Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Botschaft durch den Regen

Ein eintöniger Regen trommelte auf das Wellblechdach. Die Hügelkuppen waren wolkenverhangen, soweit das Auge reichte.

Gerhart saß, halb in ein schottisches Plaid gewickelt, reglos an dem einfachen Tisch auf der Veranda des Hauses in Afiamalu.– Neben das Glas Portwein, an dem er zuweilen nippte, hatte er ein Buch zurückgelegt, das ein früherer Gast – seltsam genug – hier oben zurückgelassen haben mochte. Es waren die Erzählungen Stevensons; er hatte eben jenes unvergleichliche Prunkstück von Prosa, Ollala, beendet . . . Zu welch einem Instrument des Ausdrucks, dachte er, kann die englische Sprache werden, wenn sie in der Hand eines musikalischen Meisters ruht! –Seine Sätze haben den Rhythmus einer weich dahinrauschenden, in kühler Sonne glitzernden Brandung . . .

Gefühl äußersten Isoliertseins; Einsamkeit, in immer neu andrängenden Bildern sich um ihn türmend; Grundton der Melancholie gebundener Dinge, anschwellend, bis er in letztem Aufschrei birst –: dies alles stieg aus diesen Blättern auf, diesem schlechten Druck auf dem billigen Papier . . . Vereint mit der grauweißen Wasserdämmerung, umhüllte ihn die Betäubung des tiefen Eindrucks wie eine Wolke.

Der Nebel unter dem Regen legte sich in Stufen auf die abfallende Wiese; schwarzgrün nickten ungeheure Blätter, sprangen steile Stämme ertrinkend hervor. Neue Nebelbänke rollten ab; zerflossen und gruppierten sich um in tiefster Stummheit; es war ein langsamquellendes Prallen an lebende Hindernisse; ein Kampf weichen Erdrosselns . . .

Gerhart nahm einen Schluck von dem Wein; die innere Wärme breitete sich aus und zauberte Bilder aus dem Nebel. Seine Hände befühlten das Plaid, und es stieg sanft glühend und trächtig von Süße, Knaben-Schwermut empor –: dumpfes Eisensurren klang auf und metallisches 284 Dröhnen aus einer Welt, die nicht mehr Platz einnahm als zwei Sammetpolster einander gegenüber . . . Oder gab es noch, wie vor alters, einen Smyrnateppich, der in die Weite wucherte und unter einer dunkelgrünen Seidenportiere sein Ende fand –? – Und hinter dieser: – gab es noch die alte leise vertraute Stimme, und die müde nervöse Stirn mit graumelierten Schläfen, die unablässig rastlose, erdumfassende Pläne spann –? – Und jenseits der dicken Mauern des schmalen Hauses –: donnerte da noch das dunkle London –?

Er war nicht älter geworden.

Er hatte Muskeln von Stahl, fand sich, wie man wohl sagt, in der Welt zurecht und beherrschte Situationen als Mann gegen Mann.

Aber doch war er nicht älter geworden seit damals, als er zwölfjährig auf jenem Teppich lag, den Kopf in die eine Achselhöhle gesenkt, und sein Gesicht ihm aus der polierten Eichenstanduhr entgegenschimmerte als runder weißer Fleck.

Er traf wohl auf Roheit und rang sie lachend nieder; traf auf Dummheit und Herzensträgheit und stieß sie mit dem Fuß beiseite . . .: aber tief in ihm, anderen nie ersichtlich, fuhr der blonde behütete Knabe vom Teppich empor mit Abwehrgebärden; war in ihm Wut, Entsetzen und schrille Furcht vor etwas Unreinem, an dem er sich wider Willen besudeln müsse . . .

Wer war der Mensch dort mit dem Gesicht wie Käsepapier? – Mit der Kloakenseele? – Du Bestie; – wage dich nicht in den Zirkel meiner Teppichträume! . . .

Der Schutz des Mannes hinter dem Vorhang fehlt; auf denn, ihn wieder zu suchen! –

Er bricht an einer Bahre zusammen in einem gläsernen Haus; immer führt dorthin der Weg zurück . . . Der im Spitzbart öffnet die Augen und blinzelt ihm liebevoll zu.

»Mein junger Gerhart,« hört er ihn sagen; »fürchte dich nicht . . . Noch sind sie in der Überzahl; sie reißen dich hin und her, und noch hast du keine Heimat gleich mir . . . Aber 285 sei getrost; du wirst den mit dem Schlüssel finden; dann wird Frieden sein für dich und Unantastbarkeit. Mein armer blonder Sohn; ich mußte von dir gehen; doch ich bin überall und werde wachsen . . .«^

Wenn er sich nur immer an diesen Gedanken klammern könnte! – –

Durfte es sein –: ja, war es überhaupt möglich, daß es einer rothaarigen Fratze gelingen konnte, diesen Glauben zu erschüttern? – –

Gerhart ermannte sich und starrte in den Nebel. Der Widerwillen, mit dem er Grothusens gedachte, nahm die Form des Hasses an.

»Den Teufel . . .« meinte er zu sich, – »wie in aller Welt komme ich nur dazu, auch nur die flüchtigste Betrachtung an diesen ordinären Kerl zu verschwenden? – – Was hat er mir angetan? – Bin ich behext? – Wie hat er es überhaupt zuwege gebracht, selbst noch in meiner Antipathie einen Platz zu finden? . . .«

Von einer Möwenschwinge läuft das Wasser ab; – – auch wenn er sich im tiefsten Schlamm des Hafens getummelt, erhebt sich der Vogel wie ein Silberblitz . . . Hier aber wollte es scheinen, als sei es der Schwinge vorbestimmt, Spuren von Schmutz zu tragen; . . . als wirke die Besudelung strahlenförmig, und jede kleinste Daune fühle sie und spreize, plustere sich in Abwehr . . .

»Es scheint, ich bin ein wenig zu zart geraten für meine Jahre,« unterhielt sich Gerhart mit seinem jüngeren Ich.

Und dieses erwiderte: – – »Mein lieber Freund Gerhart Ollendiek: – just das befürchte ich auch . . . Du bist jetzt mehr als eine Dekade älter! – – Deine Haltung ist lebensfeindlich! – – Ich warne Dich! . . .«

»Ich weiß das . . .« gab er zu. – –

Er grübelte . . . Doch keine Hoffnung; keine Lösung stellte sich ein, der es sich verlohnt hätte nachzuforschen . . .

 

286 Der Regen trommelte unablässig auf das Wellblechdach.

Der alte Carlson bewegte sich als krumme Silhouette auf einem Vorsprung umher, um die letzte Kuh hineinzutreiben; die Stimmen der beiden Mädchen klangen wie Frage- und Antwortruf der kleinen flüchtigen samoanischen Papageien zirpend vom hinteren Teil des Hauses und gingen in den Regengeräuschen unter. Die Sonne verblutete mit maßlosem Prunk hinter einer Wolkenlücke; Widerschein einer Brunst von Rot und Gold, wie vom Brand mächtiger Traumstädte, hing fransig über den tiefsten Bäumen und versank in des Urwalds samtener Schwärze. Noch herrschte Helle, fahle Halbhelle, in der alles erkennbar aufschwankte, von der Abendbrise bewegt; Gerhart wußte: der Tag, hier oben schon auf dem Sprung, zögerte unten noch am Strande.

Plötzlich hatte er das dunkle unabweisbare Gefühl, daß jemand auf dem Weg sei zu ihm. Das Gefühl ward so stark, daß er sich erhob und nach der Richtung der Straße spähte . . . Verwundert über die seltsame Anwandlung, für die er sich keine Rechenschaft geben konnte, trat er zurück und setzte sich wieder, in Sinnen versunken. Tap, tap, tap kam ein Schritt, ein weicher Schritt, geradeswegs auf ihn zu . . . Doch nein; das war der Regen, der mit weichem Glucksen in die überfüllte Tonne lief. Es huschte ums Haus. – Auf einmal klang der Takt des Schrittes wieder auf, fern und verweht; wurde undeutlich; nahm längere Pausen; rannte dann in schnellerer, immer leiserer Lautkette; verwirrte sich und verstummte. – Die Nacht war da; tintenschwarz und sternlos.

Aus dem Hause schoß der gedämpfte Strahl einer Lampe. Eines der Mädchen kam und setzte sie auf den Verandatisch. Mit unendlich trägen Bewegungen brachte sie ein karges Abendessen, Stück nach Stück; als Gerhart sie mit einer Bemerkung belohnte, lächelte sie töricht und sprach drei unverständliche Worte – auf schwedisch, wie ihn dünkte. Jeder Versuch zur Verständigung war nutzlos; das sah er 287 ein. Als sie fertig war, strich sie sich das fettige weißblonde Haar aus der Stirn und wartete. Er nickte, und sie zog sich schlürfend zurück. – Darauf hörte er einen eintönigen Singsang; ein langgezogenes »M–m–m« aus dem Kellerraum des Hauses und wußte, daß der alte Carlson nicht mehr zu ihm kommen werde. Es klang wie das Summen eines großen Käfers; auf einmal verirrte sich dieser Käfer; geriet in eine dunkle Gruft, an deren Wände er rasselnd prallte, und fiel, gleichmäßig weiterrasselnd, auf den Rücken. Der Greis hatte sich in den Schlaf gelullt; vielleicht an der Hand einer stillen sanften Trunkenheit. Die Einsamkeit schwoll wieder um Gerhart auf; er aß wenig. – Was bleibt mir übrig, dachte er, als dem Beispiel des alten Mannes zu folgen . . .

So saß er da vor dem schwarzen Vorhang der Nacht.

Zuweilen blähte sich dieser Vorhang, und Perlenschnüre blitzten weiß daran auf: der Regen.

Allerhand Farben schwammen quirlend mit; dann und wann fiel ein verschwommenes Gesicht mit den Tropfen herab, das er nicht erkennen konnte.

Eines, das immer wiederkehrte, hielt sich einen Pulsschlag lang zitternd; ein gespaltener Mund stand darin wie ein Dreieck . . .

Gerhart kniff die Augen zusammen, nahm einen Schluck und öffnete sie wieder. Eine leicht grünliche Farbe hatte auf diesem Gesicht gelegen, an die er nicht denken wollte; ein Ausdruck von grotesker Pein . . .

A bas! – – Nichts war da. Er war nervös geworden wie ein Weib . . .

Jetzt jemand zu haben, dachte er, mit dem man sprechen könnte!

Er erinnerte sich des jovialen Mr. Harrigan . . . Es ist dumm, daß ich mich nicht länger bei ihm aufgehalten habe; er hatte Humor und Güte. Ich glaube, er hatte mich gern . . . Er sann nach, und das Bad mit den Kindern in Safune fiel ihm wieder ein. Es funkelte und leuchtete vor der 288 Wand der Nacht. Wie schön war das: schwarze Lockenstrudel, aus denen Silber spritzte . . .

Und da, als könne es nicht anders sein, gebar sich etwas aus der Nacht; entsprang etwas Faßbares dieser Regengruft . . . Zwei braune Hände schoben sich auf das Geländer. Sie verloschen nicht; sie blieben da.

Gerharts Pfeife, die er gerade entzündet, fiel auf den Boden und sprang auseinander.

Und so – mit denselben Bewegungen des Schattens, den er in Tufu erblickt, glitt dieselbe Form herüber. Ein Kopf erschien; eine junge hagere Brust, weich von Rippen gezeichnet, und zwei schlanke, kräftige Beine, die sich schnell über das Geländer schwangen. Es lebte, atmete hastig, sprühte und tropfte von kalter Nässe.

Ein nackter brauner Knabe stand auf der anderen Seite des Tisches.

Es war Petina. – Er hatte ein beschmutztes und nasses Stück Papier in der Hand.

 

Sich ermannend sah Gerhart, daß der Junge – überronnen von den Strömen, die aus der schwammartig getränkten Haarkappe quollen – vor Kälte bebte, und daß die weißen Zähne, im Lächeln entblößt, sich aufeinander rieben. So lockte er das junge Urwaldtier zu sich heran, knöpfte das naßkalte Hüfttuch auf, nahm das warme Plaid und rieb den zitternden Leib kräftig damit ab. Dann hüllte er es bis zum Hals hinein und bot ihm einen Schluck Portwein an. Zunächst zuckte Petina vor dem Glas zurück wie ein Fohlen, das seine weiche Nüster an einer Distel zersticht; dann wurde er zutraulicher und tat einen kleinen Schluck. –

»Sei begrüßt, Petina!« sprachen Gerharts Augen. – »Ich wußte, daß du kommst, mein kleiner Bruder; ich habe dich erwartet! – Wie gefiel dir die Wanderung im Regen?«

Und dies war's, was Petinas Augen zu erwidern schienen:

»Der Regen begann bei Tanumalēto; hinter Vailima . . .

Am Strand hatten wir nur ein kurzes Pladdern; schnelles 289 Herabzischen weißer Tropfen . . . Die Sonne ist zu mächtig – dort am Strande.

»Aber steigt man, steigt man . . . dann greifen die krausen Wipfel nach den Wolken und lassen sie nicht los; und die Wolken vergessen es, zu segeln; sie betten sich, wälzen erdmatte Schwaden herab; spitze Wipfel durchbohren sie, und aus den Löchern quillt ihr graues Blut in stetem, endlosem Rieseln.

»Nicht schütteln sie wilde, flüchtige Wassermengen aus, in silberner Unbeirrtheit des Weges wandernd, Spritzer von Segen schleudernd nach sonnigen Flachgefilden –: in die Hügel hängen sie sich und rasten in der großen Schwermut unendlicher Wiederkehr . . .

»Warum ich die Stirn krause, willst du wissen, mein weißer unwissender Bruder? – Weil ich dir etwas berichten will, was du nicht glauben wirst – und doch war es so:

»Meine Freunde, die Bäume, sind mitgewandert.

»Wenn ich schnell den Kopf drehte, um sie zu ertappen, war ihre Bewegung erstarrt, und sie neckten mich mit ihrem Stillstand; wandte ich aber die Augen ab, so versichere ich dir: sie huben hinter mir zu wandern an . . .

»Der Wald dröhnte; er donnerte von Regen; und wenn du Gießbäche zu hören meintest, so war's die Summe der schluchzenden Geräusche aus nah und fern – – monotones Trommeln war's und spritzender Triumph. Dabei verschlangen sich die Rinnsale rostrot in der grauen Wasserdämmerung; Dickichte schluckten den gelben Sturz. Lichter verloren ihre Bedeutung; da war nicht dunkel noch hellgrün mehr; alles ward regenfarben.

»Mein Freund der Aoa wiegte in seiner Krone eine kleine Wolke ganz für sich und saugte sie auf; jede Fuge seines gelbgrünen Leibes schwitzte rinnende Perlen.

»Das eisenharte Holz des Poumuli trank; ich, Petina, habe es trinken hören. Es ist, wie wenn man den Mund spitzt und die Luft einzieht: ein feines tausendfaches Sieden.

»Fau war wild erregt; seine herzförmigen Blätter 290 schwankten im Tumult und peitschten die gelben Blüten; seine hastigen Atemstöße schickten Vanilleduft herab; den halben Weg über drohte er mir und spornte mich an, ähnlich wilde Gebärden zu machen.

»Und der hochstämmige Farn! –

»Er spreizte sich; jede Fieder lechzte an seinem kostbaren Schirm!

»Er ist von allen der Lebendigste, daß ich dir's anvertraue; – Gatai mit seinen Dornen und A‘ute, im Brautschmuck zu purpurnen Schnüren gereihter Kandelaberblüten, sind stummes Holz an ihm gemessen; sind tot trotz kletternder Stränge und Zweigglieder!

»Denn der Farn schießt empor, schlank und schnell bis zu meiner sechsfachen Länge; seine Kinder am Boden reichen kaum bis zur Höhe meiner Scham: auf einmal steht er da; mächtig und vom Stammumfang meiner Schenkel; und seine Blätter, in die man mich wickeln könnte, spotten meiner Knabenstärke!

»Jede Fieder schleudert der anderen einen Tropfen zu; wechselnd wogen sie auf und nieder im entfalteten Schirm; stören Brisen ihn auf, so spreizt er sich höher und eitler; unerreichbar schwankt die hellgrüne Sternform, während das Seidenhaar der Rippenkeime von zerstäubtem Geschmeide funkelt! . . .

»Durch all das Getümmel kämpfte ich meinen Weg. – Tausendfache Form raunte um mich . . . Es wurde schwarz, und der Kampf nahm zu. Die Herzen der Bäume begannen zu sprechen . . . Sie sprachen: ›Was eilt dort, erdfarbene Form, winzig und tief unter uns, den Turmhohen, dahin?‹ . . .

»Die Schöpfung spähte mir nach. Stumme grüne Blicke trafen mich: phosphorleuchtende Pilze blinkten im Unterholz. Die Bäume neigten sich, mich zu betasten. Schlinggewächse zielten nach meinen Waden, als ich mich von der Straße auf die Seite verirrte.

»Samtene Blätter tasteten über meinen feuchten Leib; 291 meine Kniee zerrissen die Verkettungen schleimiger Zellenbrunst; meine Hüfte spaltete Klumpen von Knospen und brach sie knirschend auseinander. Tote Äste stachen nach mir und krachten unter meiner nackten Sohle; Krallen griffen aus dem Dunkel und zerrten an meinem Lendentuch . . .

»Doch ich fand mich auf den Weg zurück. Und dann sah ich das Licht, und das Licht lockte mich an . . . Die Bäume hinter mir klagen nach demselben Licht; hörst du sie klagen? – Aber sie können mir nicht nachschreiten hierher; ihre Bahnen sind vorgezeichnet; ihre Körper gebunden, riesenhaft gebunden dort im Dunkel . . .«

Solches las Gerhart aus den dunklen Augen, die ihm verloren und scheu entgegenstarrten . . .

 

Nun sah sich Gerhart den Zettel, den Petina gebracht, näher an. Die Schrift war in Bleistift; die Buchstaben vom Schwung altgeübter Kontorkorrektheit. Doch hatte die beabsichtigte Kalligraphie, besonders wo sie zu Schnörkeln gedeihen wollte, mehrfach Schiffbruch gelitten. – Die Mitteilung selbst lautete:

»Schicke erwähnten Sohn Ferdinand – Wird Sie morgen nach Mata‘utu begleiten – Wichtig für Sie – Bin krank – Nichts für ungut – Was?

Gustav F. Grothusen.«

 

»Was habe ich mit ihm zu schaffen . . .« dachte Gerhart, und der Widerwille zwang ihn, das Papier fahren zu lassen, es schaudernd meidend wie die Berührung einer unreinen Hand. Er blickte auf und sah zwei weichgeschlitzte braune Augen – glänzend gleich regenfeuchten Beeren im Unterholz – erwartungsvoll auf sich geheftet. Petina hatte sich auf dem Boden niedergelassen. Das Plaid war von den kreuzförmig verschlungenen Beinen herabgeglitten; die schlanken Schenkel öffneten sich glänzend und glatt, von der rauchigen Farbe alten Elfenbeins. – Halbgetrocknete 292 dicke Büschel von Strähnen standen ungebändigt gleich einer wilden Gloriole vom Haupte ab. Das kecke Gesicht mit den weichen Backenknochen, besetzt von tiefschwarzer Wimpernseide, hob sich, die Witterung prüfend, in den goldenen Lampenstrahl.

»Verstehst du deutsch?« fragte Gerhart.

Ungeheure Konzentration vollzog sich in dem kleinen Gesicht; auf der weichen Stirn, die dicke Falten warf. – Ein Examen stand bevor; eine Untersuchung, geführt in erhabenen, fürchterlich abstrakten Begriffen, denen sein Hirn hoffnungslos widerstand . . .

»I,« stieß er hervor. – Seine Kehle schwoll; seine Hände tasteten auf der Brust umher. – »I–ch . . . splä–ch . . . deits.« – Er lächelte atemlos und wartete die Wirkung ab. – Die »ch's« sprach er rauh; fast mit dem Wert »k«. Die Zunge des Samoaners bewegt sich ganz vorn zwischen den Zähnen; da ist ihr eigentlicher Tummelplatz; »r's« und »ch's« hingegen setzen Organe in Tätigkeit, deren Dasein sie neu entdecken müssen. – So schien die Tatsache, daß man den Schlund auch zum Sprechen gebrauchen könne, dem Knaben auch jetzt nur zögernd einzuleuchten. – Zunächst nahm er weiteres vorweg, indem er sprach: »I–ch . . . pitte . . . kofe.«

Gerhart bereitete sofort auf dem Spirituskocher eine Portion Kaffee für sich und seinen jungen Gast. Petina schlürfte das heiße Getränk ohne Zucker und Milch aus einer großen Tasse, die ihm sehr gefiel. Er betrachtete sie lange und setzte sie dann neben sich hin; mit ritueller Bewegung. – Nun war er warm und zu Aufklärungen über das Tun und Treiben seiner gesamten Mitwelt erbötig – wenn es nur – gütiger Himmel! – mit dieser Bereitschaft sein Bewenden gehabt hätte! – Er vergaß sich und schwatzte eine lange Mitteilung in seinen gurrenden Mutterlauten; dann, die Ratlosigkeit Gerharts begreifend, lachte er halb belustigt und halb gelangweilt auf.

293 »Der . . . Vater . . . ist . . . klank,« buchstabierte er, wie aus der Fibel.

»Was fehlt ihm denn?«

Petina faßte nach seiner Kehle und schnitt eine Fratze. »K–l–a–n–k,« wiederholte er. Er deutete Luftmangel an; dann lächelte er wieder erwartungsvoll. – »Fiva,« setzte er hinzu. – Da er Gerhart nachsinnen sah, nahm er an, dieser habe ihn immer noch nicht verstanden; so gab er eine kleine Vorstellung. Er rollte sich auf dem Boden umher und schlug mit dem Kopf rhythmisch nach rechts und links auf die harten Bretter auf.

»Sieh da,« dachte Gerhart. »D. T. – Das war zu erwarten. Was habe ich damit zu schaffen?« – Und laut sagte er – mehr bestätigend als fragend:

»Ich weiß. – Zu viel Whisky.«

Doch Petina hatte offenbar eine ganz andere Wirkung seiner kleinen Schauspielerleistung erwartet, denn er setzte sich straff auf, schüttelte heftig den Kopf und rief scharf, beinahe gellend: »Leai!! – Leai le Viski!« – Ja; es war erstaunlich; er nahm Partei! – Partei für seinen Vater! – Dahinter mußte etwas Bedeutsameres stecken. Gerhart war über den Erfolg seiner Äußerung immer verblüffter; denn Petina fuhr fort, Grothusen gegen die Zumutung in Schutz zu nehmen. Erstand auf – indem er das Plaid nach Art eines Lavalava mit einer Hand wieder um seine Hüfte drapierte – und näherte sich Gerhart stolpernd, als wolle er das Spiel: »Wettlauf im Sack« gewinnen. Um seinen Protest zu bestärken, versuchte er Gesten mit beiden Händen zu machen; dabei glitt er aus und wäre mit dem Kopf gegen die Tischkante gefallen, wenn Gerhart ihn nicht aufgefangen hätte. – »Leai le Viski!« wiederholte er dabei unablässig. »Fiva! Fiva!« – –; und schüttelte sich im Eifer der Demonstration.

Gerhart strich ihm über den Scheitel und beruhigte ihn. 294 Allmählich glättete sich Petinas Stirn, und er klappte neben dem Stuhl im Hocksitz zusammen. Die Zigarettenschachtel erregte seine Aufmerksamkeit; er blinzelte verliebt nach dem bunten Deckel; Gerhart bemerkte es und gab ihm davon. So schmauchte Petina mit schnalzenden Anzeichen des Wohlbehagens; lockerte seine Stellung bequem, indem er den Rücken gegen das Geländer lehnte; stocherte sich zuweilen mit dem Streichholz zwischen den porzellanweißen Zähnen und gab zu erkennen, daß er zu allen weiteren Erläuterungen erbötig sei – nach wie vor. Zuweilen – aus einer leichten Verlegenheit vor dem beklemmend liebenswürdigen Pa‘alagi – krauste er die Nase. So vollführte er sein bildhaftes Gebaren eine Weile ganz für sich; und Gerhart betrachtete ihn gedankenvoll.

Mit Englisch – dachte er – ist vielleicht mehr aus ihm herauszuholen; versuchen wir es einmal! – – In der Tat fiel es dem Jungen viel leichter, zusammenhängend zu antworten. Es ergab sich, daß Petina – wie zu erwarten stand – gar nicht nach Fiji gelangt war, sondern von Tonga mit dem nächsten Dampfer wieder zurückgefahren war. – Die Art, mit der des Vaters Arm plötzlich unsichtbar übers Meer schoß und ihn zu sich holte, war zu mysteriös gewesen, um ihm nicht erschrockenen Respekt einzujagen; offenbar war der Vater auf Tonga ebenso heimisch wie auf Samoa; denn ganz fremde und sehr heitere Leute hatten sich um Petina bemüht und ihn mit sanftem Zwang auf die »Manua« gesetzt, die gerade kohlte. –Dies war das Wesentliche, was Gerhart aus dem Schwall von Pidgin und Samoanisch, das Petina über ihn ergoß, herauslas. Was noch dazukam, verstand er nicht; doch Petina erleichterte ihm das Raten.

 

Er hatte auf Nukulaofa ein buntes, trommelndes, jauchzendes, mächtig entfaltetes Abenteuer erlebt: den Geburtstag des Königs Siaosi Tupou.

295 Tonga kam nicht aus den Wellen hervorgekrochen mit einem Halbdutzend Hügelspitzen, sondern schwamm auf dem Wasser als schnurgerade Linie von Palmenhäuptern; als flacher Hain, der mit weitem Schwung seine Arme öffnete. Ähnlich wie in Apia glitt man an der rotbraunen Leiche eines gestrandeten Schiffes vorbei. Und doch war es eine andere Welt . . . Sträucher gab es dort mit karminroten Blättern und kleine gestreifte Eidechsen mit grünblau schillernden Schwänzen. Die Leute erschienen schlanker als die zu Hause; ihre Stimmen klangen höher, und die Sprache, gewebt aus vielen ihm halbfremden Worten, sank auf ihn wie ein verwirrender Schleier.

Als er eintraf, schien die ganze Insel durchklungen von leisen Akkorden, festlich heiteren. Die Pa‘alagi gingen an Land, und Petina folgte ihnen. Die Wege waren bestreut von überreifen Orangen, die puren Zucker schwitzten. Was er im Vorbeigehen auflesen konnte, hatte er gierig ausgeschlürft; Gesicht, Brust und Schoß dufteten ihm nach dem Saft . . .

Da war eine große Mauer, und die Pa‘alagi gingen zum Tor hinein. – Gegenüber einer weißgetünchten Holzkirche mit Schnitzereien am Dach stand der »Palast« des Königs, ein geräumiges Bungalow, und die doppelte Veranda samt ihren Stufen war ganz mit Leuten besetzt. In der Mitte auf einem vergoldeten Schaukelstuhl, feist, kurzhaarig und kupferfarben, saß der König in einem Kranz von Familienmitgliedern und Räten; die Weißen nahmen sich sehr kümmerlich aus auf dem Hintergrund so strotzenden Prunkes; die beiden Malietoa gar erst, Tanu und Laupepa, wären von ihm – dessen war der Knabe sicher – behandelt worden wie die Bettelsippe von Salelesi!Die Sage lautet: In alter Zeit strandeten schiffbrüchige Südsee-Insulaner in einem gebrechlichen Boot in Saluasata. Sie setzten sich neben das Boot und wußten nicht, wo sie waren. Sie wurden gefangen und vor den Häuptling Mata‘afa gebracht (den Urvorfahr des jetzigen), den sie um Schutz baten. Er sagte: Ich gebe euch ein Stück Land und gewähre euch Essen an meinem Tisch. – Sie ließen sich in Salelesi nieder. Nach Geschlechtern vermehrten sie sich und bauten sich eine hübsche Dorfschaft. Doch keiner von ihnen vergaß je, daß der König ihren Vorfahren das beste Stück versprochen hatte von seinem Tisch. Seitdem hat sich diese Sitte so zäh erhalten, daß sie selbst heutzutage von keinem Häuptling verletzt wird. Wenn ein Salelesi-Mann in eine Hütte kommt, so setzt er sich in die hinterste Ecke, tut kleine Dienste, wie Anbieten der Kawa, und wenn sie getrunken ist, schreit er: »Ui-hai-ho« und nimmt das Beste mit. –

Um die Sitte nie in Vergessenheit geraten zu lassen, landen sie jedesmal, wenn es irgendwo eine große Festlichkeit gibt, nackt in einem lecken Boot und mimen den sagenhaften Schiffbruch. Der Alte Mann von Salelesi ist seit Mata‘afas Zeilen sozusagen der Hofnarr jeder Königsfamilie. Sie hocken sich nackt auf den Strand, und um sich als Schiffbrüchige zu zeigen, pissen sie nach rechts und links. Wenn man sie zugelassen hat, nehmen sie immer die schönsten Tapas und Schweine mit.

– Auf dem Rasenplatz vor der Kirche, hufeisenförmig, waren die Tänzer gruppiert: hinten war eine Reihe von Männern aufgestellt, und vor ihnen hockten die Mädchen.

296 Petina erläuterte das, indem er mit dem Finger auf dem Tisch Linien zog . . . Dann begann der Tanz. Die Mädchen blieben sitzen und machten sehr schöne Hand- und Fußbewegungen; das zeigte Petina, indem er mit den Fußsohlen wippte und dazu klatschte. Gleichzeitig – hier sprang er auf – taten die Männer ihre Tanzschritte: – er machte, das Tuch von seiner Hüfte schleudernd, wiegende Ausfälle nach beiden Seiten; und vor Gerharts Augen wogte die rhythmisch bewegte Reihe. Dazu sangen sie . . . Petina begann in dunkler, dann hellerer Stimme zu singen; jeder Vers endete in drei langgezogenen, von scharfen Zäsuren zerteilten Trillern. Das schwache Echo des Liedes klang wie ein melancholischer Käuzleinpfiff und sickerte taub in die Feuchte; doch in Gerharts Ohren erwachte ein Orgelton . . . Immer schneller geschahen die Ausfälle mit rechtwinklig gebeugtem Knie; der junge Tänzer stemmte die Hände in die Hüften und feuerte sich selbst an, »jach, jach, jach . . .« dazu keuchend . . . In seinem Kopf begannen die Töne, die er gehört, zu rumoren; die Farben durcheinander zu fließen. In sein Gedächtnis trat die lange Reihe rundlicher Mädchen, ihre Sammet- und Seidenkleider in Bastmatten gewickelt und mit Blätterbüscheln und scharf riechenden Blumen bis an die Hälse besteckt wie Kühe bei malaiischen Hirtenfesten; flammende Buntheit war's und rasselnder Takt von Fruchthülsenbündeln an fetten, nackten, hellkaffeebraunen Waden . . . Immer irrer, immer maschinenhafter wogten die Reihen vor des Knaben geschlossenen Augen, bis sich zuletzt eine einzige Farbenwoge mit durchdringendem Gesamtgeschrei auf ihn stürzte . . . Er taumelte, setzte sich hart auf den Boden, mit einem Ruck, mit einem letzten schrillen »Jach!« – – und wartete, bis der Aufruhr seiner Lungen sich legte. Der Schweiß seiner bebenden Flanken schimmerte matt im Lampenlicht. Dann blinzelte er, fand sich zurecht, lächelte und zog eine Falte des Plaids über seine Scham.

297 Gerhart erinnerte sich von Sawaii her im glücklichen Moment eines samoanischen Wortes. – »Mali‘e!« rief er und trommelte auf den Tisch. Der Junge geriet sofort in ein fassungsloses Entzücken. »Mali‘e!« prustete er und fiel der Länge nach auf den Rücken. »Mali‘e Petina!« – Als er sich erholt hatte, gab er an, dasselbe hätte der Hauptsprecher Siaosis gerufen, ein Mann mit einer ungeheuren krummen Nase, und habe sich ganz heiser geschrien, so oft die Tanzfiguren wechselten . . . Der König jedoch, im Rahmen der offenen Tür auf seinem Paradesessel, habe nur gegrunzt. Die Pa‘alagi hätten »Blavo« gerufen; und die Pa‘alagi-Frauen hätten kleine schwarze Kästen in die Luft gehalten – was an sich betrachtet ein seltsames Gebaren gewesen sei von seiten der Pa‘alagi-Frauen. Nachher seien die Engländer zum König gegangen, hätten ihn »Pita« genannt und zum Abendessen eingeladen; – ihn selbst, Petina, hätten sie nicht eingeladen, sondern ihm gesagt, sein Vater habe ihm befohlen zurückzufahren. – Er habe nicht gewollt und wäre gern länger bei den Tonganern geblieben; aber nach zwei Tagen sei die »Manua« gekommen, und er sei trotz Strampelns und Schreiens auf diese verfrachtet worden . . .

Sein Vater sei stark; stark sei Kotūsa. Er habe gerufen: Petina komm zurück! – und seine Stimme habe bis nach Tonga geklungen. Er, Petina, habe eingesehen, daß es nicht gut sei, sich ihm zu widersetzen. Er gehe auch nicht mehr zum Misi Etimano, sondern schlafe beim Vater; – sein Mund ward ganz rund; offenbar hatte ein gewichtiger Respekt neuerdings in seinem Herzen Einzug gehalten. – Und der Vater schreie nicht mehr, noch mißhandele er ihn. Er habe ihm sogar ein grünseidenes Taschentuch geschenkt, das er in Ermangelung einer Brusttasche auf der Strandstraße um den Hals gewickelt trage; und es gebe Leute, die sich im Zweifel darüber seien, ob er nicht ein englischer Soldat geworden sei . . .

Gerhart wartete, bis Petina mit seiner Jagd nach Worten 298 und mit seinem Gestikulieren fertig war; plötzlich sagte er langsam, ihn dabei scharf betrachtend:

»Ich gehe nicht mit dir. – Ich gehe nicht zu Kotūsa. – Er ist schlecht . . . no good«

Und er machte eine kurze Gebärde, die Grothusen dahin schaffte, wohin er ihn haben wollte; nämlich: ins Nichts. –

Petina tat den Mund auf, angestrengt denkend; dann begriff er. Sofort nahm er den Zettel vom Tisch und hielt ihn Gerhart so dicht als tunlich vors Gesicht. –

»Du sollst gehen! . . .« stieß er dabei hervor, voll Energie. Und als Gerhart den Kopf schüttelte, deutete er mit dem Finger auf die halbverwischte Bleistiftschrift und stampfte mit der nackten Sohle auf, daß der Verandaboden dröhnte.

»Du mußt! . . .« rief er schrill. Die Welt konnte untergehen; aber hier lag etwas Geschriebenes vor! – Und Petina hatte gelernt, daß Mißachtung von Geschriebenem, von Schwarz auf Weiß, sehr böse Folgen nach sich zog!

Da Gerharts ablehnende Haltung andauerte, wurde Petina tätlich. Er griff mit beiden Händen nach dem weichen Hemdkragen des Widerspenstigen und machte alle Miene, die Knöpfe abzureißen. Gerhart faßte ihn um den Leib, hob ihn wie eine Feder empor und setzte ihn an seinen Platz zurück, voll sanfter Entschiedenheit. Petina, seine Ohnmacht erkennend, warf ihm unter düsteren Brauen herauf durch die Schwärze seiner herabgefallenen feuchten Strähnen düstere Blicke zu. Plötzlich bekam er einen Anfall von Wut und hieb mit der Stirn gegen das Geländer. Er wußte, daß der Vater nicht anstehen würde, den Mautofu-Stock an seinen nackten Beinen zu zersplittern, wenn die Sendung nicht die gewünschten Früchte trage; ferner war Kotūsa krank, und Tai war krank, und es schien eine Sache auf Leben und Tod zu sein, daß der junge Pa‘alagi komme. Auch war dieser großäugig und freundlich und für Petina just der richtige Umgang, wie ihn dünkte . . .

Gerhart fühlte die Dringlichkeit, mit der man ihn wünschte. So sagte er: »Komm her!« – Petina näherte sich zögernd, 299 und Gerhart zog ihn auf die Kniee, ihn leicht liebkosend. – »Ich will mir's überlegen . . . bis morgen früh. – – – Denken . . . denken . . .« fügte er hinzu und deutete nach seiner Stirn. Petina war erstaunt. – »O lele‘i« meinte er und schmiegte sich befriedigt an ihn.

Plötzlich sprach er mit schöner Einfachheit: »Fiamo‘e«.

Gerhart trug ihn lachend wie ein Spielzeug ins Zimmer. Petina lehnte es nachdrücklich ab, auf dem Bett zu schlafen, und ließ sich durchaus mit einem Kissen am Boden und dem Plaid begnügen.

Gerhart zog sich aus und legte sich nieder. Die Lampe stellte er auf den Nachttisch. Er war nicht schläfrig, denn die widersprechendsten Gedanken bewegten ihn. – Die Kraft des Regens hatte sich aufgelöst; es rieselte dünner und ferner; zuweilen bei einem Windstoß traten Pausen ein . . .

Gerhart blickte nach dem schwarzen Kopf dort am Boden, der gerade noch aus der Umhüllung des Plaids herausstak. Eine lange Kette von Minuten glitt zögernd mit leisem Klirren ins Nichts. Die Lampe blakte auf und brannte um einen Grad trüber. – Auf einmal stöhnte Petina, murmelte und warf sich herum. Das Plaid glitt von seinem hellen Leib. Seine schlaftrunkene Hand zuckte umher, als ob er jemand suche, und blieb dann auf der Hüfte liegen. Ein Schenkel lag im Dunklen; der andere, halb aufgerichtet, schob sich mit mattblinkendem Knie ins trübgoldene Licht. Der Atem ließ die Schatten auf seinem schmalen Bauch wachsen und schrumpfen. Er lag da, vollkommene Form, mit all der unbewußten Grazie des schlafenden Tieres.

Gerharts Augen ruhten auf ihm wohl durch die Dauer zweier Stunden. – Und je länger er starrte, desto fremder, abweisender, entrückter erschien ihm die vollkommene Form dort am Boden. Die Vorstellungen, die jenes schlummernde Inselgesicht kreuzten mit leisem Zucken der Wangen, entschlüpften seinem Griff unter siebenfache Siegel; – da war keine Brücke; nicht einmal die des Blutes. Wo gab es 300 da den leisesten Anschein einer weißen Vaterschaft, die leiseste Möglichkeit eines Nährbodens für Dinge, unzugänglich für Sicht und Gefühl schwarzer Augen, olivbrauner Glieder? –

Ja, auf dem Gang von Palauli nach dem Sili – da hatte er diesen selben Petina mit allerhand schimmernden Attributen behängt; hatte ihm einen Schrein errichtet, darin jener hockte wie ein vergnüglicher, allwissender kleiner Gott . . . . Er hatte ihn sich weise gedacht darum, daß das Blut zu gleichen Teilen aus ihm sprach; hatte ihn sich verwandt geträumt als einen, der sich ungebunden auf der Grenzscheide zweier Rassen tummelte – –: suchenden Verständnisses voll und doch zerrissen in sich, weil er nicht wußte, in welche er tauchen solle mit Leib und Seele, des Friedens halber. – Sieh da: – dieser kleine Schrein stürzte zusammen. Der nackte Knabe dort, derselbe Petina, war nimmer ein Gefährte für ihn; nimmer einer, dem dieselben Unruhen die Brust beengen würden.

Das Problem ging in Rauch auf; ein wenig Lächerlichkeit war alles, was zurückblieb. Keine tragische Puppe der Umstände war's, die dort ihr Los im Schlaf vergaß; das war keiner, dem eine »Erziehung« – noch dazu nach Grothusenschem Muster – zur Vollkommenheit fehlte. Der dort war bereits vollkommen; mit allen Reizen seines Volkes bedacht. Der war kein Halbweißer, der etwa in Seelenpein an seine Brust gesunken wäre, die eigenen Eltern bilderreich verwünschend; der war ein ganz eindeutiger, beschränkter, erdgebundener, liebenswürdiger Samoaner – aber eben doch nur – – ein Samoaner! –

Man konnte sich wohl Verschiedenes in ihn hineindenken; weder seine schöne Körperform noch sein munteres Auge verwehrten das; man konnte ihn lieben oder geringschätzig überblicken – das verschlug nichts; was gilt es dem Farnbaum, ob du ihn betrachtest? Er hat das vollkommene Dasein: die große Unabhängigkeit des Pflanzlichen. Er sieht das Meer nicht: so gibt es kein Meer. Für ihn gilt 301 der Umkreis, an den seine gefiederten Blätter stoßen, und das Stück blauer Tiefe über ihm. Seine Gemütsbewegungen sind Windstöße, gelindert durch eine Mauer von eifersüchtig-strotzendem Laub.

Was gilt diesem samoanischen Knaben ein Meer von Empfindungen, von »Ausbildungs-« oder gar »Rettungs-«versuchen? . . . Störe sie nicht auf, die wenigen weißen Tropfen, die schlummernd durch das Dunkel rollen. Überlaß ihn der Rasse, die er sich erwählt; willst du ihn seiner Heimat entreißen wollen, weil du die deine nicht finden kannst? . . .

Die Nacht schritt vor. Kein Schlaf kam in Gerharts Augen; er spürte die Einsamkeit stärker denn je, weil er keine Brücke zu dem seltsamen Leben fand, das neben ihm atmete. –

»Ich werde morgen mit ihm nach Apia gehen,« beschloß er. – »Wenn mein rothaariger Buchhalter auch nichts anderes verspricht –: für eine Abwechslung steht er gut.«

Er sah nach Petina herüber, und eine Trauer, gemischt mit dumpfem Erschrecken, kam ihn an. – »Sollte dies alles«, dachte er, »wirklich so ernüchternd, so widerlich durchschaubar sein –?«


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