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Der Asiate winkte ihm und führte ihn in einen Raum, in dem sich ein kleines Bassin befand.
»Wasche dich jetzt und ruhe dich aus.«
Als Harald in dem erwärmten Wasser lag, überfiel ihn ein unendliches Wohlgefühl, jedoch blieb sein Geist stetig dabei wach. Er schlief nicht wirklich, sondern es war das Gefühl des Entrücktseins, das er schon früher gekannt: – als schwebe er auf Luft, wie auf Daunenpolstern, in vollständiger Wunschlosigkeit. Dann, allmählich, meldete sich Hunger. Er begann, seine Umgebung zu betrachten, ihre raffinierte Einfachheit, ihren unaufdringlichen Luxus reizend und anheimelnd zu finden, und trocknete sich ab.
Langsam legte er wieder den schwarzseidenen, hemdartigen Kittel an, in den sein Körper auf einmal mit Widerwillen schlüpfte. Die Seide, statt zu kühlen, beengte ihn; irgendwo schienen die glitzernden Metallfäden im dunklen Blumenprunk der Stickerei seine junge, von leichtem Atem bewegte Brust einzudämmen und die zarte Haut mählich zu erhitzen gleich blutziehendem Pflaster, – überall schien sich der Stoff anzusaugen, so an den Knien; und die Regung der Schenkel schien behindert, wie durch fremdartig-lähmende Wollust, so als suchten sie Spielraum unter enger Nesselkutte.
Er versuchte, das Gewand wieder abzutun, doch seiner Hände, sobald sie die Hüfte berührten, bemächtigte sich Gleichmut und Schwäche; ja, jene Wollust mündete in den unbestimmten Wunsch von Selbstaufgabe, in fatalistischem Vernichtungswillen gegen sein eigenes, in köstlicher Jugend strotzendes Fleisch.
Jetzt ertönte ein leiser Gongschlag, der ihn in ein entferntes Zimmer rief.
Hier stand ein vollständiges, reichliches Mahl für ihn bereit. Nur fehlte ein Stuhl, und so ward es auf der Strohmatte, die den Boden bedeckte, von hübschen, fremdartig gezierten Tellern genossen. Dr. Sze zeigte eine befremdende Appetitlosigkeit. Er bediente sich zweier elfenbeinerner Stäbchen, mit denen er einige Reiskörner aufpickte und sie kurz vor dem Herabfallen auf äußerst geschickte Weise in den Mund schleuderte. Dazu trank er wieder seinen unvermeidlichen Tee. Er war mit seiner Mahlzeit schon längst fertig, als Harald sich noch mit dem ersten Gang beschäftigte. Als die Mahlzeit beendet war, warf er ein flaumleichtes Tuch über die Teller, und man zog sich in das ursprüngliche Empfangszimmer zurück, um bei dem Genuß einiger Zigaretten zu plaudern.
Während Harald gegessen und einen schier rasenden Hunger befriedigt, hatte er kaum Zeit gefunden, über sich nachzugrübeln.
Doch jetzt, bei türkischem Kaffee, drängte sich wieder eine mühsam zurückgehaltene Vorstellungswelt herzu, deren er sich kaum erwehren konnte: so als ständen vertriebene Gedanken, unendlich irdisch und zwingend, wie Bettler vor einer verschlossenen Tür und pochten und schrien unablässig. Doch das Tor seines Gedächtnisses war so fest verrammelt, daß ihre Klage nur wie leise Seufzer hindurchzudringen vermochte.
Ja, es seufzte in ihm, und er wußte nicht, woher diese tiefe Traurigkeit stammte; denn alles, woran seine Gedanken rührten, zog sich blitzschnell zurück gleich Schneckenfühlern, die er betastete.
Etwas war verschollen, etwas Unwiderbringliches, unendlich Wichtiges.
Er krauste die Stirn; seine Augen verloren schier ihren Glanz; mit einer entsetzten Bewegung faßte er auf einmal den Doktor nach dem Arm und fragte keuchend: »Mir fehlt etwas! Mir fehlt etwas! Seit wann bin ich hier? Und was war vorher?«
Der Chinese wandte ihm ein erstauntes, leeres Gesicht zu.
»Vorher? Sind wir nicht immer zusammengewesen, seit du denken kannst? Haben wir uns denn je getrennt? Bist du nicht mein kleiner Freund? Habe ich dich nicht großgezogen hier? Hast du je etwas anderes gekannt als mich, als dieses Haus, als die Halle da drüben?«
Harald schüttelte langsam den Kopf, aber es fiel ihm keine Antwort ein.
»Verzeihen Sie, » sagte er stockend. »Ja; Sie müssen recht haben . . . Ich kann mir nichts anderes vorstellen.«
»Es steht dir frei, dir Beliebiges vorzustellen«, meinte Dr. Sze achselzuckend. »Du änderst darum nichts an Tatsachen. Im übrigen haben wir es ja so gut, warum sollen wir uns nach etwas anderem sehnen?«
Sie rauchten schweigend weiter.
Wiederum fühlte Harald plötzlich die großen Hände gleich welken Blättern auf seiner Stirn, und als diese kühle Berührung ihn verließ und er wieder aufsah, waren auch die klagenden Bettler vor dem Tor, seine Gedanken an früher gewichen und alles in seinem Hirn erloschen – alles bis auf dies eine Gefühl, daß er sich wohlfühlte und es sein Leben lang nicht besser haben wollte.
So verrann die Zeit in ewig-gleichmäßiger Arbeit.
Was Haralds Mühe endlich herausgeschält hatte, und was dort in voller Größe thronte, war ein hockender, plumper Götze.
Trat man nahe an ihn heran, so löste er sich in seine Bestandteile auf, denn das Auge konnte seine Ausmaße nicht zusammenfassen. Man konnte auf ihm herumklettern, auf diesem Meteoriten aus kompaktem Nickeleisen, diesem Spiel der Natur, desgleichen man noch nie zuvor erblickt.
Sah man aber von unten herauf, so saß dort, auf eine solide Grundlage von Granit gebettet, ein schauervolles Monstrum. Es gehörte wenig Phantasie dazu, um den Block umzugestalten, um Arme und im Hocken gekreuzte Knie zu erschaffen. Die Arme waren formlos und in stumpfen Bogen nach innen gedreht. Es wuchsen abscheuliche Tatzen aus ihnen mit Dutzenden gekrümmter Krallen, die dicht unterhalb des Maules wie erstarrte Schaufeln hingen, so als raffe der Götze unablässig Fraß an sich, ohne doch je befriedigt zu sein.
Sein Ausdruck veränderte sich im Spiel der Beleuchtung kaum. Es war dieses stetige aufreizende, klaffende Grinsen. Nur zuweilen verirrte sich ein schwacher Widerschein von Metall in die Höhlen seiner Augen und schuf gespenstisches Leben darin, als rolle er träge Pupillen.
»Kein angenehmer Hausgenosse, wie?« sagte Dr. Sze, mit schwachem Versuch zu scherzen.
Er hielt sich jetzt des öfteren vergraben in Gemächern, die Harald noch nie betreten.
Da überraschte der Knabe den Doktor, wie dieser fledermausartig über einer auf dem Boden ausgespannten Rolle brüchigen Pergamentes hockte, die er sich am anderen Ende des Zimmers von einer elfenbeinernen Spindel gelöst hatte, und die von verblaßten, plumpen Schriftzeichen strotzte.
Es war dickes Pergament und glänzte ölig. Jedesmal, wenn der Doktor auf den Knien eine Zeile weiter hinunterglitt, knirschte es ledern.
Seine langen, gelben Nägel tasteten die Zeichen ab; seine Augen waren zu ganz dünnen Ritzen geschlossen. Harald, der lautlos in die Tür trat und ihn betrachtete, erkannte, daß der Schriftenkundige sich in einer Art von Trance befand, denn er wiegte den Kopf rhythmisch, und seine Stirn war gekraust.
Das war nicht der Dr. Sze mehr, der ihn damals empfangen, auch nicht der, der das Werk der Enthüllung geleitet. Dies hier war ein Greis von so uraltem Aussehen, daß es den Knaben fröstelte.
Es war ein pendelnder Totenkopf, wie Wachs glänzend; die Haare wirkten wie eine glanzlose Perücke. Die Haut über den Jochbeinen unterschied sich in nichts von dem Pergament: – sie war von tausend Fältchen zerknittert, und jettschwarze Liderritzen saßen in tief eingefallenen Kuppeln. Desgleichen schien auch die Nase geschrumpft und die Nüstern noch flacher, gleichsam erweitert. Die Oberlippe hatte sich in die Höhe gezogen und die Zähne ganz entblößt, die den Knaben auf einmal mißfarben dünkten und spitz vor Abgenutztheit und Alter. Trotz des schlotternden Kiefers waren die unteren Zähne nicht sichtbar, so daß der Doktor fast einem riesigen Nagetier glich, das der Tod vergessen hat.
Dr. Sze dachte. Er dachte so intensiv, daß er den Knaben immer noch nicht bemerkte. Er rutschte und murmelte, bis er das Ende des Pergaments erreichte. Dann ergriff er unten die beiden Ecken, löste sie vom Boden ab und, wie von einer Sprungfeder geschnellt, schrumpfte die Schrift zusammen; der elfenbeinernen Spindel zu.
Der Chinese blieb noch eine Weile sitzen. Dann erhob er sich mühsam, ruckweise; doch ehe er den Lauscher bemerken konnte, war dieser zurückgetreten, tiefsten Entsetzens voll.
Harald hielt sich eine Weile fern von ihm, bis wiederum der Gongschlag zur nächsten Mahlzeit ertönte. Es hatte eine Weile im Hause geraschelt, das hatte er gefühlt, wie wenn Dinge im Schwang seien, die er sich nicht erklären konnte. Aber als er eintrat, sah er seinen Freund wie immer am Boden hocken, mit glattem Gesicht, lächelnd und äußerlich kaum älter als wie vierzig Jahre, die er ihm gewohnheitsmäßig zugerechnet. Die Verwandlung war erstaunlich. Nichts deutete im Benehmen des Chinesen auf geistige Erschöpfung hin. Seine Zähne blitzten weiß wie sonst, seine Augen waren munter und flüssig, sein Benehmen heiter und sorglos. Er machte die gewohnte grandiose Handbewegung, die Harald an seinen Platz wies.
Es war in einer kühlen Maiennacht.
Die Hunde im Garten trotteten lautlos auf eine große, schwarze Figur zu, die aus dem Hause trat.
Auf ein leises Zischen hin wandten sie die schillernden Augen wieder ab und verloren sich im Garten.
Dr. Sze stellte sich auf die Estrade und zog ein Fernrohr hervor, mit dem er scharf den wolkenlosen Himmel betrachtete.
Dann tauchte er wieder in die Dunkelheit des Hauses zurück, dessen Messingtür sich leise öffnete und schloß.
Er trat in den Innenhof.
Grelles Tageslicht, das der unzähligen Birnen, schlug ihm entgegen. Er drehte es aus, und mit einem Male sprang die groteske Silhouette des schwarz dort oben hockenden Götzen, abgezeichnet gegen schwaches Sternenlicht, erstaunlich und befremdend hervor.
Dr. Sze hantierte eine Weile an der Wand, dann ging er ins Laboratorium und kam mit einem Instrument zurück, dessen Gebrauch er so gut zu kennen schien, daß ihm bloßes Betasten genügte. Ein leiser, klirrender Ton entstand oben in der Glasdecke. Er hatte soeben eine Hebelvorrichtung in Bewegung gesetzt, die eine einzige Platte nach innen klappen ließ, so daß der nackte Sternenhimmel dort oben hereinsah.
Langsam klomm er den Hügel herauf. Vor dem Meteoriten angelangt, zögerte er ein wenig. Dann betastete er ihn mit der Hand. Offenbar beruhigt von solcher Prüfung, stieg er mit unendlicher Vorsicht auf den Kopf, wobei er die Füße tastend in die Löcher setzte. Ganz oben richtete er sich im Hocksitz ein, so gut es eben bei der gefährlichen Beschaffenheit des Metalls angehen wollte, und stellte das dreieckige Instrument auf, was geraume Zeit kostete, da er der Stützpunkte nicht sicher war.
Leise murmelnd verglich er jetzt beim Schein einer winzigen elektrischen Birne gewisse Tabellen, die er mitgebracht; dann fügte er in das Gestell eine schiefe Röhre ein. Hierauf erhob er sich ganz und entfaltete ein trichterförmig geordnetes, schwarzes Tuch, das er dicht unterhalb der Luke an der Röhre befestigte. Dies getan, löschte er sein Lämpchen und versenkte sich in den winzigen Hohlspiegel, den er innerhalb der Augengrube des Götzen angebracht. Ein unfaßbar zarter, rötlichsilbern blinkender Punkt schwebte darin. Er verstellte den Hohlspiegel durch ein geöltes Schräubchen, bis das Strählchen genau im Brennpunkt saß, soweit er es beurteilen konnte.
Dann entfernte er den Spiegel und ließ nur die Linse zurück und den leichten Aufbau mit der Röhre.
Langsam schritt er wieder über den Hügel herunter und setzte sich unten am Fuße hin, wie um zu warten.
Leises Ticken ertönte. Der Apparat drehte sich in kaum meßbaren Evolutionen, um dem Saturn zu folgen und dessen gesammeltes Licht an derselben Stelle festzuhalten. Der Chinese verharrte lautlos und spähte scharf und unbeweglich hinauf. Mit einem Male ward er unruhig, atmete schneller und erhob sich aus seiner hockenden Stellung.
Er tat ein paar zögernde Schritte wieder den Hügel hinan, dann ballte er die Fäuste, so daß ihm die spitzen Nägel schier in die entfleischten Handhöhlen drangen, und murmelte: »Er ist erwacht. – Also doch!«
Er beugte sich nieder und krampfte seine Hände um die hervorspringenden Kanten der Steine; trotzdem fühlte er den starken Zug nach oben, als sei er ein Eisenfeilspänchen, von einem ungeheuren Magneten angezogen.
Er wehrte sich mit leisem Keuchen.
Er bot Willenskräfte auf, und wiewohl er es vermeiden wollte, schien es, als würden seine Lider von einer fremden Gewalt aufgerissen, so daß er unentwegt hinaufstarren mußte. Täuschte er sich? Glaubte er nicht zu bemerken, daß die schwarze Silhouette dort ihre Form leicht verändert!
Erde rieselte herab. Rätselhaftes Knistern entstand und auf einmal eine Folge von Geräuschen, die dem Zersplittern von Porzellan auf einem Blechdach glichen.
Das Metall dort oben schien in Bewegung geraten. Worin diese Bewegung bestand, konnte er nicht enträtseln. Dann klang es wieder wie das dumpfe Kollern von Erdmassen, wie vulkanisches Nachbeben einer terrestrischen Störung, als sei irgendwo das ruhende Gleichgewicht alter Gesteinsmassen erschüttert, und als wehre es sich, dumpf murmelnd mit metallenen Zungen. Der Drang in die Höhe; die Versuchung, dem Götzen wiederum nahe zu kommen, wuchs ungeheuerlich. Der große Mann wand sich, ja bäumte sich dagegen auf; doch ruckweise, gegen seinen Willen, schien er emporgezerrt zu werden. Er riß ein spitzes Messerchen hervor, stach es sich tief in den Arm, und indem er den Ärmel zurückriß, schleuderte er den hervorquellenden Tropfen gegen das dunkle Ungetüm.
Da flauten die rätselhaften Klänge ab und erstarben wie Nachhall fernen Gewitters, meilentief. Die Spannung, die entsetzliche, ließ nach.
Er torkelte den Hügel herab und tastete nach dem Hebel der Klappvorrichtung. Er riß ihn herum, die Platte schloß sich. Das elektrische Licht flammte wieder auf, und schwer atmend, gegen die Wand gelehnt, starrte er hinauf.
Zunächst konnte er nichts Ungewohntes an dem Götzen entdecken; alles verharrte dort in toter Ruhe. Da entfuhr ihm ein schwacher Aufschrei: – die nach dem Maule zu gekrümmten Tatzen ragten jetzt um etwa ein Viertelmeter verschoben von diesem ab. Sie schienen breiter geöffnet, und die gekrümmten, klauenähnlichen Gebilde hatten sich gestreckt.
Der Chinese betrachtete seine Arme, die Wunde blutete noch. Er stieg mit großen, stelzenden Schritten den Hügel hinauf, und ohne einen Moment zu zögern, bestrich er die Ränder des entsetzlichen Maules mit dem Rest des hervorgesickerten Lebenssaftes. »Diese Bindung ist keine dauernde«, murmelte er dabei. – »Es wird Zeit, daß etwas geschieht.«
Er ging ins Haus zurück und weckte Harald mit leichter Berührung an der Schulter. »Ich brauche dich«, flüsterte der Chinese. Harald folgte ihm, und Dr. Sze führte ihn in den Innenhof. Haralds Augen blickten klar hinauf, »Bemerkst du etwas?« fragte Dr. Sze. Harald schüttelte langsam den Kopf. Ein rätselhaftes, dünnlippiges Lächeln wie das eines Bedauerns entstand an dem Mund des andern.
»Die Akkader ahnten ihn; – doch, tief versponnen in verschollene Symbole, wie tote Puppenform und Mumie einer Seidenraupe, lag vergraben in unseren Schriften. Von seinem Dasein kam Kunde den Kabbalisten; sie nannten ihn Zazel, den Dämon des Saturn; sein Ort war ihnen fremd, doch seine Herkunft ward gedeutet; so lausche:
Der Saturn wird umflossen von einem Gürtel halbzertrümmerter Welten mit einer Schnelligkeit, die das Denken übersteigt. Er stieß dies Element ab aus seinem Körper. Es durchwanderte die Hülle des Rings, brach aus und hub seinen Irrgang an. Seine ovalen Bahnen wuchsen ins Maßlose. Es war ein fremdes Prinzip, vom Mutterkörper ausgespien. Es verneinte die immer rege Anziehung kosmischen Urleibes; am Ende gelang es ihm, die Spirale zu durchbrechen und in steiler Bahn durchs Weltall zu tauchen.
Stelle dir vor«, so ertönte die psalmodierende Stille (und doch bildeten sich aus mattem Tonfall ungeheure Bilder):
». . . die Erde ist lieblich, pflanzenhaft. Ein Kreislauf schneidet nicht in den andern hinein, sondern allen Wesens Bestimmung rundet sich ab in heiterer Selbstvollendung.
Die Farbe des Blutes ist unbekannt.
Nichts und niemand will dir übel, und wo das Organische sich breitmacht, da weicht das einzelne einander aus und gibt Spielraum.
Auf einmal erstrahlt ein rotes Licht in der Höhe der fernsten Luftschicht tiefer im Azur als jede erforschte Meerestiefe.
Das Licht erscheint nachts, wandelt sich in bengalische Weißglut, und dann geschieht ein Getöse, das noch nie gehört ward. Zersetzungswirbel durchfurchen die Atmosphäre; Springfluten kochen über an allen Gestaden; Grauen der Verwüstung durchpflügt die Stille der Schöpfung.
Das ist die Ankunft dieses Brockens von Eisen, dieses Stückes vom Saturn.
Die Erde erbebt; es stößt in ihren Leib. Ein Fremdkörper, sitzt es seither darin und schwärt. Das Gift, das es erzeugt, wirkt seit Anbeginn. Es ist das älteste Ding der Welt.
Ja, es ist um Jahrmillionen älter als diese Erde, und seine Eigenschaften sind darum auch nicht irdisch. Warum es diese Form anahm? Weil Zazel, der Ausgestoßene von droben, darin saß und seine Form sich abschlug in der Erstarrung des Flüssigen, so wie Blei sich gebärdet, das du siedend ins Wasser träufst; und nicht nur seine Form schlug er ab, es lebt seine Intelligenz in diesem Ding, die außerirdisch ist und grauenhafte Begriffsverwirrung erzeugt . . . Alle Kriege seit Menschengedenken bis zu dem kleinsten Mord, der unter Tieren sich ereignet, jeder noch so kleine Tropfen verspritzten Blutes nimmt seinen Ursprung von dem Ding. Blut kennzeichnet sein Gedächtnis von Anbeginn, und durch Blut ist es dir gelungen, wie man untrüglichen Wegweisern folgt, ihm auf die Spur zu kommen. Deshalb muß es vernichtet werden, und seine Vernichtung ist nicht leicht.
Gibt man ihm Blut (und sei es auch wenig), so hat Zazel zu verdauen; und währenddessen erlischt sein trüber Einfluß. Ist er aber hungrig (und er ward noch nie gesättigt), so strahlt er Gift aus; so frißt er alles mit der Gier des Magneten. Sein Hunger war nicht scharf gewesen in den letzten Jahrhunderten, weil überall auf der Erde, sei es hier oder ferne, Blut floß, doch gesättigt ward er nie. Er lag ständig auf der Lauer.
Das einzige, was ihn völlig bindet, ist die Erde, in der er steckt, und der Stein, der ihm im Alter nahekommt: der Granit. Empfindet er aber Verknüpfung mit seiner Urheimat, dann vergiftet er das, was ihm am nächsten ist.
Zuweilen wischten Regengüsse die Erde halb von seiner Stirn, und dann traf ihn ein Strahl des Saturn. Ich wußte dieses nicht. In meiner Blindheit grub ich ihn völlig aus; öffnete eine Platte und sammelte Licht vom Saturn auf ihm. Es geschah Entsetzliches; seine Kräfte wuchsen sprunghaft. Für wenige Tage ist er jetzt beruhigt, da ich ihn von meinem Blute gab; – doch ich habe nicht mehr viel zu vergeuden. Und sobald mein Blut versickert ist, geschieht Unausdenkbares –; denn – –«
Hier hob der Chinese seine Stimme ein wenig, und sie hatte einen erzenen Unterton – »denn dann muß er beschwichtigt werden, immer wieder beschwichtigt, und wir zwei können es nicht vollbringen. So steht es geschrieben: ›Wenn der Zazel wach ist, so mußt du Ihn binden durch Erde. Kannst du dies nicht, dann durch Gestein; doch willst du Ihn ganz vernichten, so mußt du Ihm sein eigenes Gewicht in lebendigem Blute reichen; und dieses Blut muß sein von einer Art.‹«
Eine Pause folgte. Harald saß gelähmt von der ungeheuren Eröffnung. Schneller sprach der Chinese, und sein großes, flaches Gesicht hob sich höher.
»So komm' und hilf mir, so lang er beschwichtigt ist. Wir müssen ihn wieder vergraben. Wir müssen eilen. Denke nicht nach. Nachdenken lähmt.«
Er ging mit großen, stelzenden Schritten in den Innenhof zurück.
»Hier, nimm eine Schaufel, steige in den Schacht und schleudere mir herauf, was du mit einem Stich heben kannst. – Ich werde dich stärken.«
Das grüne Fläschchen war zur Hand, und er träufelte ein Dutzend Tropfen dem Jungen verdünnt zwischen die Lippen. Harald fühlte seinen Körper stahlhart werden und geschmeidig zugleich. Bald stand er unten und förderte die Erde herauf gleich einer Maschine. Der Chinese schleuderte sie weiter mit gespenstischer Kraft, auf den Steinsockel hinauf. So arbeiteten sie unablässig eine lange Weile, bis Dr. Sze herabrief:
»Komm hervor, wir wollen zunächst versuchen, ihn zu blenden.« –
Beide wankten keuchend hinauf und mühten sich, die schweren Erdklumpen nach dem eisernen Antlitz zu schleudern, nach den gähnenden Höhlen darin. Doch dieses geschah: die Klumpen zersplitterten und rieselten wieder herab. Das Eisen blieb blank, und ein Spiel des Schimmers dort droben ließ ihnen scheinen, als verzerre ein unsagbar tückisches Grinsen das klaffende Maul.
Der Chinese ergriff mit den Händen einen Brocken Lehm und versuchte, zu voller Größe aufgereckt, ihn dorthin zu tragen, wo er ihn haben wollte; doch seine Hände erschlafften. »Versuche du«, murmelte er klagend, und seine Stimme hatte etwas Zersprungenes und Hohes zugleich, wie die einer Sibylle.
Harald reckte sich, von ihm halb gehoben, doch eine derart unirdische Kälte schlug ihm entgegen, daß er wie bei einem Brande das Gesicht mit den Armen schützte und aufschreiend zurückfiel.
»Es ist nicht möglich,« stammelte er; »ich kann es nicht.«
Beide taumelten hinab und rasteten wieder am Fuße des Hügels.
Nach einiger Zeit fanden sie ihren Atem wieder. Der Chinese saß unbeweglich und grübelnd, bis Harald ihn plötzlich entsetzt fragte:
»Was ist nun zu tun?«
Da schüttelte er das Haupt, hob wiederum das flache Gesicht mit jenem halb ekstatischen Ausdruck, den ein Übermaß von Qual verleiht, und sprach zischend: »Ich weiß es nicht.«
Bleierne Hoffnungslosigkeit senkte sich über beide. Plötzlich begann der Chinese unruhig zu werden. Er stand zögernd auf und tat einen Schritt nach vorn. »Die Bindung erlischt!!« flüsterte er rasend. »Reiß' mich zurück!«
Harald, selbst im Drang, nach vorn zu stürzen, gebrauchte seine ganze junge Kraft, mit der Linken die Klinke der Tür zu erreichen, während seine Rechte am Ärmel des Chinesen zog. Mit äußerster Anstrengung gelangten sie durch die Tür und schlugen sie zu. Beide schleppten sich weiter. Auf einmal ward ihnen leichter: ihre Schritte wurden ruhiger, und sie kamen am Ende des Ganges an.
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Ich sehe ein seltsames Licht vor dem Fenster kommen und gehen«, sagte Harald plötzlich. »Es ist wie das rotierende Licht eines Leuchtturms.«
In der Tat, ihm schien, als streife ein Lichtkegel durchs Gemach, wie das Ende einer Peitsche erglimmend und zuckend erlöschend.
»Ein wechselndes Licht? – Das ist Tag und Nacht.«
»Tag und Nacht?!«
»Es ist Zazels Einfluß«, sagte Sze. »Noch ist er nicht groß, noch ergreift er nur das Lebende im nächsten Umkreis. – Jene Intelligenz dort drüben brachte ihre eigenen Begriffe mit. Du bist ihr zu nahe gekommen. Du hast sie berührt, und so hat sie dich zu einem Stück ihrer selbst gemacht, dort, wo sie dich am schnellsten erreichen konnte: im Hirn.
Für das älteste Ding der Welt gibt es unsere Zeit nicht. Es brachte seine eigene Zeit mit.
Was sich sonst im Laufe von Tagen begibt, ja Wochen, das spindelt sich ab vor diesem Götzen wie das lose Spiel von Minuten. Es ist so von Ewigkeiten geschwängert, daß ein Menschenleben vor ihm ist wie ein Pilz, der zur Nachtzeit aufschießt, um schon im Entstehen wieder zu vermodern; wie ein . . . Fliegenschwamm . . .« – Es war, als koste Dr. Sze dieses Wort aus wie mühsam errungenes Wissen.
»Sahst du nicht (es ist nicht lange her) Schwalben um einen Turm segeln so schnell, daß du nicht einmal ihre Schwingen unterscheiden konntest? Hörtest du nicht im gemächlichen Rasseln eines Wagens das entfesselte Rasen durchgehender Pferde? Sahest du nicht die fliehende Schleppe von Staub auf einer Straße, und fühltest du nicht, mein junger Freund,« – hier legte er seine Hand auf den blonden Schopf – »daß dir die Sonne im Laufe weniger Minuten vom Osten her auf den Scheitel kletterte?
Dies alles dachtest nicht du; aber Er dachte durch dich, da du Ihn berührt hattest, ehe mir Kenntnis wurde von Ihm.
So auch jetzt spinnt sich draußen die Zeit ab. Doch sorge nicht, du alterst nicht mehr im Sinne der Menschen; denn auch das ewige Selbst seiner Form übertrug Zazel auf dich. Verwandtes Stück wurdest du ihm und mit Erkenntnissen belastet, die dir schwer erträglich dünken. – Doch es muß, es muß ein Weg gefunden werden, um aus dieser kosmischen Sphäre wieder ins Irdische zu gelangen: Er muß vernichtet werden; denn sonst« – hier stockte er ein wenig – »sonst vernichtet er uns beide.«
Harald saß tränenlos und starrte vor sich hin. Er glaubte zu begreifen, doch er fühlte sich von dieser schleppenden Stimme so eingelullt, schier verzaubert, daß er sich nur ahnungsweise eine richtige Vorstellung von dem Sinn der Worte machen konnte.
»Ich lasse dich jetzt für kurze Zeit allein«, sagte der Chinese. »Ich schließe dich ein, doch sorge nicht; es ist um deiner selbst willen gut so. Dein Begehren, zu ihm zu gelangen, wird wachsen. Du wirst vielleicht Qual empfinden; aber du mußt es ertragen; denn ich muß Zeit gewinnen, um aus den Schriften den Ausweg zu ergrübeln; denn es muß einen anderen Ausweg geben.«
Er sprang empor; leise raschelte die schwarze Seide und wallte von seiner mächtigen Gestalt herab. Ehe Harald sich besinnen konnte, schlug die schwere Tür ins Schloß. Er war allein.
Dr. Sze wandelte mit fliegenden Schritten in das Gemach zurück. wo die Schriftrolle lag. Wiederum entbreitete er sie und versank in tiefes Grübeln unter sechs flammenden Glühbirnen, die ihn kalkweiß bestrahlten. Wieder zog der runzelige Finger nachdenklich an den Kolonnen rechteckig verschlungener Zeichen herab. Er dachte und dachte so intensiv, daß die Schultern spitz heraustraten, daß sein alterndes Gesicht sich, sichtbar schrumpfend, pendelnd hin und her bewegte; daß die Pupillen sich schier gänzlich hinter die einsinkenden Lider versteckten.
Mit einem Male riß ihn ein scharfer Krach aus seiner Grübelei.
Wie ein Betrunkener hob er sich stolpernd in die Höhe, reckte sich dann auf und eilte den Gang zurück.
Die schwere Tür des Zimmers war erbrochen; eine unerhörte Kraft mußte Harald plötzlich beseelt haben, um sie zu sprengen.
Sze stürzte in den Innenhof hinein. Dort sah er die nackte, weißleuchtende Gestalt schon auf halber Höhe des Hügels.
Er eilte dem Jungen nach, als dieser sich anschickte, sich wie blind zwischen die ausgebreitet starrenden Tatzen des Ungeheuers zu werfen. Er krallte ihm die Hände in die Hüften und riß ihn mit äußerster Gewalt wieder herab. Gleichzeitig fühlte er die Kraft des Dämons erlöschen; und dies ward ihm erklärlich, als er die blutig geschundenen Handflächen des Knaben sah, die dieser wimmernd von sich streckte. So war Zazel für kurze Zeit geatzt . . .
Sze brachte ihn dieses Mal in ein anderes, noch entfernteres Zimmer, in welchem Wandspiegel von der Erde bis zum Boden hingen.
Die Tür war wie die des Einganges mit dickem Messing beschlagen. Er überließ den Fassungslosen sich selbst, schloß ihn ein und eilte zu seiner Schriftrolle zurück.
Harald blickte sich um. Was war ihm geschehen? Mit einem Male sah er sich in einem der Spiegel stehen.
Ja, als er sich umdrehte, ward sein Bild doppelt und dreifach zurückgeworfen von anderen. Ein Gedanke begann in seinem Hirn aufzukeimen und sich schmerzhaft zu entfalten. Statt dieses großen Spiegels sah er auf einmal einen kleineren vor sich, der an einer grünen Tapete hing, und darunter formten sich mühsam aus seinem Gedächtnis steigend die Umrisse eines Schreibpultes ab.
Wo war das doch gewesen, daß er sich selbst ins Antlitz gestarrt hatte, das letzte Mal?
Nackt und schlank stand sein Bild dort in Kristall. Seine Haare waren zerrauft und sein Antlitz weiß wie die Haut seines Körpers.
Einen Herzschlag lang tauchte ein Zimmer auf mit Möbeln, die er kannte, mit einem Bett und einem Fenster, das ihm vertraut war. Er versuchte, es festzuhalten, doch es entglitt ihm mehrmals. Endlich kam ihm die aufwühlende Erinnerung an das Früher; mit schreckhafter Deutlichkeit.
»Wo bin ich hingeraten!« dachte er fassungslos. »Was macht man mit mir? Wo hält man mich gefangen?«
Er drehte sich blitzschnell um, wie um Verfolger abzuwehren; doch die stumpf blinkende Messingtür war alles, was er erblickte. Kein Griff war daran wahrzunehmen, keine Klinke, kein Schloß. Nur dieses kahle Zimmer mit den Spiegeln und draußen das ewige, ermüdende Hell und Dunkel, das, sichtbar trotz des scharf bestrahlten Zimmers, hinter dem Fenster geschäftig war.
Er riß es auf. Es war mit schweren Eisenbarren verdeckt. Wind atmete ihm entgegen und das Draußen zerrte an ihm mit schmerzhaft rüttelnder Sehnsucht.
Die Augen von Tränen überquellend, preßte er die Stirn an das Gitter. Fliehen war sein einziger Gedanke, fliehen aus diesem verzauberten Haus, aus der Nähe dieses Gelben und des unheimlichen Kolosses dort hinten, der mit ihm spielte wie die Katze mit der Maus . . . Fieberhaft suchte er nach einem Gegenstand, der ihm helfen könne. Er erwartete keine Feile zu finden, aber vielleicht einen Hebel, ein starkes Stück Metall, um dieses Gitter auseinanderzubiegen und sich Durchlaß zu erzwingen.
Er fand nichts, was ihm hätte dienlich sein können. Doch war es auf einmal, als verleihe die Sehnsucht und der sich aufbäumende Wille zum Leben ihm ungeheure Kräfte. Er ergriff mit den Händen zwei der Gitterstäbe. Seine Muskeln spannten sich wieder wie Stahl, wie unter der Wirkung des grünen Giftes, mit dem der Unhold ihn verseucht. Die Stäbe wichen, und er preßte sich hindurch.
Er sprang auf einen freien Platz. Er sah auf einmal Baumwipfel, die sich schüttelten, und Dunkel und Hell wechselten langsamer, als erlahme die Feder eines magischen Spielwerks.
Da hörte er ein leises Rascheln, und drei schwarze Silhouetten, die der Hunde, standen unfern auf dem Pfad.
Verzweiflung gab seinen Schenkeln unerhörte Schnellkraft. Mit drei Sätzen sprang er auf das Parkgitter zu und zog sich blitzschnell daran in die Höhe. Ein Schnappen verscholl hinter ihm in die Tiefe.
Plötzlich hörte er eine ganz leichte, hohe Stimme unter sich.
»Vergiß nicht, wohin du gelangen wirst, wenn du dieses Gitter übersteigst.«
»Wohin? –« rief Harald heiser zurück. »In meine Welt zurück, in meine eigene, menschenwürdige Welt!!«
Ein bedauernd gurrendes Gelächter ward wach.
»In deine Welt? Wen glaubst du dort zu finden?«
»Die mir früher teuer waren!«
Das kleine Gesicht seiner Mutter stahl sich zitternd vor seinem inneren Blick vorbei; eine Geste seines Vaters, ein vertrauter Tisch und andere Gesichter, die er kannte, die ihn verstanden.
»Deine Eltern . . .?« sang unten die Stimme weiter – »du findest sie nicht mehr. Seit du hier bist, bist du selbst so alt geworden, wie sie waren . . .«
»Du lügst!« stammelte Harald herab. Und doch fühlte er, wie seine Hände, an die obersten Spitzen des Gitters geklammert, eiskalt wurden und erlahmten.
»Warum soll ich lügen?« erwiderte Dr. Sze. »Ich gebe dich frei!«
»Du gibst mich frei?«
Eine Ohnmacht überkam den Knaben. Seine Glieder lösten sich, er fiel herab. Die weite, kühle Seide der Ärmel des Untenstehenden schloß sich um seine Brust.
Harald, sein Bewußtsein bald wiedererlangend, spürte mit einem Gefühl größter Leere, in das er sich willenlos gleiten ließ: »Er hat mich nicht betrogen.«
Der Chinese brachte ihn in das Spiegelzimmer zurück und bettete ihn sorgsam auf herzugeschleppte Kissen. Dann betrachtete er ihn, und der Ausdruck jenes Übermaßes an Qual stahl sich wieder über sein flaches Gesicht. Mit einer Gebärde der Hilflosigkeit ließ er seine Hände aus den Ärmeln emporsteigen. Dann schritt er wieder heraus, schloß die Tür und näherte sich dem Pergamente, das er stehend und nachdenklich betrachtete.
Kein Sinn blitzte mehr zwischen diesen eckigen Zeichen auf.
Nur das eine wußte er jetzt: »Es gibt keinen Ausweg als den einen« – und sein Fuß trat verächtlich auf eine Gruppe von Zeichen, die ihm jene besondere, betäubende Erkenntnis vermittelt.
»Man kann Ihn nicht auslöschen, es sei denn, daß man Ihm sein eigenes Gewicht in Blut gebe.«
»Wohlan!« schrie er auf einmal, und es klang wie das Kreischen eines ungeschlachten Geiers durch die Totenstille:
»Wohlan! So soll dieser den Anfang machen! . . . denn eine Heilung gibt es nicht mehr.«
Die üble Zauberwirkung dort im Innenhofe war wieder geschäftig. Sze fühlte es in allen Gliedern. Er schlich sich den Gang hinunter und öffnete eine Ritze der Tür des Hofes. Jemand, fühlte er, stand innen hinter ihr und riß sie auf, mit elastischer und unnachgiebiger Gewalt. Wenn er sich hereinwagte, so würde dies kreisende magnetische Feld auch ihn in seinen Strudel ziehen! – aber er durfte nicht der erste sein, nicht er!! – denn er hatte zu tun, er hatte das Werk zu vollenden!
Mit äußerster Kraft schloß er die Türe wieder, die ihn hineinzuzerren drohte; dann schritt er zurück nach dem Zimmer, wo der Knabe lag. Er öffnete es und blickte hinein.
Dort lag die junge Gestalt wieder in Ohnmacht versenkt, dort lag diese gottgewollte Form, die zertrümmert werden mußte. Das Gesetz des Zazel wollte es so.
Und dieses Scheinleben dort eines so alten Wesens in einer jungen Form, die es Lügen strafte, hatte keinen Sinn mehr.
Er ließ die Tür offenstehen, warf noch einen sinnenden Blick auf den unbeweglichen Körper und wartete draußen.
Das Haus erzitterte von dumpfen Klängen, die er mit innersten Fibern spürte. »Wage ich es?« dachte er. Er holte ein letztes Mal den grünen Trank und schüttete den ganzen Rest mit einem würgenden Schluck herunter. Das feite ihn und gab ihm die Kraft, die vonnöten war.
Er ließ die Tür zum Innenhof aufspringen. Die stumm lauernde Kraft von dort oben brandete gegen ihn an, doch er fühlte, daß er noch widerstehen könne. Elektrisches Prickeln überlief seine Haut. Er tastete sich wie einer, der auf einem Schiff dem Sturm entgegenarbeitet und sich an die nächsten Gegenstände hält, die ihm sicheren Griff erlauben, die Wand entlang, bis er den Hebel zu der Glasplatte dort oben fand. Er riß ihn herum und sah in dieser scharfumrahmten kleinen Schlucht von schwarzer Bläue das rötliche Licht des Saturns flimmern.
Unendlich mühsam, Knie nach Knie vorstoßend, gelangte er wieder zur Tür und floh in den Gang hinaus. Dort wartete er.
Beide Türen standen geöffnet, die zum Innenhof und die jenes fernen Zimmers. Es währte nicht lang, so hörte er tastende Schritte vom Korridor her sich nähern: klatschende Geräusche nackter Sohlen. Harald taumelte heran. Sze sah den weiß leuchtenden Körper zunächst aus weiter Entfernung, dann rannte der Knabe in Sätzen an ihm vorbei, die Arme starr entbreitet.
Sze wagte sich in die Nähe der Tür. Das unterirdische Murren und Klingen von Metall ward lauter und dringender. Mit scharfem Böllerknall zersprangen mehrere Blöcke von Granit dort drinnen, als ob ein Riese sich in Fesseln rege oder eine tiefe Ladung Ekrasit murrend ihr enges Gefängnis dehne . . . Nun geschah ein Rasseln, wie wenn schwere Panzer oder Geschützrohre hügelan gezogen würden und funkenstiebend gegeneinander schlügen . . . Durch all diesen Lärm war noch die keuchende Stimme hörbar, die dort oben verklang, immer ferner und ferner. Da geschah ein Ton, wie wenn ein großes Stück Eisenblech über unebenes Pflaster gezerrt wird . . . Jetzt rieben sich die Zähne dort gegeneinander, jetzt geschah das Entsetzliche; das . . . Opfer!
Plötzlich war es totenstill.
Sze wußte, daß die Bindung, die stärkste bis jetzt, die man dem Götzen auferlegen konnte, Besitz von diesem ergriffen habe. Mit freien Schritten und einer qualverzerrten Miene schritt er durch die silbrige Dunkelheit und drehte die gesamte Schaltung an. Grelles Tageslicht überflutete den Hof, und droben begannen die grünen Lichter zu spielen. Dort hing auch der Körper des Knaben in den Eisenkrallen des Dämons, den Kopf zurückgeschleudert wie in der Inbrunst einer bedingungslosen Anheimgabe; und Blut tropfte von dem Eisen; lebendiges Blut. Es schimmerte aus den metallnen Augenhöhlen; schimmerte von den Zähnen; ganz gesättigt schien das tückische Bild, ganz überschwemmt vom Lebenssaft.
Dr. Sze stand starr. Dann machte er eine seltsame Gebärde, eine Art tiefe Verneigung. Seine langen Aermel berührten mit einem Schwung den Boden, und in gekrümmter Haltung stand er eine Weile, wie in Ausübung einer dunklen, fremdartigen Zeremonie.
Er schritt müde den Hügel hinauf und löste den Leichnam dort oben aus den gesättigten Pranken. Wie eine zerfetzte Blüte schien ihm das, was er zurücktrug. Er ging in den Garten. Dort bettete er ihn nieder. Die drei Hunde standen starr wie Wächter, sie rührten sich nicht. Er ging zurück und holte eine Schaufel. Dann grub er ein tiefes Grab mit ungeheurer Emsigkeit und Kraft, bettete den Körper hinein, schüttete Erde hinein und bestattete ihn unter schweren Blöcken von Granit, die er so leicht herzutrug, als sei es Kindertand.
Es geschah in einer unfaßbar kurzen Zeit, denn das Werk näherte sich seinem Ende, und dies alles war ihm so geläufig, als ob er es längst gelesen und gewußt habe.
Nichts befremdete ihn mehr, er wußte nur das eine: Jetzt hebt ein großes Morden an; aber es ist das letzte. Dies wird der Krieg, der jeden anderen Krieg sinnlos macht. Dies ist der letzte Krieg und dies sein erstes Opfer.
Es wird gemordet werden, bis all die Tonnen von Blut, die dies entsetzliche Wesen braucht, es gesättigt haben; bis dieser Fremdkörper im Leib der Erde irdisch geworden, bis diese schwärende Wunde, die seit Äonen die Menschheit mit Zwangsideen, mit Geistverwirrung, mit Selbstzerfleischung ängstigt, für immer und endgültig geschlossen ist.
Er schritt ins Haus hinein.
Die Türe zu dem Innenhof stand noch offen.
Er setzte alle Hebel in Tätigkeit, die die Wand bedeckten, und siehe da, das ganze Glasdach klappte auf; entfaltete sich klirrend.
Der ungeheure Sternenhimmel, wie ein Schacht, in dem silberne Welten sich bewegten Kolossen ähnlich, nach unfaßbarem Rhythmus, drang über ihm herein.
Und gleichzeitig, als sei es meilenfern, entstand das alte Dröhnen und Kollern: doch war jetzt ein Unterton dabei: war es dumpfer Rhythmus vom Marsch unzähliger Füße?
Oder war es das Stampfen eines mächtigen Mörsers, eines alles zermalmenden, auf erbarmungslosen Granit? . . .
An einem frühen Julimorgen erschien ein großer Mann in hellgrauem Anzug von englischem Stoff auf der Gasse des Städtchens.
Man hatte ihn nur in spärlichen Zwischenräumen gesehen. Er hatte von Zeit zu Zeit einige Geschäfte besorgt, einige Briefe aufgegeben und war dann wieder für lange Wochen spurlos verschwunden gewesen.
Es war geraume Zeit her, daß er sich hier angesiedelt. Ältere Leute wußten noch gut zu berichten, daß es eine Sensation einmal gegeben hatte, als dieser Chinese aufgetaucht war und sich dort im Walde das Laboratorium gegründet habe. Er war eine legendenumrankte Figur, ein teurer Besitz, eine Attraktion des Städtchens. Man sah ihn immer wieder gern, so selten er sich auch zeigte.
Heute schien Doktor Sze eine besonders wichtige Angelegenheit im Sinne zu haben; denn er lächelte nicht; wie es seine sonstige stereotype Gewohnheit war, grüßte auch nicht freundlich mit den schief geschnittenen Augen, sondern wandelte unentwegt weiter, bis er in das Gebäude einer bekannten großen Munitionsfabrik gelangte.
Dort ließ er sich beim Direktor melden und teilte ihm mit, er habe auf seinem eigenen Grund und Boden, ja sogar innerhalb seines Hauses, eine merkwürdige Entdeckung gemacht: Einen großen Meteoriten aus reinem Nickeleisen. Er stelle ihn den Herren im Bedarfsfalle gern zur Verfügung. Er habe kein Interesse mehr daran, und das Stück sei zu groß, zu wertvoll auch, um als Museumsschaustück zu dienen. Er habe allen Grund, anzunehmen, daß in allernächster Zeit, ja in den nächsten Tagen schon, ein Krieg ausbrechen werde, der alles bisher Dagewesene in Schatten stelle. Da sei es immer gut, eine Fundgrube für ein Material, das man ja immer zu solchen Zwecken brauchen könne, in dankbarer Nähe zu wissen.
Die Herren waren teils amüsiert, teils leicht befangen. Es waren ihnen bereits geheime Orders zugegangen; und sie hatten Grund, sich zu wundern, woher der stille Asiate seine Kenntnis beziehe.
Doch Doktor Sze sagte mehrmals eilfertig: »Es ist eine Annahme, verstehen Sie, nur eine Annahme! –« – und so wurde er unter Dankes- und Höflichkeitsbezeigungen entlassen.
Als nach einigen Tagen eine Kommission bei ihm eintraf, um den Fund festzustellen, war das Gebäude bis auf einige gleichgültige Möbelstöcke vollständig leer. Doktor Sze war nirgends zu finden.
Er war wie weggeblasen.
Drei große, halbverhungerte Hunde sprangen ihnen mit tückischem Knurren entgegen, und man mußte sie niederschießen, ehe man Zutritt zu dem Hause erzwang.