hello, Eddy!« rief man. – »Here 's to you!«

Alle am Tisch wandten die Köpfe und hoben die hohen zylindrischen Gläser; man rief noch weiter Nettes, schüttelte dann gurgelnd das Getränk hinunter; Sodabläschen platzten an rasierten Lippen; dunkle und graue Augen feuchteten sich . . . Herr Zinkeisen fuhr zusammen, sagte: »Same to you, gentlemen«, und trank seinerseits. Nicht ohne kleinen Mißton in der Seele erwischte er sich dabei, daß er die Hacken seiner ausgeschnittenen Lackschuhe klappend unter dem Tisch zusammenschießen ließ. Den Sperberblick auf die Gesellschaft gerichtet. tat er gewaltige Züge; dann stemmte er mit rechtwinklig geknicktem, wagrecht zur Seite gestoßenem Ellenbogen das Glas eine Sekunde in die Luft, vor seine Nase, bevor er es knallend niedersetzte.

Man genoß diese unbewußte Geste außerordentlich. – »Good pull, eh!« rief man hinüber, voll gedämpfter Anerkennung. – Mr. Prendergast nahm ebenfalls Notiz, jedoch auf eine so unbeteiligte Weise, daß man sofort erriet, seine Gedanken seien durchaus nicht auf den strammen kleinen Deutschen gerichtet, sondern auf wesentlich Bedeutsameres. Wenigstens war Herr Zinkeisen für ihn aus Glas. Vielleicht aber war der Major nur sehr betrunken, bei völliger Beherrschung seiner Bewegungen. – Auf einmal, gänzlich unvermittelt, rüstete er zum Gehen.

»Come on«, rief man hinter ihm drein, und noch einiges des Inhaltes, er solle seinen Gram versaufen und sich nicht närrisch aufführen; so ein Kerl wie er hätte tausend andere Möglichkeiten, und was solcher herzhaften Zurufe noch mehr waren . . . aus denen Herr Zinkeisen vielleicht nicht mit Unrecht schloß, der junge Mann leide an Liebesgram. Da er keine Lust hatte, sich ein neues Glas zu bestellen, unterschrieb er den Quittungszettel für die genossene Mahlzeit und beschloß, sich noch zu verlustieren.

Kulis und Opera Stamboel

Er stand in der Halle. Die Lichtflut des Hotels fiel über die Coleman Street und badete noch, an der langgestreckten Mauer der Esplanade, unter den staubigen Schirmkronen der Banjanbäume eine lange Kette feiernder Rikschas. Die wenigen Kulis, die zugegen waren, hockten zwischen ihren Handdeichseln und kauten aus Kokosschalen ihre Bohnen- und Reisgerichte, die sie sich, auf Blättern serviert, von den fahrenden Küchen hinter dem Hotel geholt. Einige rauchten in Stellungen äußerster Erschöpfung, die eckigen mageren Glieder gespreizt, und starrten unter ihrem verfilztem Zottelhaar hervor in die ihnen ewig verschlossene Lichtwelt des Hotels, wo sich weiße Gestalten nach geheimnisvollen Riten bewegten . . .

Aus der Marmorhalle trittst du, aus durchaus vertrauter Welt, und plötzlich (ins selbe grelle Licht geschoben das du dir zur Beleuchtung der eigenen schweratmenden schweißfeuchten Person, zur Illuminierung deiner nichtssagenden vergänglichen Gesten entfacht hattest) liegt ein Gesicht vor dir auf einer Rikschadeichsel; ein Gesicht aus Nacht; aus braunpoliertem Holz mit schiefen, schwarzen Augen, die dich mustern . . . Rattenaugen sind's, ewig lebendige, die dich einfangen, abgrasen und verdauen wollen; in ihrem Pechglanz kann der Hoffnungsfunken, dich einmal auch verstehen zu dürfen, statt dich ewig hassen zu müssen, nie erlöschen . . .

Die korbähnlichen geflochtenen Hüte haben sie abgetan, die Kulis. Auf ihren metallnen, sehnigen Körpern, die nach wenigen Jahren endgültig verbraucht sind, wie die unmäßig beanspruchter Jagdhunde, ruht die jahrtausendalte Sklaverei. – Stimmt etwas mehr zur Ehrfurcht, als ein älterer Rikschakuli? »Seht her«, sagt er mit seinem ölig glänzenden, zu zerknittertem Pergament gedörrten Gesicht, und sein Mund zeigt lächelnd pechschwarze Zähne: »Seht mich an! Beide Hände breite ich gespreizt auf den Boden; tretet auf mich!«

Uralt, in dunklen Stein geritzt, sind die Sorgenfalten atavistischen Sklaventums, diese Runen aus tauber Barbarei . . . Zugtier ist er. Noch immer beugt er den Nacken unter das Joch. Seine Waden, seine Schenkel sind aus Hartholz. Es tut nicht gut, den heißen Puls zu sehen an seinen Flanken und sich dabei zu erinnern, daß dies ein Mensch ist. Warum erwählte er dies Schicksal? Ein Muß treibt ihn, älter als das Gedächtnis jeder Kultur. Doch seine Mitkantonesen, aus Sumatra, verhüllen die Augen mit dem Ärmel, um nicht sehen zu müssen, daß einer der Ihren noch Tier ist.

Doch wir wollen beileibe nicht sentimental werden; unser Freund Zinkeisen war natürlich verschont von solchen Phantasien und ähnlichem Firlefanz. Er nahm diese Chinesen als das was sie bezweckten: als Menschen, die einen anderen Menschen kraft dessen weiter vorgeschrittener Gottähnlichkeit stundenlang im Dauerlauf über heißen Asphalt zerrten. Schon allein der bloße Vorsatz zu solcher Leistung hätte manchen Europäer tot zusammenbrechen lassen. Zinkeisen spürte nur ein mildes Erstaunen über die Vielseitigkeit des Geldverdienens und beschied sich mit der Erkenntnis, daß diejenigen Kulis, die Rikschas zogen, nur eine Abart seien der übrigen Kulis, die es sonst noch auf der Welt gab, wie zum Beispiel (und er schnalzte bedauernd mit der Zunge) der Grubenarbeiter, Glasbläser oder . . . Kellner . . .

Soweit drang er vor; dann erstickte er in sich dieses Argument.

Als er vor das Hotel trat, handelte es sich für jene Kerle darum, wer das Rennen zum weißen Herrn hinüber machte. Sie fuhren rumpelnd empor und verhedderten sich mit den Deichselstangen. Es bildete sich ein Klumpen, von dem ekstatisch eifersüchtiges Geschrei stieg. Ein älterer Mann, eine Erscheinung von ruhigem Fatalismus, profitierte von dem Zank, und Herr Zinkeisen saß bereits in dem buntbemalten, schlecht federnden Gefährt, bevor die anderen sich geeinigt hatten. Der Hüne vor ihm setzte sich in Trab, und hinter ihm verklang schluchzend der Aufschrei der Enttäuschten . . .

Billig ist, so umherzurollen, und königlich zugleich. Würdenträger früherer Zeiten, in Sänften schwebend, müssen Ähnliches empfunden haben. Die sehr hohen Räder sind leicht gebaut und springen elastisch über kleine Hindernisse; zudem ist die Straße von Myriaden nackter Sohlen geplättet.

Das Rikscha bog rechts ein und verfolgte die North Bridge Road. Eine Weile ging es an Kaufhäusern und europäischen Auslagen vorbei; der Kuli wurmte seinen Weg durch ein Gewimmel von offenen Hackney-Droschken und dumpf grollenden, lautlos vorbeifedernden Autos, die sich auf der Orchard Road in die Kühle der Hügel begraben wollten. Doch unseres Abenteurers Sinn stand heute nicht nach der sausenden Erfrischung der Meeresstraßen oder der in endlose Palmen- und Gummihaine gebetteten Villenstadt, sondern er sehnte sich nach einem intimeren Vergnügen; nach Geschrei, Buntheit, Betrieb. Wochen von Wasser standen ihm ohnedies bevor, und er wollte noch einmal eine kräftige Prise aus der Atmosphäre nehmen.

Der Wind hauchte feuchtwarme Atemstöße durch die Geschäftswimpel, die leise klatschend krause Charaktere in spärlichen Bogenflammen aufblitzen ließen. Dann war es eine Weile dunkler; rote Glaslichter blinkten, Kokosölfunzeln und Kerzen. Vor ihm her zog das schnappende Jagdhundkeuchen des Kulis. – Da sah er vor sich, als verschwommen schwärenden Fleck aus vielen Farben, als Lichtloch voller bewegter Silhouetten, einen Platz, der von transparentem Schriftband dumpf bestrahlt wurde. »City Opera« stand darauf. Er gewahrt, unter schwarzen Palmenwedeln, ein langgestrecktes, scheunenähnliches Gebäude unter einem Blechdach.

An der Kasse erlegte er den Preis für den ersten Platz: einen Straits-Dollar in Gestalt einer purpurnen kleinen Banknote, und erhielt einen Programmzettel. Der Aufseher, ein x-beinig umherwatschelnder Chinese in zu prallem, schmutzigem Leinenanzug, geleitete ihn zu einem der vordersten Holzverschläge, die man Logen nannte. Sein Name war Ayope: dies wenigstens stellte Herr Zinkeisen mit hanseatischer Gründlichkeit fest. Er betrachtete amüsiert, wie Ayope den Strom zu klassifizieren und in die richtigen Bankreihen abzulenken wußte. Zuweilen kam ein Weißer, dem zuliebe das farbige Publikum mit rätselhaftem Ausdruck eine breite Gasse öffnete. Die »Logen« füllten sich mit Europäern verschiedenster Sorte, Matrosen, Artilleriesoldaten auf Urlaub vom Fort Canning, ehrenwerten Kaufleuten oder unrasierten Opportunisten. Hinter dieser weißen Schicht kamen die chinesischen Familien; sie beherrschten das Bild; auch auf den erhöhten Seitengalerien erblickte man, wie auf Schnüren aufgereiht, ihre meerschaumhellen, glatten Gesichter. Damen waren in jedem Alter da. Die pechschwarzen Haare, von schöngewölbten Stirnen zurückgekämmt, waren von Diamanten besprengt. Feiste Matronen in spitzenbesetzten Jacken ließen bei Kopfdrehungen auf faltigen Hälsen an herabgezerrten, mächtigen Ohrlappen die silbernen, tellergroßen Pflöcke pendeln, von deren Knöpfen mächtige Brillanten in Rosenschliff blaue Blitze schossen. Dabei waren sie noch inkrustiert an Fingern und Pantoffeln. Gelb und verdrossen, mit geschwollenen Lidern, zerkauten sie Süßigkeiten aus Lackschachteln und keiften leise untereinander. Die Jungfrauen, wie ein tuschelndes, weißes Tulpenbeet im Morgentau, saßen mit ihren steilen kleinen Brüsten und ihren erstaunten, pinselfeinen Brauen leblos wie Bilder. Jünglinge lachten gurrend, Capstan-Zigaretten rauchend, und ihre beerenschwarzen Augen folgten kindlich vergnügt dem Vorgang auf der Bühne.

Hinter dieser reichen Schicht des Reiches der Mitte begann dasjenige Publikum, das dem Theater den Namen gab: das Malaienvolk . . . Und ganz im schwarzen Hintergrund, nicht einmal mehr einer Bank teilhaftig, standen oder hockten die Ärmsten der Armen: die Kulis.

Das Stück lief schon geraume Zeit. Doch es ist das Wesen solcher Dramen, daß sie, wie das Leben selbst, an jeder beliebigen Phase neu beginnen . . . Eine äußerst dünne, waghalsig unwahrscheinliche Handlung rinnt unter den Szenen. Herr Zinkeisen hatte sich etwas ganz Phantastisches erträumt und war darauf erpicht, auf seine Kosten zu kommen. »Wo ist der Osten?« dachte er bei sich und blickte streng und mißbilligend nach der Bühne. In Gedanken pochte er dabei auf seinen Singapore-Dollar . . .

Aber er sollte dauernd enttäuscht bleiben. Was er mit seinen blauen, ehrlichen Hamburger Augen wahrnahm, war letzte europäische Schmiere. Man enthielt ihm ein großes Erlebnis vor; das war sicher. Dumpf schwebte ihm der Komplex etwa eines schwierig zu frequentierenden, sehr ungewöhnlichen Freudenhauses vor . . . Irgendwo in seiner Seele hatte ein Sechzehnjähriger schneidig-bang ein Abenteuer gesucht und wurde nun mit Zungenschnalzen abgespeist, statt mit schwülen Erfüllungen . . .

Er sah, was er in einem Varieté dritten Ranges seiner Vaterstadt auch gesehen hätte, oder im Zelt einer bankerotten, wandernden Theatertruppe, die um die Gunst der tiefsten Provinz buhlt. Sonst nichts . . . denn von Hergang und Dialogen verstand er nichts, trotz des in schlechtem Englisch abgefaßten Programmzettels, der den Vorgang schwungvoll beschrieb.

Es war das Motiv einer Opera Buffa; das Schicksal zweier Clowns. Baktom und Baktim, die durch ein Dschungel von Mißverständnissen stolperten, und ein Publikum von Würdenträgern, Sultanen, Damen, Räubern und Soldaten in das heikelste Durcheinander stürzten. Sie gaben diesen Herrschaften mächtig zu tun durch ihre Proteusnaturen; ja selbst ein pompöser Richter streckte vor ihnen die Waffen. Atemraubend jonglierten sie mit Tugend und Laster, so daß man am Schluß nicht mehr wußte, wer von beiden, Baktom oder Baktim, das eigentliche Karnickel sei. Bis zuletzt (doch dies erlebte Herr Zinkeisen nicht mehr bei vollem Bewußtsein; er nahm es nur mit Hilfe der letzten Bemerkung des Zettels wenig erschüttert zu Kenntnis) – ein Zauberer durch erstaunlichste Hellseherei die Verwirrung all der Märchengrößen spielend löste.

Wie man sieht: eine kindliche Angelegenheit. – Und Herr Zinkeisen war deshalb gelangweilt, weil er das zeitlose Empfinden nicht kannte, dem man hier frönte. Auch fehlte seiner gewiß tüchtigen Halbbildung der Blick für das Absonderliche, das Bedeutsame.

Jemand »fällt aus dem Rahmen«

Dieses Europa, das man hier erlebte, war zu den Malaien gedrungen auf dem Weg über Stambul, vermittelt durch den völkerverknüpfenden Islam . . . Es war ein von den Türken neu verdautes und ihrer Auffassung anbequemtes Plüsch- und Stuck-Europa trübster Observanz. Diese Kostüme waren rührend getreue Kopien von muffigen, aussortierten Mimengarderoben; dies Milieu stank nach Schminke und dem ranzigen Öl einer Romantik, die bereits begann sich zu zersetzen; die »eiserne Regie« geworden war. Und diese ganze Puffärmel-, Sammet- und Sprechgesangpracht verstaubter Spielopern war als Ganzes, als köstlich Fremdes, als Originelles um 1890 hier gelandet, hatte hier Wurzeln geschlagen und war aufgesogen worden, weil dies liebenswerte, kindliche Volk das Märchen forderte, um nicht durch den übrigen westlichen Schundexport hoffnungslos zu verarmen . . . Und die indonesischen Fürstenhöfe adoptierten es brünstig, und dasselbe tat die Schaubühne, auch die des klugen Chinesen Ayope, und bot »Fortschrittliches« . . . So stehen diese nußbraunen Menschen da, in den Angstpanzern ihrer Kostüme, asthmatisch auf ihre Würde bedacht im heißen Lüftchen der Popularität. Daß sie in drolliger Prostitution eine längst verklungene Ausstattung mit sich herumschleppen, ist ihnen gänzlich unbewußt. Moissi, in tönendster Schwellung seines Selbst . . . Was ist seine nüstern-krause Hamletgeste gegen jenen dunklen Prinzen dort, gegen dessen starrgeknicktes Trikotbein, fingerschnalzende Verachtung? Gegen jenes Mittelding zwischen Scheffel-Trompeter und östlichem Nabob, gegen den im Falsett oder vibrierendem Baß dahinrollenden Rampentriumph des »Wajang Malayu?«

Zwischen den Szenen gab es Musikpausen, und dann lauschte Herr Zinkeisen auf. Ein unbedenkliches »Orchester« spielte Schlager, die gut und gern die Geburt des Grammophons erlebt hatten. – Und dann wurde auf einmal wieder alles äußerst indisch. Zwei kleine Mädchen traten auf. Sie sangen mit hellen Diskantstimmen in grellen Quinten, die Puppen. Sie hatten große, prachtvolle Augen mit enormen Wimpern; aus Email waren diese Augen, kam es Herrn Zinkeisen vor; es waren eindeutig der Sphäre des Geschlechts gewidmete Blicke, die sie aus diesen rollenden Leuchtkugeln sprühten. Herrjeh, mußte er denken; war das toll! Sie sahen ihn direkt an; sie faßten sich an den Händen und plärrten mit Sonntagsschulstimmen, glas-schrill und begeistert, etwas ausbündig Unanständiges, Skrupelloses . . . Auf malaiisch leider; seine Grammatik versagte. Kaum acht Jahre alt waren die Dinger, und deshalb war es auch tief erheiternd, daß sie die Hüftbewegungen und Koketterien der Älteren, Reiferen, Runderen, die vor ihnen aufgetreten, so vollendet beherrschten . . . Ihre halbreifen Becken rollten, ihre silbernen Armreifen baumelten und klirrten: Zin zin . . . Zwischen den Kulissen zeigten sich winkend fette Arme und starkbemalte Gesichter, ermunternd zischend; das waren die »Misses Esah, Enam und Sadiah«. – Ein mechanisches Klavier stolperte unrein hinter dem Gesang drein. Glucksende Heiterkeit trieb durch den Raum, unter einem Aufglitzern der Steine in Parkett und Galerie. »Ejah!! – Ejah!!« riefen die jungen Kaufmannsdamen und schüttelten applaudierend die Köpfe . . .

In diesem Moment löste der sprunghafte Südwestmonsum, der um diese geschützte, zeitlose Menscheninsel draußen geschäftig war, ein Gewitter aus.

Zur Begleitung des mechanischen Klaviers geschahen klirrende Donnerschläge, während derer die vorsintflutlichen Kohlenfäden der Rampenbirnen leicht zuckten. – Das war man gewohnt; ebenso, daß gleich darauf das ganze Theater im Meeresgrund versank. Unaufhörliches, sausendes, ins Maßlose schwellendes Zischen geschah und wuchs in ein gleichmäßiges Gedröhn hinein. Das Kreischen der gepuderten Kinder wurde kleiner und piepsiger. Und das Schwatzen der rauchenden, plaudernden, kauenden Menge sank unter einen Schleier.

Nun bemerkte Herr Zinkeisen, daß der junge Engländer, der vorhin seinen Tisch auf der Estrade im Adelphi melancholisch-unwirsch verlassen hatte, in einer der nächsten Bankreihen hinter seiner Loge saß. Vorsichtig spähend (um kein Aufsehen zu erregen) stellte er fest, daß der Major Prendergast sinnlos betrunken war. Da man zum größten Teil unter höflichen Eingeborenen war, schien niemand davon Notiz zu nehmen. Und doch war es unangenehm, störend im höchsten Grade für Herrn Zinkeisens Stimmung. Während er sich wieder umdrehte, fuhr er fort, sich mit dem Bild, das er eben wahrnehmen mußte, grollend zu beschäftigen.

Mr. Prendergast war nämlich (in zwei Abständen; – doch dies mußte der Natur der Sache nach wohl immer wiederholt werden) auf seinem Sitz nach vorn gefallen; hatte, sein rührend eckiges Kinn gelockert, Sorgenfalten auf der schmalen Stirn, den Körper einfach gleiten lassen. Wie ein Rohr im Winde schwankte er, wie eine Sache aus Gelee. Es fehlte ihm nicht an hilfreichen Zugriffen. Das Peinliche daran war nur, daß dieser nicht von einem Kameraden, sondern von zwei Söhnen des Reiches der Mitte besorgt wurde; das halb Tröstliche, daß es sehr sauber gekleidete Herren waren. Der eine nahm dem Major, wenn dessen Kopf nach vorn sackte, jedesmal behutsam die Zigarette aus dem Mund und steckte sie ihm geschickt wieder zwischen die Zähne. Der andere regulierte nach Bedarf das Gleichgewicht. Alles in allem war die Tatsache nicht abzuleugnen, daß der Engländer eine äußerst undankbare und unkleidsame Rolle spielte.

Der Anblick paßte in Herrn Zinkeisens Weltbild nicht hinein. Das war auch der Grund, warum er sich so ärgerte, trotzdem es ihn gar nichts anging. Hier saß ein Herrenmensch im Smoking und machte sich gemein mit betulichen Chinesen, die vielleicht nicht einmal eine Photographie ihrer eigenen Väter besaßen, geschweige denn Ahnentafeln; die vielleicht Läden im Brückenviertel unterhielten, bestenfalls Kommissionäre waren für den Verschleiß amerikanischer Automobile, oder Gummischmuggler . . . Aber es wäre noch nicht einmal nötig gewesen, daß der Major sich vor den nervösen Blicken eines farbigen Publikums mit ihnen anbiederte. Was Herrn Zinkeisen in die Seele hinein beunruhigte, war sein Zustand. Liebesgram hin und her . . . So betrank man sich einfach nicht.

Der Betrachter sandte einen traurig strengen Blick nach der unverantwortlichen Gruppe. Er war nicht der einzige aus der Europäerschicht, dem sie auffiel. Die beiden hilfreichen Gelben spürten das. Offenbar empfanden sie, daß man dem Major eine Gefälligkeit erweise, wenn man ihn fortschaffe. So verließ dieser denn in enger Fühlung mit ihnen, und leidlich beherrscht (wie Zinkeisen mit Erleichterung wahrnahm) annähernd in gerader Linie den Schauplatz. Das kleine Intermezzo wurde dann auch von dem Interesse verschlungen, das neu für die Vorgänge auf der Bühne erwachte. Der Regen dröhnte unablässig weiter. Es war nicht sicher, ob Herr Zinkeisen sofort ein Gefährt finden werde, das ihn trocken heimbringe; so blieb er mit halbem Genuß sitzen und genoß etwas schief geneigten Kopfes wiederum das Getue der kleinen braunen Stars.

Diese wurden jetzt von verwegenen Männern beschlichen . . . In einem Spalt des von Madras-Künstlern mit herrlichen Feenlandschaften (Odalisken, Schwänen und Minaretten) geschmückten Vorhangs wackelte langsam eine Kulisse herab. Sie war – by Jove – amerikanisch! Die scheußliche Nüchternheit einer Straße mit Drogerien, »Sodaquellen« und roten Backsteinkirchen senkte sich erbarmungslos in die Phantasiewelt hinein. Na, das begriff man doch wenigstens, wenn es auch nicht schön war, dachte Herr Zinkeisen. Bis jetzt war es eigentlich ein bißchen zu anspruchsvoll! Die ganze Zeit Märchen: das kriegt man satt. Worauf er sich befriedigt zurechtsetzte und auf einen »anheimelnden« Eindruck wartete.

Trotz der flott synkopierten Musik geriet sein Verständnis auch jetzt auf eine Untiefe. Er steckte sich eine Zigarette an und dröselte ein wenig. Wenn dieser Regen aufhört, dachte er, mache ich Schluß mit heute abend. Mehr wird wohl nicht in Singapore zu erleben sein. Schade. Möglich, daß es verruchte Sachen gibt; die sind aber auch wieder zu riskant . . . Am besten, man läßt das Laster auf sich beruhen.

Er dachte noch ein wenig an sein Schiff morgen, das er um zehn Uhr zu besteigen hatte; die Hotelrechnung, das Wechselgeld, drei, vier Telegramme, an Bolshagen & Co. (Porzellan und Emailwaren en gros, Export und Import), seinen Musterkoffer und sein schön geregeltes Dasein . . . Dann ging sein Dröseln in eine Art Schlaf über, aus dem er mit einem Ruck emporfuhr. Plötzlich anschwellendes Stimmengesumm deutete den allgemeinen Aufbruch an.

Seine Hand fuhr nach der Innentasche; Gott sei Dank! alles war da. Seine Uhr zeigte auf zwölf. Mit einem Bedürfnis nach frischer Luft und leicht verwirrt erhob er sich. Der Regen hatte aufgehört; es würde ihm gut tun, den Kilometer bis zum Hotel zu Fuß zurückzulegen.

Zinkeisen hat einen Energieanfall

Als er aus dem Eingang trat, hatte sich die Zuschauermenge bereits in Droschken oder Rikschas verflüchtigt; aus den Seitenstraßen hörte man noch leises Bimmeln der sich entfernenden Gefährte. Eine Stunde lang hatte der Regen herabgepladdert. Unter Windschnaubern und Schluchzern hatte die Tropenschwermut sich erneut; nun war sie fortgezogen, lag brütend über anderen dunklen Gebieten und vergoß einen neuen Tränensee. Schwache Helle verbreitete der Himmel; grell, wie blank geputzt, standen jetzt die Sternbilder darin. Zinkeisen gönnte seinem Auge nur einen einzigen Sprung in dies schwarze Loch, an den lanzenhaft drohenden Firsten eines eingemauerten Tempels vorbei. Dann beschäftigte er sich mit den dunklen Gruppen, die an glühendem Palmreisig vor dem Hintergrund schwach erhellter Gemächer gedämpft schwatzend hantierten. Zuweilen blitzte im Öllicht ein nackter Busen auf, gelb oder braun, und die Warzenhöfe daran blinkten wie dunkle Blumen des Bösen. Steil im Ellbogen geknickte Arme bewegten sich sarongknüpfend um eine ins Licht geschobene, von Schatten überrieselte Hüfte. Hinter bemalten Rolljalousien aus Ölpapier schwankten die Umrisse sich befehdender Körper; leises Kreischen drang hervor . . . Wie von Katzen.

Diese beunruhigenden Beobachtungen formte Zinkeisen bei jedem zehnten Schritt, und er wußte, warum er nirgends stehen blieb. Einerseits verachtete er Zuschaustellung privater Angelegenheiten und hielt nicht allzuviel von Erotik, noch dazu bei der herrschenden Temperatur, und andererseits war er ein vorsichtiger Mann, der die Zusammenrottungen östlicher Menschheit in Veranden und Türen als verdächtig empfand. So viel Singsang deshalb auch an ihn gewendet wurde, und so viele vogelähnliche kleine Fragezeichen auch hinter ihm dreintropften –: er stieß seinen Malakkastock wacker in den Boden, der die Wassermengen inzwischen spurlos geschluckt, und schritt mit Scheuklappen fürbaß.

»Wir sind ja nicht in Hamburg«, beruhigte er die eigene quälende Neugierde. »Tja . . . wenn dies die Reeperbahn wäre oder die Große Freiheit . . . Aber hier greift man ins Unfaßbare . . . Mit Lächeln, nicht? wird man geplündert und womöglich verseucht; ich danke . . .« Zu seiner Überlegung trat noch der Gedanke an die morgige Abfahrt und daß er ja unter Umständen in Bangkok oder sonstwo nachholen könne, was er hier versäume . . . Kurz und gut, vollauf berechtigte zivile und biedere Hemmungen hielten ihn davon ab, dem Osten in geschlechtlicher Beziehung heute nahezutreten.

Vor dem »Sailors Home« an der langgestreckten rosa Mauer, die den Rasenplatz der Kathedrale nach Westen abschließt, drängten sich Mädchen jeder Schattierung. Weiße Gesichter schwarzbehoster Chinesinnen, lange schwarze Cheeroots rauchend, erhellten sich von der Tabakglut. Gurrendes Lachen rann die Reihen hinab. In Dunkelblau gewandete Malaiinnen schritten einige Sekunden lang im Gänsemarsch neben Herrn Zinkeisen her, herausfordernd die hervorgewölbten Hüften rollend, und stießen aus geblähten Hälsen ihr perlendes Lachen in die Höhe. Jasminduft schwelte im Schatten wie süßes Gas. Beim Klirren von Silberdraht rollte am Boden ein keifendes Paar: Frauen, die sich um einen breitbeinig hingepflanzten Matrosen balgten. Man sah zerrupfte Blütenblätter wirbeln und hörte unter stöhnenden Zornlauten scharfes Krachen zerrissener Seide. Jemand zupfte Herrn Zinkeisen an der Jacke. Er blickte sich schüchtern um: da sah er eins der Gesichter, die aus der Kulisse der Opera Stambul gespäht. »Much pleasure!« formten die Lippen. »Much fun« Hier versandete der englische Sprachschatz in einem verheißungsvollen Gestammel . . . .

»Nothing doing«, sagte Herr Zinkeisen und machte, daß er weiter kam. Miß Fadijah, oder wie sie hieß, lachte wie ein Mann so grell und guttural hinter ihm drein. – Die Gefahrzone war durchschritten, und er näherte sich der Ecke der Coleman Street, als auf einmal Hufschlag hinter ihm hörbar wurde: Der Hufschlag jener gedrungenen Ponies, die in diesen Landesbreiten üblich sind . . . Mit drolligen Bürstenraupen auf den Hälsen, kopfnickend, traben sie kurzspurig, ohne Ermüdung zu kennen; das Geräusch ihrer kleinen Hufe läutet tagein tagaus auf dem Asphalt, von Schellenrasseln begleitet . . .

Es war eine offene Droschke. Herr Zinkeisen hatte sich umgedreht und hatte so Muße, die Insassen zu betrachten. Und nun geschah es, daß er ganz unvermutet schicksalsmäßig und zwangsläufig auf den Plan gerufen wurde; daß seine Instinkte zu einer ihn selbst überrumpelnden Handlung gediehen; zu einem Entschluß, der wie ein Kristall aus einer übersättigten Lösung sprang . . . Dies war mit einem Zurücktreten des Blutes ins Herz verknüpft, so daß es seine Brust bedrängte und daß in seinem Kopf ein schwimmendes Gefühl entstand. Kurz: er hob den Stock; er hielt ihn gebieterisch hoch; und während er der Droschke in den Weg trat, rief er kurz und schmetternd: » Stop!! «

 

Wenn er sich nachher über seine Instinkthandlung befragte, so wußte er sich selbst keine befriedigende Antwort zu erteilen, außer der, daß er in einer hellseherischen Sekunde das ganze Schicksal, in das der Major Prendergast so unbekümmert und so von allen Göttern geblendet hineinkutschierte, vorausgeahnt habe.

Der Major saß in der Droschke und war noch doppelt so betrunken wie im Theater. Ja, sein Rausch hatte jenen fragwürdigen, gefährlichen Grad, wo man wieder gerade sitzt und zusammenhängend redet, wenn zwar mit völligem Austausch des gewöhnlichen Ichs gegen eine fremde unsympathische Person, die ihre eigene Logik hat. Ein belferndes Tier ist das, das sich unseres Gesichtes und Körpers bedient; ein auf Vernichtung seines Gastgebers erpichtes Geschöpf, und dies sprach aus dem Munde des Majors: »Go to hell, Goose-Step-Eddy. – What d'ye want to stop me for??« – Und Herr Zinkeisen (während Energie und Aufregung sein sonst so flüssiges Englisch mit deutschem Akzent färbte) trat an den Wagen heran und sagte leise und beschwörend: »Schicken Sie doch das Gesindel fort, Herr. Begreifen Sie, was Sie machen?«

– – – Wenn man behauptete, daß Mr. Prendergast für das, was ihm im Augenblick als Zerstreuung vorschwebte, äußerst gut versorgt war, so ging man nicht fehl. Denn er war durchaus nicht allein in der Droschke. Zunächst waren da seine Gelegenheitsfreunde aus dem Theater. Sie saßen ihm gegenüber und betrachteten voll verschmitzter Erwartung das Benehmen dieses Engländers, der sich auf dem Gipfelpunkt ausübender Macht bewegte. Prendergasts rassiges Profil rührte sich inmitten eines Knäuels von Leibern, die zwischen ihm und den gelben Kommissionären eingekeilt saßen oder lagen. Seine krähende Stimme, singend oder fluchend, erhielt Leben wach in diesem Betrieb.

Ein etwa fünfzehnjähriger Chinesenknabe mit tintenschwarzen vergnügten Augen im Gesicht (einer von den Söhnen oder Gehilfen der Fergen, die auf ihren Sampans den Hafen beleben), saß auf des Majors linkem Knie und schmiegte seinen Arm, der weiß herausschimmerte, um dessen Schulter. Er war lediglich mit einer mattblauen zerfransten Leinenhose bekleidet. Sein Gegenstück auf der anderen Seite war eine jener feisten, teuren Matrosenmütter, in grellfarbig bedruckte Seide gewandet, die an den Fensterverschlägen zwischen den beiden Flußbrücken im Chinaviertel wie schillernde Kröten auf der Lauer liegen oder ihr Schleppgewand anspruchsvoll durch das Volksgewimmel der Bazararkaden ziehen, gefolgt von einer kichernden, gepuderten Heerschar, der sie tyrannisch gebieten.

Es war ein Prunkstück von einer Priesterin ihres Gewerbes, und sie hatte diese erstaunliche Gelegenheit, eine sagenhafte Propaganda um sich zu verbreiten, offenbar dankbar ergriffen. Ihr mit blauen Schlänglein tätowierter Arm, von Messing- und Silberschmuck umzäunt, umfaßte gleichfalls den Rücken des Majors, und ihr Doppelkinn schaukelte befriedigt auf uferlosem Busen. Eine kleine Verdrossenheit schürzte ihre Lippen. Vielleicht bangte ihr vor der Möglichkeit, mit einem der Hindupolizisten zu kollidieren, deren scharlachrote Turbane zuweilen überraschend an den Straßenecken aufleuchteten. Hätte ein solcher die Bequemlichkeit dieser Reklamefahrt nicht auch in Frage gestellt?

Außer diesen Vieren sah man in der Droschke noch zwei kleine Köpfe . . . Die halber Kinder, die wie Nestvögel die Hälse reckten. Doch die gaben so einen leichten Ballast ab, so daß sie die Ponypferdchen kaum beschwerten.

Auf das gebieterische »Stop« Herrn Zinkeisens hielt der Kutscher jäh an, und die ganze menschliche Ladung wurde aufkreischend durcheinander gerüttelt. Der Engländer saß wie ein Ladestock inmitten all des elastischen Fleisches und dirigierte. Er amüsierte sich und hatte durchaus keine Lust, sich stören zu lassen. »Go to hell,« sagte er, »you Godforsaken Dutchman!« Aber seine Begleiter hatten den Europäer kaum gesehen, als sie sich voneinander lösten und herauslächelten. Es war ein Aufleuchten mehrerer kalkweißer Zahnreihen. – »Dieser Gentleman«, erklärte endlich der eine »Kommissionär« in schleppenden Lauten . . . »ist ein wenig lustig. Wir bringen ihn ins Hotel zurück.«

»Den Teufel tut ihr«, sagte Herr Zinkeisen. »Macht, daß ihr fortkommt.«

»He! You!« ließ sich hier der Major vernehmen und starrte mit grellen Augen zu ihm herab. »Was, im Namen aller hergelaufenen Hausierer, geht das Sie an?« – Herr Zinkeisen überhörte das; überhörte es sachlich; er sah, daß er einen unzurechnungsfähigen Kompagnieführer vor sich hatte und zog bieder die Konsequenzen daraus. Er ging zu den Pferden und packte die Kandaren. Steil ging Prendergast in die Höhe und gab dem Kutscher einen Stoß in den Rücken.

»Drive on!!« brüllte er.

Doch es half nichts, daß der Kutscher, in den Wirbel zweier verschiedener Herrenlaunen geraten, die Peitsche zögernd hob; der kleine Deutsche stand wie aus Granit. Nach etwa zwanzig Meter würde das Gefährt um die Ecke geraten sein, in die Lichtflut des Adelphi-Hotels; und damit läge die furchtbare Blamage des Majors auf offenem Präsentierbrett vor aller Augen da. Dann war seine Karriere zerstört, dann war er in jeder Beziehung geliefert; dann würde für ihn nichts übrigbleiben als eine Kugel. – Und ehe der Kutscher, der noch wie gelähmt saß, Bescheid wußte, war er schon wieder am Verschlag. Der halbnackte Junge war hinweggehuscht; ebenso verschwunden war die Priesterin mit den beiden Nestvögelchen. Sie standen mittlerweile irgendwo im Schatten und warteten, starr vor Neugier, die Entwicklung der Dinge ab. So hatte Herr Zinkeisen den Sitz frei und schwang sich ins Gefährt.

»Sie müssen einsehen,« sagte er korrekt zu den beiden Chinesen, »daß Ihre freundliche Hilfe sich von jetzt ab erübrigt . . .« Das sagte er nicht zusammenhängend, sondern in den Pausen, die ihm der Kampf mit dem sinnlos Betrunkenen und unablässig Fluchenden gestattete. Als er während des Ringens einen Augenblick den Arm frei bekam, zerrte er Wechselgeld aus der Tasche und stopfte es in die weichen geöffneten Hände. »Gehen Sie, meine Herren; ich bringe den Major ins Bett . . .« Und wie bemalte Ostereier lächelnd, traten die Gelben den Rückzug an.

Plötzlich erlahmte der Engländer.

Zinkeisen atmete auf. »Fahre vors Hotel«, wies er den Kutscher an. Und langsam bog die Droschke um die Ecke.

Die Halle war noch vollbesetzt; einige Gäste standen plaudernd im Vestibül und blickten auf die Straße. Herr Zinkeisen stieg aus und durchquerte langsam und ohne auffällige Hast die Halle. »Maloney,« sagte er zu dem Buchhalter, »draußen in der Droschke liegt einer, der sich heute abend ein bißchen übernommen hat. Er hat einen Hitzschlag; auf alle Fälle muß es ein Hitzschlag sein . . . Verstehen Sie, Maloney?«

Der Ire verstand.

 

Als der Major am nächsten Abend imstande war, seine Gedanken zu sammeln, erfuhr er den diskreten Vorgang seiner Ankunft im Hotel, und daß Herr Zinkeisen als Deus ex machina seine Hand im Spiel gehabt.

Er bemühte sich eifrigst, »Eddy« zu finden, um ihm seinen Dank abzustatten. Doch er mußte erfahren, daß dieser bereits abgefahren war. So blieb ihm nichts übrig, als sich eine Notiz zu machen, und den Dank auf seine eigne Rückkunft nach Europa zu verschieben.

– – – Dies alles ereignete sich zu Singapore, im Laufe des Mais 1914. –


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