Willy Seidel
Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Willy Seidel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 
Drittes Bild

Der Apfelsinentrick

Zu Hamburg auf dem »Meßberg« steht ein riesiger Lagerschuppen: die »Kasematten«; dort werden die ausgebooteten Südfrüchte sortiert, aufnotiert und den Bestellern zugeteilt. Bei diesem Geschäft blüht der Gelegenheitsweizen der »Hoppenmarktslöwen« – jener sonnigen, weitbehosten, in Sweater und Schiffermütze gekleideten Existenzen, ohne deren Organisiertalent wohl manche Marktfrau aus ihrer wettergebeizten Haut führe. Denn die Hoppenmarktslöwen verhelfen einer jeden dieser Matronen zu ihrem Anteil und opfern – gegen geringes Entgelt – bei jeder neuen Sendung ihre Muße. Sonst könnte man sich gar nicht ausdenken, was für Schlachten geschlagen würden unter den Besitzerinnen der Fliegenden Gemüsehallen, bis in ihren Scheuern, das heißt unter ihren roten Pilzschirmen, alles in sicherer Hut verstaut liegt.

Eine dieser unbedenklichen Damen war es nun, die ihren »Assistenten« nicht nur durch großzügige Bezahlung überraschte, sondern auch durch ein unvermutetes Geschenk – vor dem er sich aber scheu zurückzog. – So fiel das Geschenk (ein temperamentvoller Knabe mit hoher Stimme) alsbald an die Spenderin zurück. Sie war nicht mehr ganz jung. und so äußerte sich ihr Mutterinstinkt mehr in mürrischer Pflichterfüllung als in übermäßigem Enthusiasmus. Zur Beaufsichtigung gab sie das Kind auch gern weiter, etwa wenn sie einen Köhm zu genehmigen oder einen anderen wichtigen Gang zu tun hatte – und so machte Sylvester schon in zartester Jugend die Runde unter den sämtlichen Pilzschirmen des Hopfenmarktes und tat Einblick in diesen Winkel der Menschheit – eine Tatsache, die ihn dem Leben gegenüber frühzeitig stählte. Später trieb er sich auch oft auf dem Bahnhof umher und entwickelte eine große Fertigkeit in kleinen Diebstählen. Die Vorsehung, die im Regenhimmel Hamburgs lauerte, schien ihn als Bagatelle hinzunehmen, bei der ein Einschreiten sich kaum verlohne – jedenfalls rutschte er der Polizei gewöhnlich durch die Finger. Selbst im Freihafen war er manchmal zugegen wie ein Mäuslein im Speicher; dort gelang es ihm jedoch selten, mehr zu erwischen als etwa ein Paket amerikanischer Zigaretten, deren Anpreisung: »You run a Mile for a ›Camel‹« wahr wurde insofern, als Sylvester mit der Beute mindestens eine Meile zu rennen hatte.

Schon des Säuglings Nüstern hatten einen ganz bestimmten Duft empfunden: an den Apfelsinen. Seine kleinen Hände hatten nach den goldenen Bällen getappt: sein Geschmack, sein ganzes Wesen war durchzogen und getränkt von dieser benebelnden Süße. Wollte die mürrische Matrone, seine Mutter, ihn ruhig bekommen, so brauchte sie ihm nicht jenes todsichere Schlummertränklein, nämlich einen Kaffeelöffel mit Wandsbeker Kümmel, einzuflößen – (brauchte sich also nicht selbst zu verkürzen); – sie hatte nur nötig, ihn in die Kasematten mitten in die rollenden Berge von Orangen zu legen. Tausende von umgestülpten Kisten spien ihren Segen in die Halle, der eilfertig aufgeschaufelt und gewägt wurde. Aus zerquetschten und zertretenen Früchten, aus gelbem und blutrotem Brei stieg der Süden auf wie ein süßes Gas.

Die Früchte, glatt und rund, glitten ihm durch die Finger, und seine Spiele mit ihnen waren noch ziellos. Eines Tages – (er mochte sieben Jahre zählen) – geriet er mit einigen anderen Straßenarabern seines Alters nach Stellingen. Dort in der Dressurhalle sah er eine Gruppe von Seehunden Nasenball spielen. Das Schauspiel der schlangenhaft sich windenden Hälse mit den spitzschnauzigen Köpfen, die große bunte Guttaperchabälle mit Nasenstübern steigen ließen – »ha–u, ha–u« dazu kläffend, – die feuchten, klatschenden Schwimmfüße – dieses Schauspiel bannte ihn so, daß er sein scharfgeschnittenes kleines Gesicht zwischen die Stäbe steckte und zur Freude des Publikums mitzubellen begann. Ein großer Seelöwe kletterte jetzt in monströser Weise über eine Pyramidenleiter und balancierte einen Chaplin aus Kapokwerg, und als er wieder auf seiner Trommel saß und schleimig-hohl hustete, schrie Sylvester vor Begeisterung so laut, daß der Dompteur Christian Lohmann ihn in den Käfig einlud und ihm erlaubte, den Seehunden halbe Schellfische zuzuschleudern . . .

Hier begann der Wendepunkt in seinem Leben. Er begann, es den Seehunden nachzumachen und zu jonglieren. Bald war er auf dem »Meßberg« eine gesuchte Persönlichkeit. Zuerst gelang ihm der Trick mit vier Apfelsinen, die er in allen möglichen Stellungen – liegend, im Hocksitz oder springend – aus der Luft holte. Die Anzahl der goldenen Bälle stieg, und mit der Zeit wurden es acht. Sein Honorar für eine solche Leistung war eine Gemüsemahlzeit oder etliche Groschen. Stets fand sich ein bewunderndes Publikum dafür. Sein Vater versuchte, da er eine Erwerbsquelle in dem Sohn witterte, sich ihm wieder zu nähern, doch die Mutter wahrte wütend ihre Vormundschaft, und sie war es auch, die den ständigen Bitten Sylvesters nachgab und ihn, als er zehn Jahre zählte, in den Zirkus Ortolani führte.

 

Mr. Tsing, ein Chinese aus Annam, vier Fuß hoch, schleuderte in Gemeinschaft seiner zahlreichen zierlichen Familie, in papageibunten Kitteln und unter hohen Vogelschreien, allabendlich Fontänen der unhandlichsten Dinge ins Bogenlicht. Sylvester war derart außer sich vor Anschlußbedürfnis an diese flachgesichtigen Wunderkinder, daß seine Mutter ihn kurz entschlossen zu der Truppe brachte, als diese hinter einem Zelttuch von Miniaturschüsseln tafelte, und es dem Vater und Leiter klarzumachen verstand, daß Sylvester in die Truppe aufgenommen zu werden wünsche. Mr. Tsing lächelte und wand sich vor höflicher Ablehnung, doch die Matrone vom Meßberg riß ihrem Söhnchen kurz entschlossen den Anzug und das Hemd vom Leibe und präsentierte ihn, wie Gott ihn geschaffen: sehnig, feingliedrig und voll verblüffender Gelenkigkeit.

Die sechs Chinesenkinder mit großen schwarzen Augen saßen einen Augenblick stumm, in Verblüffung versenkt über diesen blonden Körper, der dem ihren ähnlich und doch so fremd schien. Dann zwitscherten sie sehr erregt durcheinander in kakelnden und spektakelnden Silben. Sie sahen sich ähnlich wie Eier, und auch das Geschlecht war bei ihnen verwischt, weil sie die gleichen schwarzen Seidenhosen trugen und die gleichen bestickten Käppchen, unter denen ihre Frisuren verschwanden. So war es nicht ersichtlich, ob Sylvester es dem weiblichen oder dem männlichen Element in der Truppe verdankte, daß Mr. Tsing sich erweichen ließ.

Er bat ihn heran und betastete seinen Leib wie eine Violine. Besonders interessierten ihn Finger und Zehen. Dann ließ er ihn seinen Apfelsinentrick vorführen; sein Lächeln glitt aus dem der Ablehnung in das der Verwunderung hinüber – viele kleine Schnalzlaute gab er von sich. Sylvester durfte sich ankleiden, und vom nächsten Tage ab war er Schüler Mr. Tsings, und die schwarzbehosten, aalglatten kleinen Satane, in deren Mitte er geriet, machten sich zunächst ihren Spaß daraus, ihn mit kleinen Tücken und Intrigen zu verfolgen. Sie trainierten jeden Vormittag, und nach einigen Monaten war er ihnen auf den Fersen. Unzählige Male verletzte er sich an Tellern, die ihm an den Schädel flogen; an Messern, die er falsch erwischte. Doch seine große Gutmütigkeit und sein Ehrgeiz trugen den Sieg davon.. Sie ärgerten und verwöhnten ihn in einem Atem. Sie streichelten ihn und legten ihm Fallen; – sie stellten ihm kindlich das Bein und gurrten ihm wiederum Dinge ins Ohr – unartige, exotische Dinge, die er nie begriff . . .

Endlich kam der Abend, da Mr. Tsing ihn offiziell in der Gruppe mit auftreten ließ. Keuchend, beherrscht, äußerst fix und schmal, in schwarzem, blumendurchwirktem Kittel und die blonden Haare unter einem Käppchen versteckt, absolvierte er sein Debut. – Am Schluß der Nummer kam Mr. Tsings Glanzstück: das Boomerang-Spiel.

Er jonglierte mit zwei abgeplatteten Dolchen, zwei Holztellern und zwei geknickten Keulen. Zunächst stiegen diese Gegenstände organisch auf in engen Kreisen. Dann erweiterte sich ihre Flugbahn zur Ellipse, wie Blätter einer Blume schräg in den Raum hinein magisch sich öffnend und schließend. Die kleine nervöse Hand gab ihnen unerhört präzise Drehungen mit auf den Weg, – inneren Drang, umzuschwenken und zurückzukehren in die zauberhaft lockende Handhöhle – wie Vögel ins Nest. So stand Tsing breitbeinig da mit verzücktem Lächeln; tauchte die Hände in den Raum und vernichtete spöttisch das Naturgesetz. Immer ferner kreiste das Belebte, das von seinem Willen Geladene, um knapp am Boden – wie umgeknickt in der Bahn – zurückzutauchen: in einer zuckenden Sekunde gerettet von zwangsläufigem, atemraubendem Fiasko . . .

Sylvester wurde mit Leib und Seele ein Stück dieser seltsamen Maschinerie aus vergewaltigten Körpern – tierischen und menschlichen –: des Zirkus. Der Zirkus verschlang ihn und wurde seine Welt – troff auch das Mondsilber auf das gewaltige Zelt herab oder rüttelte daran peitschender Regensturm: – im Innern dieses zigeunernden Gehäuses, dieser aneinandergekuppelten Wagen schwärmte ein toller Rhythmus, wurde Wagnis auf Wagnis gehäuft.

Der plärrende Tubenschall des Orchesters vernichtete jedes Gefühl für ein Draußen, für eine Welt jenseits der grundlosen Segeltuchflächen. Nur hier innen war das Leben, wütendes, wildes, buntes Leben; – alles jenseits verblaßte. Aus irgendeinem wesenlosen Nebel kroch täglich der Ameisenhaufen, dreitausend Menschen aus Nirgendwo, – füllte schwarz, eine einzige brandende Welle von Klatsch- und Beifallsgetöse, die erhöhten Sitzreihen und wurde dann wieder, unter plärrenden Tubenstößen, ins Nichts hinausgesogen.

– – Kabylen stürmten auf zottigen Gäulen herein, wanden sich abenteuerlich, geschickt wie Marder, um die Bäuche der hastenden Tiere, kletterten an Sattelgurten und Mähnenknoten umher wie an Turnböcken und warfen ihre heiseren Wüstenschreie einander zu. Hierauf erbauten sie drei schwankende, steile Pyramiden, gekrönt mit trillernden, athletischen, zottelköpfigen Knaben wie mit Apotheosen junger Kraft. Die Gebilde fielen elastisch auseinander und lösten sich in rad- und saltoschlagendes Chaos auf.

Sechs Zebras liefen leicht bockend, Wildpferdzähne bleckend, mit getigerter Keulenkraft und feinem, hartem Hufschlag um die Arena.

Durch einen anderen Eingang schritt in rötlich-schwammiger Gedunsenheit das Nilpferd Graziosa, erkletterte zaghaft eine geschmückte Tonne und drehte den walzenförmigen Leib mit ungeheurer Bemühung dort umher, als sei es der Nabel eines Rades. Es öffnete ein maßloses Maul; ein hohler Rülpston stieg hervor.

Es gab acht Elefanten; sie trieben ihr ungeheures, träges Zeitlupenwesen mit läppisch hellem Trompetenschrei. Die ganze Welt war erfüllt von den schiefergrauen Kolossen, die sich zum Schluß auf der Brüstung der Arena niederließen und sich ihrer ungeheuren Gesäße zögernd zum naturwidrigen Zweck des Sitzens bedienten . . .

Nun kam der Clou, der Pferde-Akt, und der Stallmeister Daniel Petersen zeigte sich in vollem Glanz. Sylvester, der draußen auf seine Nummer lauerte, erlebte mit schauerlich-süßem Schreck seine tägliche Liebe, die ihm, dem Jungen, schwächend in die Knie fuhr: seine gleichaltrige Freundin, seinen Kummer und sein Idol . . . Die Kunstreiterin Camilla . . .

 

Sylvester war schon sieben Jahre Mitglied des Zirkus Ortolani. Die Annamiten hatten längst ein anderes Engagement gefunden und waren durch eine solid arbeitende Japanertruppe ersetzt. Sylvester nahm jedoch eine Ausnahmestellung ein, die sie ihm widerwillig einräumten. Er war ein Meister in seinem Fach; ein zweiter Rastelli. Er beherrschte den Boomerang-Trick und vieles mehr. Er wurde hoch bezahlt. Und sein Beruf hätte ihn völlig befriedigt, wenn ihn nicht eines immer wieder gestört hätte: sein Haß gegen den Stallmeister Petersen. Und dieser Haß war gewachsen die Jahre hindurch und war gereift im gleichen Zeitmaß mit der Anhänglichkeit, die ihn zu Camilla trieb.

Petersen war die Seele des Etablissements, der General all der Vergewaltigung von Mensch und Tier, eine gewaltige blonde Bestie, der seine Kommandos an der drei Meter langen, schußartig krachenden Peitschenschnur in alle Windrichtungen schleuderte und bedingungslose Unterwerfung forderte. Weitgehende Vollmachten der Direktion blähten seine diamantengeschmückte Hemdbrust. Sein Frack saß prall an den Hüften; sein Hemdkragen trieb sich wie ein Brett in die violetten, von geplatzten Äderchen überzogenen Wangen; der spiegelnde Zylinder gab seinem Kopf Distinktion und Verklärung; und auf seiner becherförmig gewölbten Lippe saß ein Schnurrbart von der Konsistenz einer Zahnbürste, gesträubt und hart. – Kurz, er war ein ansehnliches Exemplar eines Stallmeisters und ganz das, was man sich unter einem solchen gewohnheitsmäßig vorstellt. Der feinere Unterschied zwischen ihm und anderen Herrschern seiner Branche betraf jedoch das Seelische – insofern, als es nach allgemeinem Dafürhalten schlechterdings fehlte. Er war nicht tückisch, er war nicht gefällig – er handelte lediglich nach Zweckdienlichkeiten und füllte deshalb seinen Platz prachtvoll aus, assistiert von einem rothaarigen Pferdebesorger, Leibdiener und Sklaven, der auf den Namen Zorro hörte.

Was nun Camilla betraf, so hatte er dies schmächtige Waisenkind, das ihm aus einer polizeilich aufgelösten Artistengruppe zugelaufen kam, frühzeitig adoptiert mit der mürrischen Kalkulation, dieser biegsame und hübsche Körper könne Möglichkeiten enthalten, die sich verzinsen ließen. Die Adoption verlieh ihm Besitzrechte, und er ließ es sich angelegen sein, diese mit seiner Dreimeterpeitsche auszuschlachten und aus dem erschrockenen Kind alle Gewandtheit herauszukitzeln, die herauszuholen war – auf dem Wege der Hohen Schule.

Camilla war jetzt siebzehn, also so alt wie Sylvester, durchaus ein Geschöpf ihres gütigen Ziehvaters, mit einer verprügelten, sanften Seele und mit einer Hornhaut an Waden und Schenkeln. Seit sie die Hölle durchgemacht, – die er mit dem Namen »Training« belegte – hatte sich in ihr eine Stumpfheit eingenistet, die auch freundlichem Entgegenkommen trotzte. Petersen behandelte sie jetzt mit satter Ruhe und heimste ihre Gage ein. Er verwöhnte sie nur soweit, als ihre Gesundheit es erforderte – im übrigen hatte er sie ganz zu dem gemacht, was er wollte.

Wenn er sie vom Pferd hob unter prasselndem Beifall und sich mit ihr verbeugte, so blieb das mechanische Lächeln ihr auf den kindlichen Zügen stehen wie geronnen; – für Sylvester war es ein Alpdruck.

Er brauchte lange, bis er dieses Lächeln löste. Zunächst wurde ein tagelanges Schluchzen daraus und »eine Indisposition der Kunstreiterin Camilla«. Und als die Maske geschmolzen war, kehrte das Lächeln wieder – doch nicht seelenlos, als Grimasse »for show«, sondern verwundert und weich lebendig. Camilla begann zu lieben. Rückhaltslos und ein erstes, stärkstes Mal. Petersen nahm davon Kenntnis und verbat sich bei Sylvester allen Ernstes die Erzeugung derartiger Gemütswallungen, denn er habe viele Jahre ehrlicher Arbeit an Camilla hingehängt und gedenke vorläufig nicht, einen Flirt zu dulden. – Wonach er, im allgemeinen und in die Gegend hinein, zur Bekräftigung seine Peitsche krachen ließ. Sylvester war blaß geworden und hatte an diesem Abend kein Glück beim Jonglieren. Zweimal mißlang ihm der Boomerang-Trick. – So fing es an.

 

Es wurde immer schlimmer, immer eindeutiger mit dieser Liebe. Die Schicksalsähnlichkeit zog sie magnetisch zueinander, und beider Arbeit litt darunter. Der Zustand schien unhaltbar, und Sylvester ging wieder zum Stallmeister.

»Sie müssen wissen, Petersen,« sagte er, – »daß es kein Flirt ist. Ich will Camilla zur Frau.«

Petersen musterte ihn mit einem rohen Blick aus seinen vom Arenastaub entzündeten Lidern hervor. – »Sehen Sie mal, Sylvester,« sagte er fast gemütlich, – »ich habe das Frauenzimmer nun sechs Jahre lang trainiert und sozusagen ein Stück Resultat aus ihr gemacht. Das habe ich natürlich nur zu dem Zweck getan, um sie dem ersten besten jungen Messerschmeißer zum Präsent zu machen; wie?«

»Ich verdiene. Ich bin in der Lage . . .«

». . . eine Frau zu ernähren. – Lassen wir das bürgerliche Geschwätz. Darum handelt es sich nicht. Sie verdient ja auch.«

»Sie zahlt Ihnen natürlich Ihre Spesen ab, Petersen . . .«

»Sehr gütig. – Aber die nehme ich mir sowieso. Bis sie einundzwanzig ist. Aber auch dann werde ich verhindern, daß sie heiratet. Sie ist vorzüglich in Form. Wenn sie Kinder bekommt, ist es aus mit der Hohen Schule.«

»Von Kindern ist ja keine Rede, Petersen . . .«

»Was wollen Sie! – Sie sind verliebt. Wer garantiert mir . . . und überhaupt. Also – wir lassen das Thema fallen. Vier Jahre lang, mein Lieber, lassen wir das Thema fallen.« Er spielte mit dem Peitschenknauf.

»Haben Sie denn keine Spur von Herz?!«

»Ich sage Ihnen –« sagte jetzt Petersen und die Borsten an seiner Oberlippe sträubten sich – »lassen Sie das Mädchen in Ruhe!!« – worauf er sich sporenklirrend entfernte.

– – – Es passierte eine Woche später, daß die Peitsche des Stallmeisters beim Morgentraining sich in Regionen verirrte, an denen Camilla noch keine Hornhaut trug. Da er für ihr zimperliches Gewinsel, das daraufhin schallend einsetzte, kein Verständnis hatte, so gab er der vom Pferd Gerutschten noch einige erbauliche Schmisse, so daß die Schnur sich um ihre Brüste wickelte wie ein glühender Draht. Hierauf wurde sie still, doch Sylvester, der in der Nähe geweilt, äußerst lebendig. Er stürzte herzu und warf sich auf das Mädchen. »Sie Rohling,« keuchte er dabei, »– das werden Sie büßen. Ich werde Sie anzeigen. Ich werde veranlassen, daß Ihre Vormundschaft . . .«

Petersen war nicht dumm. Sein Gesicht wurde krebsrot, dann blaß. Er blieb schweigend stehen und nagte an seiner Lippe. Dieser Sylvester machte ihm allmählich zu schaffen, und so drehte er sich auf den Hacken um und ging hinaus. Ohne ein Wort. – Und bei der Jubiläumsfestlichkeit, die der Zirkus seinem Personal an diesem Abend gab, – bei einer Grog- und Sektsitzung im ersten Vereinslokal der Stadt, holte er sich seinen rothaarigen Sklaven heran und sprach mit ihm, lange und eindringlich.

Am nächsten Morgen bat er in milden Ausdrücken Sylvester um eine Unterredung. –

»Er gebe zu,« sagte er, »er habe sich hinreißen lassen. Nervosität, an der er in letzter Zeit leide, habe die Oberhand gewonnen, und so habe er beim Training das Ziel verfehlt. – Er habe das Pferd gemeint. – Es tue ihm leid.«

Sylvester traute seinen Ohren nicht, als er dies hörte – und noch unwahrscheinlicher klang das Folgende.

»Auch sei er zu der Überzeugung gekommen, daß er schließlich kein Recht habe, der Verbindung Sylvesters mit Camilla im Wege zu stehen. – Doch umsonst sei der Tod, und eine kleine Mut- und Geschicklichkeitsprobe von seiten Sylvesters sei das schon wert.«

Sylvester saß atemlos. – »Wenn es in sein Fach schlage . . .«

»Jawohl; in sein engstes Fach. Er, Sylvester, habe ihm einmal erzählt, er habe das Jonglieren an Apfelsinen gelernt. – Nun habe er, Petersen, so eine Apfelsinenkiste in der Nähe; ob er sie ihm zeigen solle –?«

– – – Sehr verwundert begleitete, als es dämmerte, Sylvester den Stallmeister. Sie gingen, in unauffälliges Zivil gekleidet, durch ein Gewirr von Altstadtgassen. Plötzlich zog Petersen einen Schlüssel hervor und öffnete nach vorsichtigem Umherspähen eine Kellertür. Es ging zwanzig Stufen hinunter, und eine Taschenlampe beleuchtete einen Berg von Gerümpel, das Petersen mit dem Fuß verstreute. – Endlich wurde die Apfelsinenkiste sichtbar. Sie sah alt und schmutzig aus. Petersen hob den Deckel: da lagen, hübsch und sorgfältig in Sackleinwand verpackt, nach der Schnur gereiht die gewünschten Früchte. Er enthüllte eine davon; sie hatte einen Griff aus Holz und bestand aus einem angerosteten Metallzylinder von einem Viertelmeter Länge. Oben war sie mit einem Schleifchen aus Kupferdraht geschmückt. – Petersen verfiel in ein lautloses Gelächter; seine Schultern zuckten.

»Na, wie gefallen Ihnen meine Apfelsinen, Sylvester? – Mein nettes kleines Lagerobst aus der Rätezeit?«

– – Sylvesters Augen glitzerten im Schein der Taschenlampe wie Sterne. »Sie sehen verdammt nach – Stielhandgranaten aus, Ihre Apfelsinen, Petersen.« Er lachte trocken.

»Sind es auch«, sprach Petersen beruhigend. »Sind es auch! – – Nun passen Sie auf: fünfzehn Sekunden, nachdem man die Dinger abgezogen hat, platzen sie. – Wenn Sie es fertigbringen, während dieser Viertelminute Ihren – Apfelsinentrick damit zu machen, und Ihnen sollte das nicht schwerfallen – ob es nun Messer sind, oder Fackeln, oder – – geladene Apfelsinen – Sie, der Meisterjongleur! – dann gehört Camilla Ihnen. Dann trete ich zurück. Nun?!«

 

Es ist fünf Uhr in der Arena.

Sylvester hat zwei der Granaten in der Rechten und eine in der Linken. Er, der Stallmeister und Zorro haben sie in diesem Augenblick abgezogen; nun begeben die beiden letzteren sich im Laufschritt hinter die Deckung einer hölzernen Logenwand in etwa achtzig Meter Entfernung. Von dort aus spähen sie durch eine Ritze.

Es sind drei Apfelsinen, die Sylvester in der Hand hat. Er soll sie handhaben, er soll sie dann in jenen Berg von Gerberlohe schleudern in der unschädlichen Richtung und sich platt auf den Boden werfen. Diese liebreiche Instruktion hat den Zweck, ihn mit vollster Sicherheit zu erledigen, denn woher sollte er wissen, daß solches Spielzeug nicht in der Luft zerplatzt, sondern sich flach am Boden verstreut? –

Kalter Schweiß bedeckt seine Stirn. Die tödlichen Geschosse steigen, von seinen klammen Händen mechanisch geschleudert, in die Höhe.

Eins folgt dem andern . . .

Acht Sekunden.

Er ist sieben Jahre alt.

Er steht auf dem »Meßberg«

Apfelsinenduft umhüllt ihn wie süßes Gas.

Man ruft ihm zu; man applaudiert . . .

Er hat die drei Stiele gemeinsam in den Händen.

Zehn Sekunden . . .

Plötzlich dreht er sich um und tut drei, vier lange Sprünge in der Richtung der Loge.

Ein helles Zetern steigt hinter der Wand hervor, knirschendes Poltern und Fluchttumult.

Man hat nicht damit gerechnet, daß er noch Zeit haben werde, diese vier langen Sprünge zu machen. Sylvester hört ein kurzes, hohles Husten, wie es die Seehunde seiner Kindheit hatten . . . ist das Petersen?! Doch dieser hustet nicht; er ruft, er bettelt; seine Stimme ist breiig zerborsten.

Und mit der letzten, der allerletzten Sekunde fliegt das Bündel mit mächtigem Schwung durch die Luft. Man hört es dumpf aufklatschen innerhalb der Loge.

– – – Sylvester, noch im Zug dieses Schwunges, fällt nach vorn in die Knie. Zerreißt ein knirschender Krach die Luft? – Sprüht dort angefacht von Höllenatem eine Kaskade auf aus Holzsplittern und zermahlenem Fleisch? – Sein Puls rauscht. Eisern fallen die Sekunden, tak, tak, tak hört er es in beiden Ohren . . . und die Stille bleibt wie ein Sumpf bestehen.

Nichts rührt sich.

Jetzt muß es geschehen – jetzt . . .

Die Stille brodelt weiter; ein brodelnder Sumpf.

 

Unendlich mühsam erhebt er sich endlich und geht auf die Loge zu. Voll Widerwillen späht er hinein.

Der erste, den er sieht, ist der rothaarige Zorro, der mit irren Augen und zähneklappernd ins Leere stiert.

Und in der anderen Ecke hockt Petersen. Zwischen seinen Knien, die spitz in die Höhe gezogen sind, liegen die drei Stielgranaten. Es sieht aus, als spiele er damit – wie ein Kind, das sich über seine Marmeln beugt – und sei darüber leblos geworden.

Er ist tot; der Schreck hat ihn getötet. –

Sylvester nimmt die Geschosse heraus. Der Rost, erkennt er jetzt, hat Löcher gefressen und Kellernässe ist ins Pulver gedrungen. Es sind Blindgänger.

Er klemmt sie unter den Arm und verläßt vorsichtig spähend den Zirkus. Unbeobachtet wickelt er sie in altes Papier und macht einen kleinen Morgenspaziergang nach der Binnenalster. Dort wirft er sie ins Wasser; und nachdem er das getan, sinkt er auf eine Bank und weint wie ein kleines Kind.


 << zurück weiter >>