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Zweites Bild
Die Athletin Barbara saß vor dem Spiegel in der Artistengarderobe und rasierte sich mit einem Schabapparat ohne viel Genuß die Achselhöhlen aus.
Als sie fertig war, trug sie viel Puder auf; sie hatte trotz ihres trainierten Körpers eine zarte Haut und neigte in diesem Punkt zur Empfindlichkeit. Sie beschäftigte sich gerade damit, ihre kurze Zottelfrisur unter eine dralle rotseidene Haube zu bringen, die mit der Farbe ihres Trikots harmonierte, als sie durch Vermittlung des Spiegels bemerkte, daß der kleine Niklas sich hereingeschlichen hatte. Er saß in der dunklen Ecke und betrachtete sie von dort mit seinen unheimlichen Augen.
Die Athletin Barbara beschloß, seine Anwesenheit nicht zu bemerken und sich blind zu stellen. Sie zupfte mit trägen Bewegungen an sich herum; trug hier noch Puder auf, dort noch etwas Schwarz unter die hellblauen Augen. Das hob die ausgewaschene Farbe dieser Augen und gab ihnen die sinnliche Nuance, die zu ihren Muskeln so pikant wirkte.
Sie saß, in ihren Stuhl gezwängt, wie eine grübelnde Löwin. Bei jeder Dehnung ihrer kolossalen Schenkel knackten die Seitenlehnen. Wenn sie nach einem Farbstift oder einem Kämmchen griff, so war es, als angele ein Löschkran nach einer Sardinenbüchse. An ihrem Mund – (einem Kindermund mit trotziger Unterlippe) – lauerte ein Lächeln; sie war mit sich zufrieden . . . Wie sie zu diesem Körper kam, war ihr selber rätselhaft, da eine ziemlich durchschnittliche Seele darin steckte, die durchschnittliche Bedürfnisse kannte; nie wäre sie von selbst auf diese Laufbahn geraten: Not, ein entschlossener Vater, die Familientradition hatten es gemeinsam zuwege gebracht, daß aus ihr und ihren drei Brüdern derart prächtige Anatomiemodelle entstanden waren.
Kurz, es war nun einmal so; und diese rollenden Muskeln, dies schier eckig federnde Gesäß, diese Schultern und dieser Thorax (auf dem die Brüste nur als bescheidene Wegweiser gedeihen durften) waren ein Kapital geworden, das sich seit einigen Jahren trefflich verzinste. Sie hatte sich in ständiger, gemeinsamer Arbeit im Format gleichsam den Brüdern angenähert, die ihrerseits mit ihr umsprangen, als sei sie ein Mann, dabei aber schwer darauf bedacht blieben, das Weib in ihr tunlichst in Zaum zu halten. Dies lag im engsten Interesse der Truppe, denn wenn Barbara es sich etwa einfallen ließe, ihren schlummernden und bisher noch überlisteten Instinkten zum Opfer zu fallen, litte alles: die Attraktion wäre verdorben. So hatte man ihr mächtig zu tun gegeben, damit sie imstande sei, die Pfeile Amors von ihren überzüchteten Gliedern abprallen zu lassen, falls es nötig sei – und zur Zeit (das wußte sie) wiegte man sich darüber in Sicherheit.
Barbara empfand diese Tyrannei sehr stark. Zu brechen war sie nur mit Hilfe eines Beschützers, der dem Körperformat der Brüder entsprach. Dieser hatte sich gefunden in Gestalt des Italieners Borromeo. Die Stierähnlichkeit dieses Menschen war eine derartige, daß er einen Bechstein-Grand samt musizierendem Pianisten auf seinem Leibe, in Brückenform gekrümmt, zu ertragen vermochte; daß er Gewichte mit den Zähnen lüftete, deren bloße Vorstellung zermalmte. Als er eingetreten war mit dem Begehren, sich der Truppe als Fünfter anzuschließen, waren die blonden Männer weniger durch seine mündlichen Argumente beeindruckt, als durch die überzeugende Tatsache, daß er während der Verhandlung in scheinbarer Zerstreutheit ein Fünfmarkstück zwischen den Handflächen krumm bog und dann mit lächelnden Gebiß wieder plättete, – so etwa, wie jemand in Gedanken mit Kaugummi Kapriolen macht.
Es bereitete Barbara tiefes Vergnügen, mit welcher Entschlossenheit diese südliche Erscheinung ihrem blonden Fleische huldigte; mit welch feuriger Ausschließlichkeit er ihr seit kurzem zur Verfügung stand, wobei er es mit merkwürdigem Geschick vermied, offen als ihr Liebhaber hervorzutreten. So war es trotz der Achtsamkeit, die ihr folgte, gelungen, einen Mißklang zu vermeiden . . . Ja, wo sollte es auch zu einer Katastrophe kommen? Im Notfall machte sie sich selbständig mit Borromeo; sie hatten ja beide das Zeug dazu.
Diese Überlegungen stellte sie gewöhnlich während der nachmittäglichen Übungen an, wo es sich öfters ergab, daß sie mit den Schultern und dem Nacken ihres Verehrers in saftig klatschenden Kontakt kam; ihr Gewicht, gekuppelt mit lässiger Hingabe, vertiefte die Innigkeit solcher Augenblicke. Sie spielten miteinander wie junge Raubtiere; zuweilen setzte es Schrammen und Beulen. Aber glichen nicht auch solche Pfändern der Liebe?
– – – Sie fuhr zusammen, denn ihre abirrenden Blicke waren im Spiegel den löcherartigen Augen des kleinen Niklas begegnet, der immer noch aus der Ecke starrte.
»Komm mal her«, sagte sie gutmütig in ihrer tiefen Stimme.
Es regte sich leise mit schürfendem Geräusch (wie wenn sich ein Schlangenweib nähert) und darauf fand er sich vollkommen lautlos bei ihr ein. Er trug Sandalen mit doppelt genähten weißen Filzsohlen. Er schillerte über und über, denn sein Körper war mit einem paillettenbenähten Trikot bezogen; blaumetallisch schillerte er. Es war eine sehr aparte Sache, die er sich ausgedacht, und erntete Anerkennung bei seinen Kollegen – obwohl sie, erdenschwere Tiere, für seine Branche sonst nur ein Grunzen übrig hatten und sich über das Geld ärgerten, das er für seine Nummer bekam. Er lieferte tolle Trapezarbeit von unwahrscheinlicher Waghalsigkeit. Er hatte entschieden etwas Unheimliches an sich, doch diese Note minderte er durch seine Jugend. Er war kaum älter als sechzehn.
»Na, kleiner Niklas«, fuhr sie fort . . . »Was schleichst du denn schon wieder um mich herum? Soll ich dich wieder auf den Schoß nehmen, du schlüpfriger kleiner Satan? – Hallo-hup!« Und sie hielt ihm, wie einem zahmen Vogel, den gestreckten Arm hin.
Der kleine Niklas lächelte sehr angeregt und sprang mit federndem Schwung in die Kuhle dieses mächtigen Armes, dessen Schulterteil reichlich so dick war wie sein Schenkel. Sie nahm ihn über die Sessellehne und pflanzte ihn zwischen ihre Knie wie ein Baby. Er kreischte beglückt mit einem exotischen Laut und legte sich zurück, wobei er sich wand und drehte. Seine Metallschuppen rieben sich knirschend an ihrem stoffüberzogenen Leib. Er ermattete; er bettete sich in sie hinein wie in ein wundervoll geschwelltes Plumeau – und die folgenden Minuten waren das halbe Leben. Denn sie beugte sich nieder und zog seinen Kopf an den schwarzen Strähnen heran. Daß sie dabei seinen spiegelnden Ebenholzscheitel zerstörte, focht sie nicht an. Sie drückte ihren schmollenden Mund auf den seinen, der becherförmig geöffnet stand; er erschauerte wie im Fieber.
»Schmeckt das?« fragte sie tief. »Schmeckt das?!«
Ach. welche leichte Mühe es sie kosten würde, dieses Geschöpf einfach zu erdrücken, zu zerquetschen, auszulöschen . . . Nur so zum Spaß; nicht einmal als Kraftprobe . . . Er versuchte, sich schwer zu machen, und während er so seine Behaglichkeit fand, betrachtete sie ihn grübelnd mit leicht gekrauster Nase, und ihr Gesicht bekam wie schon oft etwas Töricht-Fragendes . . . Was war dieser Knabe, der nichts wog, eigentlich für ein Mensch? Borromeo war ein Mensch. Doch dies – Ding hier hatte Temperament, verdiente viel Geld und war eigentlich nur dazu geschaffen, von einem Schoß auf den anderen überzusiedeln, wobei man noch achtgeben mußte, daß man ihm nicht wehtat. Ah, der verdammte kleine Satan; das silberne Fragezeichen . . .
Wie oft hatte sie ihn schon dumpf bestaunt! Er hatte so ein seltsam altes Lächeln, so ein zeitloses Lächeln, das nichts bedeutete: als scheine die Sonne auf Bahnschienen. Runde Mausohren hatte er, die durchsichtig schimmerten. Eine Haut von zartem Wachsgelb. Seine Augen glichen Löchern, die alles einsogen; – wenn er sie lange anblickte, war ihr, als schlucke er sie auf. Ja, so war sein Blick – trotz hündischer Ergebenheit im letzten Ende noch kritisch: er graste jeden Fleck ihres Körpers einzeln ab, parzellenweise sozusagen. Er hatte langwimprige Lider wie weiche Bürstchen, die ihre Haut streichelten, wenn sie seinem Kopf einen kleinen Ausflug auf ihrer Brust oder zwischen ihren Schulterblättern gestattete. Seine Brauen saßen hoch und erstaunt in der niedrigen Stirn: als sei ihm plötzlich das lähmende Bewußtsein gekommen, er sei gar nicht ausschließlich nur in seinen hiesigen Rollen heimisch, sondern in anderen Riten, in anderem Klima – in den Vorstenlanden vielleicht als Tanzknabe, in der Nachbarschaft eines heißen Meeres. Fern von den Signalpfeifen der Regisseure, die er oft so fürchtete, daß er das Konfekt fast erbrach, an dem er sich seine weißen Zähne frühzeitig verdorben hatte. Fern von schattenlosen, erbarmungslosen, grell präsentierenden Kulissen.
Er sprach nasal, mit australischem Akzent auf ungeschickten deutschen Worten. Hatte er ein jahrelanges Schiffsjungenschicksal hinter sich? Oder war es nur die Rasse, die ihm so gummigliedrige Tierhaftigkeit, so phantastische Spaziergänge im Raum ermöglichte? . . .
Hier saß die Athletin Barbara mit ihrem Erdenrest von hundertundachtzig Pfund Trainiergewicht und hatte ein Rätsel auf dem Schoß, ein unbequemes Rätsel.
Es waren dem kleinen Niklas noch keine zehn Minuten restlos glücklichen Geborgenheitsgefühls beschieden, als die Tür sich plötzlich öffnete und Borromeo erschien.
Er erschien leise, dennoch klirrte alles.
Er kam mit einem breiten Lächeln, den gewichsten Schnurrbart zwirbelnd und animiert von Vorfreude, denn er gedachte bei Barbara, die er allein wußte, noch vor Beginn der Vorstellung ein Schäferminütchen zu erhaschen. Als er aber sah, daß sie Niklas auf dem Schoß hatte und sich auch gar nicht beeilte, ihre Beschäftigung seinetwegen zu unterbrechen, wuchsen die Tätowierungen auf seiner sich dehnenden Brust in einem Dschungel schwarzer Strähnen, und sein blaurasierter Kiefer schob sich vor.
Es lag Kraft in diesem Kiefer; dies war hinlänglich bekannt. All diese Symptome hätten Niklas veranlassen müssen, schlangenhaft schnell das Weite zu suchen; doch er hatte offenbar ein so sparsames Denkvermögen, daß er die Drohung nicht erfaßte.
Der Italiener kettete eine große Anzahl heiserer Worte aneinander. Es war keine Perlenschnur, die er aufreihte. Barbara machte ein gelangweiltes Gesicht und setzte Niklas mit gleichgültigem Griff neben sich auf den Boden.
»Verrenk' dir nicht deinen Kiefer, Tiberio«, sagte sie dabei. – »Du weißt, dies Bübchen ist mein Spielzeug. Du wirst doch nicht eifersüchtig sein auf mein Spielzeug?«
Das Weiße in Borromeos Augen quoll hervor; seine Halsadern schwollen. Er war in einer Verfassung, in der man leicht dazu kommt, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Er pöbelte daher und behauptete, er wisse genau, was es mit dem »Spielzeug« auf sich habe. Er sei Manns genug, sich das nicht bieten zu lassen. Und um dies zu beweisen, gab er der Athletin Barbara eine Ohrfeige, die einen Ochsen betäubt hätte. Es knallte wie ein Schuß. Sie fuhr aus dem Sessel und flüchtete aufheulend in eine Ecke.
Mit kaum zu beschreibender Schnelligkeit wand sich Niklas ihr nach und sprang vor ihr in die Höhe in seinem flimmernden Schuppenkleid. Sie heulte schnaubend, und aus ihren törichten, verwaschenen Augen träufelten Tränen und schwemmten das Schwarz über die Backen bis in den zitternden Mund. Der Italiener stand noch ruhig auf der Stelle, wo er die Züchtigung vorgenommen, und betrachtete, die bronzenen Fäuste in die Hüfte gestemmt. flammenden Auges die Gruppe.
»Sie Unmensch!« schrie Niklas tapfer in seinen überschnappenden nasalen Lauten. »Was für ein Recht haben Sie, die Frau zu schlagen?«
»Hach!« sagte der Italiener langsam. »Was für ein Recht ich habe! Corpo della Madonna! Dasselbe Recht, mit dem ich dich jetzt hinauspfeffere, daß dir die Lust vergeht, dich hier bei Damen herumzutreiben . . . .«
Und er kam mit wogenden Schultern näher. Und jetzt erfuhr Niklas für seinen Heroismus von Barbara einen Dank, den er nicht erwartet hatte. Sie stieß ihn schmerzhaft in den Rücken und zischte:
»So geh' doch schon, mach' doch, daß du fortkommst, du unausstehliches, aufdringliches kleines Biest! Merkst du denn nicht, daß Signor Borromeo dich nicht wünscht? Und wünsche ich dich denn?«
Und nicht genug an diesem Undank: sie zwickte ihn. Ein Schmerz wie ein Feuerstrahl durchzuckte ihn. Er fiel zusammen und lag still. –
Signor Borromeo indessen, der seinen Humor wiedergefunden, stand Arm in Arm mit seiner Freundin vor ihm und blickte auf ihn herab. Barbara stieß Niklas mit der Fußspitze in die Weiche.
»Rasselos«, sagte Signor Borromeo sachlich. »Und degeneriert. – Ein Nigger.«
Von diesem Abend ab ließ Niklas sich nicht mehr in der Garderobe blicken. Er hätte wissen müssen, daß Barbaras Zorn auf ihn nur Theater war Borromeos wegen; daß ihr ganzes häßliches und himmelschreiendes Benehmen gegen ihn, den unschädlichen kleinen Verehrer, nur ihrer Angst vor einer zweiten Maulschelle entsprang.
Aber um dies zu überblicken, war er zu exotisch. In seinem Spezialfall vielleicht zu malaiisch. Eine Frau hat kein Recht, in einem Duell zweier Männer ihrethalben Partei zu ergreifen. Doch auch der Europäer in Niklas (vermutlich ein fraglicher Mijnheer) – dieser entwurzelte Weiße fühlte den Gentleman in sich mißhandelt.
Es war unvorsichtig von Barbara, eine silberne Schlange zuerst an ihrem Busen zu nähren, ihr dann ohne Grund auf den Schwanz zu treten und sich an ihrer Angst und Entrüstung zu weiden, statt sie mit der Milch ihrer Zuneigung zu laben. Niklas lief von jetzt ab (wie sie allzu gut verstanden hätte) durchaus nicht umher als scheues, verwundetes Wild. Er begann im Gegenteil, so keusch er auch vorher gewesen, Gefallen daran zu finden, sich den »Fife Smashing Beauties«, wie die Truppe sich nannte, enger anzuschließen und ihren schlichten Zoten zu lauschen. Erschien Borromeo, so verfolgte Niklas ihn prompt mit seinen löcherartigen Augen. – Zunächst wandte der Athlet sich ab oder sah über ihn hinweg.
Dann aber geschah es regelmäßig, daß er schnell, wie verstohlen, die Hand mit seltsam verschränkten Fingern in die Richtung des lauernden Knaben schob und vor sich hinspie: ah! – Das war die Angst vor dem Bösen Blick!
Niklas sah diese Geste, freute sich und führte die Zungenspitze am Mundrand spazieren. Seine Augen wurden noch greller, noch löcherartiger, und klebten an Borromeo. Dieser betrank sich. Wo er Niklas witterte, spie er aus. – Niklas freute sich und haßte wacker weiter.
Diese Konzentration, die ja auch aus einer Überfülle von Temperament kam, schadete seiner Produktion nichts. Ganz im Gegenteil: er war noch nie so in Form gewesen, hatte noch nie mit so herzbeklemmender Selbstverständlichkeit und Lebensverachtung seinen Akt absolviert.
Bevor seine Nummer kam und während der Schimmer der Bühne kalkblau in den Zuschauerraum kroch, konnte man ihn erkennen, wie er, halb stehend und die Füße auf kleine Stützpunkte des Ornaments gebettet, mit schlangenhaft gebogenem Kreuz silbern unterhalb der Proszeniumsloge hing. Er nahm dort bei ihm geneigten Mitgliedern der Direktion gewohnheitsgemäß einen anstachelnden Cocktail zu sich. Unter ihm gähnte die schwarze Tür der Kulisse, in der er dann mit weichem Sprung untertauchte wie ein huschendes Reptil.
Die Lichtgeschehnisse wickelten sich weiter ab; verschiedene Farben überschwemmten die Bühne. Als letzte hielt sich ein Rot, überblendete die amphitheatralisch gestaffelte Menge, deren Geräusch wie das einer großen, schweratmenden Bestie in den Raum trat, und füllte die fernsten Winkel wie Blutgerinsel. Dann ward es wiederum halbdunkel. Der Lärm verebbte. – – – Ein heiserer, trotziger Schrei kam aus der Kulisse; ein Heroldschrei. Dann folgte Niklas.
Er spazierte auf den Händen herein. Er war ein zappelnder Ball von Silber. Er schnellte sich durch zwei papierverklebte Reifen, die rechts und links von unbeweglich hingepflanzten, grotesken Clowns gehalten wurden. Sie hießen »Ned & Nolly« und waren auf einer Europatournee. Der eine war lang und dürr, der andere feist und phlegmatisch. Nichts konnte sie verblüffen.
Es gab ein krachendes Geräusch von berstendem Papier. Die Reifen entrollten unter dem Zetern ihrer Besitzer, die insgeheim auf Niklas aufzupassen hatten. Dieser stand nun auf einem zehn Meter hohen exponierten Aluminiumgestell; frei und federleicht. Er bog die Knie – und während ein langer Trommelwirbel das Orchester erschütterte, stieß er sich ab, überschlug sich zweimal in der Luft, und als man dachte, er müsse wie ein Sack auf den Boden aufklatschen, hing er an einem kaum sichtbaren Seil. Vom Anprall seiner treffsicheren, gepuderten Handteller bäumte es sich; in weiten Pendelschwingungen fuhr es auf und nieder . . .
Doch der Springer wiegte sich wie ein Fabelwesen, wie ein Falter über der Schlucht des Todes: – Tyrann des Raumes, den er mühelos zu meistern schien! Den Kopf reckte er nach der Sonne, der Bogenflamme unter der verdämmernden Höhe des Bühnendachs, die dort ihre leise siedenden Fixsternhymnen sang . . . Das Publikum lag im Bann. Nur mühsamer Atem bewegte die Tiefe.
Endlich – sieh! – lief er wieder die Leiter des Gestells herab wie ein leuchtendes Wiesel; löste er die schwindelnde Spannung; glitt er aus seiner entrückten Region auf das zurück, was den anderen gesicherter Boden, Erde und Welt bedeutete.
Man mußte Signor Borromeo einräumen, daß jenes Organ, daß bei ihm Hirn hieß, nicht in der Hypertrophie seiner Körperlichkeit eingeschrumpft war; vielmehr schien es, daß es seinen normalen Umfang beibehalten hatte und darüber hinaus von blendenden künstlerischen Einfällen gelegentlich durchzuckt wurde.
Dies letztere geschah zwar nicht allzu häufig, und keineswegs konnte er sich schmeicheln, daß etwa bei der Umwerbung und Eroberung Barbaras sein Geist eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Immerhin machte die Seltenheit solchen Vorganges ihn bedeutsam, und man nahm ihn ernster und andächtiger zur Kenntnis, als sonst die Marotte eines »Stars«.
Er machte nämlich der Truppe im Artistencafé einen Vorschlag, der an Poesie seinesgleichen suchte. Es sei ein neuer Trick. Die alten zögen nicht mehr; er habe (und das beschwöre er bei der Mutter Gottes und dem Blut sämtlicher Heiligen) schon dreimal in den letzten Tagen bemerkt, daß man in den Orchesterlogen Zeitungen lese. Sei das der Lohn ihres Schweißes? Es sei ja auch wie Kasernendrill oder Turnerfest, was sie jetzt machten; man könne schon fast einen Feldwebel damit zum Gähnen treiben. Hätten die Herren, mit denen zu arbeiten er die Ehre habe, denn ganz vergessen, daß sie Künstler seien?! – Man müsse etwas absolut Neues bringen.
Die anderen vier Smashing Beauties sahen sehr gedankenvoll drein, mit dicken Falten unter den blonden Simpelfransen, und meinten, es habe Hand und Fuß, was er vorbringe. – Barbara hing an seinen Lippen. Er bemerkte es und lächelte geschmeichelt.
Er paffte eine Wolke aus seiner Hafenzigarette über den Tisch. – Seine Idee sei, sagte er, folgende: er wolle die ganze Gruppe stemmen. Es sei eine verdammte Anstrengung, aber in einer ganz bestimmten Positur (die er ihnen erläuterte) sei es vielleicht zu machen. Der älteste der Brüder, auf Borromeos Schultern stehend, solle die Balancierstange abgeben für die zwei anderen, die rechts und links den Nacken dieses Ältesten als Stützpunkt für eine Streckschwebe benützten. Auf dessen Schultern wiederum solle Barbara einen geknickten Handstand machen mit gespreizten Beinen. Das ganze nenne er Die lebende Blume, und er verspreche sich viel davon zu Trommeltusch und bengalischer Beleuchtung. Der Trick erfordere eine Woche Training und sei ein glänzender Abgang für die Saison.
Beifallsgemurmel. –
»Aber welche Verwendung« – rührten sich jetzt die Brüder – »habe man dabei für Niklas? – Er sei effektvoll . . .«
»Ha!« sagte Borromeo. »Er getraue sich, die lumpigen achtzig Pfund noch hinzuzunehmen. – Aber –« – und hier vermied er wieder die Augen, die ihn anglupten wie glimmende Löcher – »dieser Nigger müsse sich an ihnen emporhanteln, wenn er auf Barbaras Gesäß hinauf wolle. Dann aber könne die Gruppe die Balance nicht wahren . . . Er lehne ihn also ab.«
Man dachte nach.
Plötzlich unterbrach Niklas das Schweigen mit der singsangartigen, nasal hervorgestoßenen Bemerkung:
»Mr. Borromeo sagt, mein Gewicht macht ihm nichts aus. Er ist sehr stark. Er sagt, man macht eine Lebende Blume. Well, zu einer Blume gehört ein – Smeterling, das aus die Blume saugt . . . herabswebt . . .«
Alles horchte auf. Die Idee zündete.
»Fräulein Barbara . . . sie macht ein Handstand. Well. Sie streckt das – er kämpfte um das Wort – Gesitz in die Luft. – Ich komme vons Trapez und mache mein Handstand auf Fräulein Barbaras – Gesitz.«
Ein großes Gelächter setzte ein, besonders da Niklas seinen Vorschlag mit viel modellierenden Handgesten begleitete. Unwillkürlich wanderten die Blicke nach der trikotübersponnenen Gegend an der Person der Athletin. Dieser Körperteil war an ihr in der Tat so prächtig entwickelt, daß er ein einladendes Feld für Experimente bot. Sie wand sich geziert und kreischte belustigt auf, wobei sie Niklas einen Rippenstoß versetzte.
Borromeo zerrte nervös an seinem gewichsten Bart und fluchte leise und heiser. – Er fühlte sich überstimmt und zuckte mit den Schultern . . .
Schon am nächsten Nachmittag begannen die Proben. Daß ein Handstand auf noch schmalerem Fundament als auf Barbaras ausgedehnter Sitzbasis nur eine Lappalie für Niklas bedeuten konnte, war im vornherein klar. Er wurde instruiert, sich beim ersten Pfiff von einem Trapez herab beim Aufrollen des Vorhangs mit großer Vorsicht auf den ihm zugedachten Platz herabzulassen . . . mit größter Behutsamkeit! – und dann, wenn Borromeo einen zweiten Pfiff tue, solle er sich wieder aufs Trapez zurückbegeben.
Zahllose Male versuchte man den Trick, ehe er gelang. Zunächst war Borromeo kaum imstande, stehenzubleiben und mußte sich von hinten stützen lassen. Die Hände hinter dem Nacken ineinander verankert wie stählerne Zinken, den Stiernacken gebeugt, so daß er mit den gebirgigen Schultern eine einzige Wellenlinie bildete, hielt er als zweiter Atlas zitternd stand. Auf ihn senkte sich ruckweise die ungeheure Last. Es ächzte aus dieser Last; Schweiß tropfte herab heiß wie Wachs.
Das erste Mal schluchzte Borromeo, fluchte schauerlich und betrank sich. – Das zehnte Mal wischte er sich lediglich den Kopf mit einem gewaltigen Kattuntaschentuch, aus dessen Mitte im Farbdruck der »Duce« grollte, grinste erschöpft und griff nach einer Zigarette.
Die Schmeicheleien, mit denen man ihn überschüttete, ließen seine Eitelkeit zur Ekstase schwellen und lösten ihm die Zunge. Er gab sein holdes Geheimnis preis, indem er von nun ab ohne Scheu von Barbara öffentlich Besitz ergriff als von der ihm vorbestimmten Braut. Was sollte man tun? Man verhieß, sie ihm nach der ersten offiziellen Darbietung seiner Wunderleistung anläßlich einer entsprechenden Verlobungsorgie in aller Form an die tätowierte Brust zu legen . . .
Was Niklas betraf, so hatte er sich einige Male zart wie ein fallendes Herbstblatt auf der Spitze der Pyramide niedergelassen. Die nächstbeteiligte Person, Barbara, hatte ihn kaum gespürt. Er hatte einen silbernen Ring aus sich gemacht, war langsam wie ein Sekundenzeiger im Umlauf einer Minute auf die Füße zurückgesunken, hatte sich aufgerichtet und das Trapez wieder erangelt, dunkel blinzelnd und traumwandlerisch gewandt . . .
Der große Abend ist da.
Der Trommeltusch rollt.
Der Scheinwerfer speit zischend seinen Lichtkegel auf die Bühne. Sie sind in Weiß, die »Fife Smashing Beauties«; nur die Athletin Barbara trägt ein grellrotes Brusttrikot zu kokett gebauschter Schoßhose. Ihre weißbepuderten nackten Beine enden in roten Sandalen.
Es ist eine ungeheure lebende Blume aus bebendem Fleisch, die dort entfaltet prangt. Es ist, als streiche ein flauer Wind über ihre gespreizten Blätter, die aus drei Schenkelpaaren bestehen. Fast unmerklich schwankt das Gebilde, doch es steht! – Es steht!!
Rasselnder Atem dringt aus ihm hervor, gewürgter, – das ist die knirschende Selbstvergewaltigung von fünf Körpern. Die Blume wird zitronengelb, dann tintenblau, dann purpurn. In diesem Purpur wirkt Barbara fast schwarz. Dann ergrünen sie alle in einem fahlen Seegrün – und es pfeift ganz unten. Pfeift kurz und schrill.
Ein flimmerndes Insekt pendelt herab; läßt sich langsam nieder auf dem höchsten Blatt der Blume . . .
Was tut es dort? Es tastet, regt sich. Will es vordringen in den Kelch?
Immer noch brodelt dies fahle Seegrün auf der Gruppe.
Niklas sitzt auf den Fußballen, auf den Schenkeln Barbaras.
Er sieht, umrahmt vom blaugeäderten Fleisch zweier gestreckter Kniekehlen, das Kinn der Athletin und ihre pralle Unterlippe. Sein Blick taucht an einer weißen Männerbrust herab mit pulsierenden Muskeln. Und ganz unten sieht er schwärzlich beflaumte, grobe Finger, verhakt wie Greifzangen auf einem angekitteten Scheitel, dessen widerlich weiße Rinne sich über einem kantigen Hinterkopf bis in den Nacken windet. Zwei Ohrmuscheln stehen von ihm ab wie rote Trichter.
Die Augen des kleinen Niklas verengen sich zu schwarzen Ritzen.
»Nigger« hatten sie zu ihm gesagt, als er auf dem Boden der Garderobe lag. »Degeneriert« hatten sie ihn genannt; – »zudringlich« . . .
Und er erhebt sich in den Handstand. Seine Hände greifen in das elastisch emporschwellende Fleisch; fast gewichtslos schleudert er seine schlanken hellbraunen Beine empor und biegt das Kreuz ein, daß die Pailletten des flimmernden Panzers knirschen.
Da pfeift es unten ein zweites Mal; halberstickt.
Niklas weiß, nun soll er wieder von dannen »schweben«; zum Trapez zurück; naschhaftes Insekt soll er sein; flüchtiger Falter.
Aber er tut es nicht. Er hält sich weiter im Handstand; ja, er tastet einen Zoll nach vorn, den blaugeäderten Kniekehlen Barbaras zu.
Sein glühender Blick sticht hinunter, in Borromeos Hinterkopf. Nervosität, dann Angst beginnen durch dessen Stiernacken zu zittern. Vor seinen blutunterlaufenen Augen, in qualvoller Bemühung halb emporgedreht, zerfließt das Publikum zu einer einzigen bleichen, verstörten Maske. »Nun hab' ich euch in der Hand«, denkt Niklas und Wollust durchschüttelt ihn. »Nun seid ihr mir ausgeliefert . . . ihr plumpen Tiere . . .«
Und statt sich vorsichtig wie ein Hauch wieder auf die Füße zu stellen, springt er und stößt sich ab; tritt mit Kraft in diese Doppelrundung hinein, in dies aufreizend und brutal geballte Fleisch; hängt wieder am Trapez und schwingt sich . . . schwingt sich mit schrillem Schrei . . .
Im schaukelnden Gesichtsfeld sieht er die Gruppe auseinanderpurzeln. Und inmitten der Katastrophe, dumpfen Publikumsaufschrei im Gefolge, geschieht ein Krach; ein kurz prasselnder Ton.
Es klingt, als ob man eine Kokusnuß zerspellt.
Es ist die Athletin Barbara, die sich überschlagen hat und mit ihrem ganzen Gewicht aus fast drei Metern Höhe auf Borromeos Nacken landet . . .
In einem rotbespritzten Brautbett, die mächtigen Glieder seltsam ineinander verankert, – so liegen die beiden da.
Die Trapezschaukel knarrt in immer gewaltigerem Schwung, als wolle sie das flimmernde Wesen bis zu den Sternen schleudern. Wie ein Geierschrei dringt es herab. – Noch hinter dem Vorhang, der im Tumult herabschießt, hört man diesen hellen, triumphierenden Schrei.