Willy Seidel
Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Willy Seidel

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Sechstes Bild

Psyche und der Tod

Es war die Zeit des großen Cholerasterbens in Hamburg.

Vor der Einäscherung sollte in einem wohlhabenden Hause eine Einsegnung vorgenommen werden. Der offene Sarg stand in der Glasveranda unter den Blattpflanzen. Es roch nach Erde. Die Kranzblüten gaben letzten, durchdringenden Duft von sich. Durch die Glastür zum Garten loderte ein Übermaß von blauer Glut; – über den Rotbuchen an der Alster quoll eine Wetterwolke herauf mit scharfen Rändern. Sie wuchs erschreckend still.

Das Dutzend versammelter Menschen atmete hörbar. Der sechsjährige Jan Gustav, aus zartem Wachs, lag sehr still; sein farbloser Mund stand halb geöffnet. Auf der Brust umklammerte er, im Eigensinn des Todes, ein großes Bündel weißer Schwertlilien.

Senator Arensen tat einen haltlosen Schritt, dann fand er seine steife Haltung wieder. Seine hochgewachsene Frau griff zu und stützte ihn; auch sie trug einen mehr strengen als leidgebeugten Ausdruck zur Schau. So hatte sie keinen Blick zu verschenken an Ulrike, die man im Hause Uli nannte – ein siebzehnjähriges, aschblondes Mädchen, dem Bruder aus dem Gesicht geschnitten, schlank und blutarm. Diese lehnte an der Glastür. Die blaugeäderten, feinen Hände preßten das Taschentuch vor den Mund und zuckten.

Sie hatte die Nacht über geweint; der Schmerz malte einen haarfeinen, roten Ring um ihre Lider.

Mit bebenden Knien stand sie in einem Dunst von Verzweiflung und Kölnischem Wasser, und der Pastor Lüders, der jetzt hereinwallte, schenkte ihr einen verstehenden Blick.

Er blieb vor dem Sarg stehen und machte das Kreuzeszeichen. Dann begann er zu sprechen. Es war mehr darin als nur Routine; es war aufrichtige Zuversicht. Seine Stimme, leicht belegt, rührte mit ihrem singsangartigen, beruhigenden Hanseatentonfall wie Balsam an die Gemüter. Er wählte auch nicht seine gebräuchlichsten Worte, sondern wählte die selteneren, denn er war ein persönlicher Freund dieses alten, guten Patrizierhauses . . .

»Dies Kind ist zu beneiden. › Integrem vitae‹ – (warum soll ich nicht den frommen Heiden Horaz zitieren!) – also in großer Unschuld hat ihn der Genius des Todes entführt. Gott wird wohl gut wissen, warum Er die Geißel dieser Seuche schwingt; warum Er eine so große Heerschar von Kindern an Seinen Mantelsaum lädt . . . Ist nicht ein reines Menschenantlitz ein Spiegel vor Ihm? Und wo findet Er unter all den Erwachsenen, die Er zu Sich nimmt, noch ungetrübte Spiegel? – So dürfen wir nicht grollen. Gönnt nicht Gott uns Unendliches? Und sollen wir darum Ihm nichts gönnen und mit Ihm rechten und hadern? Nein, – wir beugen uns.«

In der Wetterbank zuckten lautlose Blitze. Pastor Lüders drehte sich halb und schaute hinaus, mit fernem Blick.

Dann fand er weitere Worte, so als seien sie ihm Silbe für Silbe signalisiert von jenem fahlen Zucken, das in regellosen Pausen dort drüben geschäftig war wie fiebernder Puls. Nicht umsonst betrieb er klassische Studien mit dem Senator in dessen Muße. So stellte sich denn für dies Haus, für diese »Pflegestätte frommen Heidentums« (wie er es bei sich scherzend zu nennen wagte), ein richtiger Vergleich ein, der sich noch dazu mit christlicher Empfindung wunderlich vertrug.

»Die unerleuchteten Alten, meine Freunde,« sprach er und wandte sich wieder den Trauernden zu, wobei er seine versenkten Blicke auf Uli ruhen ließ, »haben ein treffliches Symbolum gefunden auch für unsere Art der Erlösung, des Heimgangs. Auf ihren Stelen finden wir den Falter. Ja, wahrlich: im Puppenzustand sind wir und bereiten uns vor für Ihn, armselig gefesselt; plötzlich reißt die Hülle, – und was kriecht hervor? Was spreizt seine leuchtenden, unsterblichen Schwingen? Der wundervolle Falter: Psyche! Unsere Seele!«

Uli stellte sich den Falter vor, wie er sich vor dem heißen Blau tummelte, und ihr war, als fühle auch sie Schwingen sprießen und flattere empor . . . Sie starrte mit ihren trockengeweinten Augen auf das Gesicht des Knaben, das mit trotzigem Ausdruck unter den Schirmblättern lag.

Jetzt zitterten die Blätter; ein erstes Lüftchen tastete sich herein. Die Wolkenwand wuchs unaufhaltsam und murrte.

Keiner begriff, warum Uli plötzlich wie in kopfloser Angst das Taschentuch zur Abwehr schwenkte und hinausstürzte . . . Später fand man sie zusammengekauert zwischen den Büschen des Gartens.

Mit teilnehmend-väterlichen Fragen forschte der Seelsorger, was denn ihr Grund gewesen sei für so plötzliches Entsetzen. Und hier geschah es zum erstenmal, daß seine stets handliche Tröstung versagte; daß er trotz größter rhetorischer Routine ratlos war . . .

– – – Denn es ergab sich dieses: während er das holde mythologische Träumchen formte, war zwischen den Lippen Jan Gustavs kein farbenstrahlender Schmetterling aufgetaucht (wie die schwärmende Uli es erwartet) – sondern eine dicke, häßliche, metallisch glänzende Fliege.

Sie hatte auf der Nasenspitze Jan Gustavs ihren Borstenleib gestrählt und war dann, schwanger von Gift und Ausgeburt trüben Dunkels, mit rasselndem Brummen auf Uli zugesurrt. – – –

 

Sie spürte eine große Stille, die nur vom Geräusch kleiner Wirbelwinde unterbrochen wurde. Schwaden von Lindenblütenduft zogen umher. Dann fühlte sie die Hand des Pastors Lüders auf der Schulter.

»Uli . . .,« sagte er, ». . . was du gesehen hast, braucht dich nicht zu erschrecken. Auch die Fliege ist ein Geschöpf Gottes. Und . . . war es dein Bruder, der dort lag? Er war es ja gar nicht mehr! Das war eine Fälschung; eine Täuschung . . .«

»Wie sagen Sie?« –

»Eine Täuschung, sage ich . . . Denn er ist ja viel lebendiger, als er früher war! Er ist hier, im Garten; überall ist er, in der warmen Luft . . . Was geht es ihn an, was dort drinnen noch mit seiner törichten kleinen Form geschieht! Er will, daß auch du das Leben liebst, in jeder Form! Daß du es liebst bis zu dem Augenblick, wo dein Dasein so grenzenlos wird wie seines! Wo du dich losreißt und im Sturm fortgewirbelt wirst als geflügeltes Samenkorn!«

Uli blickte auf die Thujahecke.

Und da sah sie etwas Seltsames: Jan Gustav trat aus der dunkelgrünen Wand. Weiß leuchtend.

Er jauchzte mit gläserner Stimme und lief, so rasch ihn seine Kinderbeine trugen, die Hecke entlang dem Flusse zu.

– – – Währenddessen schritt die silberne Regenwand heran, in der Jan Gustav unterging. Und mit dem Bersten der Himmelsschleusen öffnete sich auch die Erlösung für Uli: das befreiende Weinen.

Ihre Tränen mengten sich mit dem niederpeitschenden, warmen Regen; auch der Talar des Pastors Lüders begann zu triefen. Und doch blieb er sitzen. –

Er war ein merkwürdiger, ein ungewöhnlicher Pastor.


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