Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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»Ebbe am Nachmittag«

Das war im glücklichen Upolu, und bei tiefstem Zwielicht. Noch war der Himmel schwarz. Aber schon rauchte die See am Riff, und ein sachter Wind blies die Sterne aus. Innerhalb des Palmengürtels klapperte es, wie wenn man eine Matte klopft. Dann folgte ein gurgelnder Schrei, der bald seine Antwort fand, und nun sangen alle Hähne von Mata‘utu, den weiten Strand hinab: »Ü – ü – ü.«

Wie um sich zu beweisen, daß sie noch lebten, und unermüdlich lebten, ließen sie ihre Stimmbänder gellen. Sie taten es dreimal des Nachts, um zwölf, um zwei und um vier Uhr. Zwischendurch saßen sie, farbig und stumm, als schlafende Tropenvögel, auf den obersten Zuckerrohrverschalungen der Hütten oder in den Ästen der Brotfruchtbäume.

Sie träumten sich Jahrhunderte zurück . . . Damals gab es noch keine Bretterverschläge, in denen sie mit den Hennen kampierten. Traumstolz blähten sie sich, lüfteten unter derbem Gerassel den Brustkorb mit den Schwingen und schrien ihren alten Urwaldschrei in die Blätter hinein. Die Luft spaltete mit leisem Hauch ihre bunten Schwanzfedern . . . Und als das Halsstrecken, das gelbe Augenrollen, das Röcheln der blutvollen Vogellungen und die Eifersucht der Stimmen nachließ – da tönte ein einzelner Schrei noch nach wie ein ungenügsames Echo. Es war, als käme er als ein ferner Triumph von dem letzten Fixstern, der noch glänzte . . .

Das war ein Blauer Hahn im Busch, ein wilder Vetter; und der behielt das letzte Wort.

 

Stille herrschte, halberwachte, ächzende Dämmerstille. Ein großes Rascheln geschah in den Kokuswedeln, und harte Schläge fuhren dazwischen wie dumpfe Schüsse. Der 43 Seewind hielt seine Ernte und warf die reifen Nüsse in den Sand. Minutenlang dauerte dies ungeheure stroherne Rascheln, diese sanftausteilende Bewegung der Tausende von elastischen Stämmen, langsam fortschreitend, bis der Wind erstarb. Es begann schwach zu blitzen. Das Geräusch des Meeres war ein feines Sieden in der Luft, hinter den nun erwachenden kollernden und schwatzenden Vogelstimmen in den Bäumen, und die Brandung pulsierte, als ein weißes, schlangenhaft zitterndes Band am Riff, eine Meile vom Strand entfernt. – – –

 

Grothusen kannte das; er war längst wach.

Diese ganze Skala morgendlicher Eindrücke wiederholte sich; war alt, uralt. Nur bisweilen, wenn es regnete, hörte man nichts als Wasser, und dahinter den Schrei der Hähne dünner und unlustiger.

Doch heute war es ein flaumleichter Morgen nach einer langen Reihe von trockenen Tagen. Den Übergang zum Erwachen spürte Grothusen kaum; er merkte es höchstens daran, daß mit einem Male das bösartige Gefühl wieder da war, das ihn stets befiel, sobald er sich seiner Umgebung bewußt ward. Er trat aus dem Fliegennetz hervor und ging auf die Wiese vor der Hütte, um sich auszuräuspern. Im blauen HüftentuchKattuntücher von verschiedener Farbe, sam. Lavalavas, werden auch von den Eingeborenen jetzt allgemein statt des früheren Blätterschurzes getragen. stand er zwischen den Hibiskussträuchern.

Wie schimmerte sein nackter Oberleib, um dessen hervortretende Knochen sich die schlohweiße Haut spannte! Das Tuch fiel bis zu den Fußknöcheln; das verlieh seinem Gang eine holprige Würde. Bisweilen, bei einer launigen Brise, entblößte sich eines der Beine in seiner blinkenden Magerkeit . . .

Wäre nicht alles ringsumher so strotzend grün und lieblich gewesen – hätten nicht überall, wo Grothusen seinen Rachen säuberte, halbzertretene Brotfrüchte und Bananenschalen gelegen – man hätte sich versucht gefühlt, ihn für einen Asketen, vielleicht gar für einen puritanischen Novizen 44 zu halten, der sich um der fleischlichen Entsagung willen in die Einsamkeit geflüchtet.

Jetzt wanderte er langsam auf den Strand zu und verschwand eine kurze Weile hinter niedrigem Gestrüpp. Dann erschien er wieder, öffnete mit feierlicher Gründlichkeit von außen mehrere der geflochtenen Jalousien und trat gebückt in die Hütte zurück.

Noch war es halbdunkel. Grothusen ging nacktfüßig und lautlos wie ein Geist auf den Matten, die den Lavakies des Bodens bedeckten, hin und her; die Hände hielt er flach zwischen Hüfttuchknoten und Bauch geschoben. Sein Räuspern war zarter geworden. Es hing mit einem Kehlkopfübel zusammen, das ihn in grauer Vorzeit befallen hatte, als er noch Europäer war. Das Halsübel hatte sich weder verbessert noch verschlimmert, und Grothusen war darüber in die Jahre gekommen.

 

Er fügte seiner Toilette nun noch ein Hemd hinzu. Dann ging er an den Tisch, der vor den vier Mittelstützpfosten der Hütte stand und von einer braunen schwarzbemalten Tapa bedeckt war.

Diese Tapa war Grothusens Leidwesen; denn alles, was er darauf suchte, zeigte eine heimtückische Mimikry. Lediglich ihre beschränkte Anzahl und ihre nackte Zweckmäßigkeit machte ihn zum Herrn über die Gebrauchsartikel, mit denen er seinen Haushalt bestritt.

Er war nämlich abscheulich kurzsichtig, so daß er – um ein Beispiel zu nennen – von den Zeitungen gewöhnlich nur die Kopfinschriften las, wonach sich denn auch – wie man später bemerken wird – sein Weltbild lediglich nach dem Fettgedruckten zusammenstellte.

Leise in den struppigen fuchsroten Schnurrbart schnaubend, stand er gebückt über dem Tisch, und seine Augen wölbten 45 sich milchigblau hervor wie die eines Pferdes, das mit den Lippen ein Kopraschnittchen vom Boden nimmt. Dabei wiegte er den von roten Löckchen bedeckten Kopf auf dem steifen rissigen Nacken, der die Farbe von Büchsenlachs hatte. – Endlich fand er die goldgefaßte Brille und setzte sie auf.

Nun ging das andere rasch vonstatten. Das abrupte Tasten wurde zur zielbewußten Handhabung vertrauter Dinge. Er setzte seine Pfeife in Brand und holte die Regenwasserkanne und ein Glas herbei. Hierauf war er eine Zeitlang in verschiedenen Winkeln der Hütte geschäftig und kam mit einer Flasche wieder zum Vorschein. Er füllte das Glas zur Hälfte mit ihrem goldigen Inhalt und verdünnte die Flüssigkeit mit Regenwasser. Dann überzeugte er sich, daß das vierte Bein des Stuhles, das seit zwei Jahrzehnten locker saß, in gewünschter Richtung stand, ließ sich nieder und nahm seinen Augenöffner.

Heitere Vorstellungen begannen sich in seinem Geist zu regen. Er blickte schlau nach dem Hintergrund der Hütte, wo eine menschliche Gestalt unter Leinentüchern vergraben schlummerte, und lächelte dann mit zurückgelegtem Kopf und schwellendem Hals vor sich hin wie ein Honigkuchenpferd.

Diese tägliche Zwielichtheiterkeit – sie hatte Beziehung sowohl zu der Flasche wie zu der schlummernden Gestalt in der Ecke. Die alte Gewohnheit trug noch dazu bei, daß das Hirn des alten Buchhalters um diese Tageszeit am regsten reflektierte; und heute hatte nur eine einzige Vorstellung darin Platz. Denn er war sich gut bewußt, sein fünfzigstes Wiegenfest zu begehen. Die Augen hinter der spiegelnden Brille sinnend bald auf das Glas, bald auf die Etikette der Flasche geheftet, sprach er dämmerhafte Worte zu seinem Herzen. – – –

 

46 Mittlerweile kam die Sonne ganz herauf. Zarte und schlanke Schatten legten sich draußen wie hauchfeines Spitzenwerk über den grellgelben Weg. Die Laute des vollerwachten Lebens schwirrten durcheinander. Die Hähne hatten die leichte Erschöpfung, die ihnen die Inbrunst des letzten Kreischens gebracht, abgeschüttelt und flogen rauschend von den Bäumen und Hütten herab. Glucken führten ihre Völker spazieren. Eine schwarze robuste Sau, gefolgt von sechzehn bunten Ferkeln, rannte windschnell über die Wiese und stieß mit dem Rüssel in einen Berg von leeren Kokusschalen, die porzellanspröd erklirrten. Zahllose Hunde brachen aus den Hütten hervor, kläfften freudetanzend auf der Wiese oder liefen ans Meer, um dem sanften Wellenschlag und dem erwachten Tag mit Gebell zu huldigen. Die Hundestimmen pflanzten sich fort wie eine Kette, bis in die fernsten Winkel der Sicht, als ein rauher taktfester Lobgesang der Kreatur.

Gerade jetzt, als Pakali, ein kleiner seidenohriger Terrier, sich freudestöhnend und morgenfrisch mit großem Gezappel zwischen Grothusens dürre Schenkel drängte, erwachte Tai‘afi‘afi, die »Ebbe am Nachmittag«. Sie bewegte den Kopf auf der Bambusstütze, warf die Leinentücher auf die Seite und erhob sich.

Sie zählte sehr beträchtlich zum Haushalt mit. Sie war nicht wegzudenken. Grothusen lebte nun schon an die zwanzig Jahre mit ihr zusammen, und das gab ihr ein Recht, eine Rolle zu spielen. Und sie spielte die Rolle! –

Obwohl er sich nicht umdrehte, gewahrte er doch – wie Argus, der Augen auf dem Nacken trug – die unheilschwangere stille Regsamkeit in der Ecke, die rüstige Inangriffnahme des Tages seitens jenes vierzigjährigen verblühten Samoaweibes . . . Und es stand fest, daß seine stille Heiterkeit nun Schiffbruch leiden würde. Denn sie hatte viele Nadeln, mit denen sie ihn zu reizen pflegte.

Ja! Sie bemerkte die Flasche und brachte es unverzüglich zum Ausdruck. Dann verfiel sie in ein scharfes 47 Selbstgespräch. Wenn sie leise sprach, war ihre Stimme weich und nicht unschön, und wenn sie über etwas Bedauerliches mit sich verhandelte, setzte sie sich schwermütig und gründlich mit dem Universum ins Benehmen und begrub mit jedem Wort eine Hoffnung. Doch ihre leisen Glossen waren beizende Tropfen, die Steine höhlen konnten, Spritzer von Säure, die Grothusens Seele verbrannten. Man war gezwungen, hinzuhören.

Sie hatte die Flasche gestern versteckt; sinnreich hatte sie sie verborgen; doch es hatte nichts geholfen. Er war dahinter gekommen. Immer kam er dahinter, wo jene Flasche steckte. Er solle doch Kawa trinken! Oder Kaffee! Westhope ziehe doch so guten Kakao auf seiner Privatpflanzung und gebe ihn so billig ab! Schade, schade! Und nun verdiene er schon wieder seit einem Monat nichts, und er dächte überhaupt nicht an die Aiga, und wenn sie ihre Butter nicht besäße und die zwei Kinder nicht zur Hilfe . . .

»R–ruhe!!« brüllte er. Sein Gesicht zerknitterte sich wie Käsepergament. Ihr Selbstgespräch rann noch eine Weile weiter, doch traten jetzt wohltuende Stockungen ein, da die Entfachung des Holzfeuers in der alten Biskuitblechschachtel, die als Ofen diente, ihre Aufmerksamkeit und ihre Lunge in Anspruch nahm.

Aus Trotz nahm er noch ein Glas zu sich und stellte die Flasche dann mit Aplomb auf den Querbalken, der die Tragepfeiler verband. Das war ein geheiligter Platz, der in jedem Samoahause die Bedeutung des Stapelortes für unantastbaren Hausrat hatte. Grothusen war immer noch Manns genug gewesen, um den Kampf mit der alten Hexe durchzufechten . . . Er warf muntere und aufgeräumte Blicke um sich, ungeachtet dessen, daß der Stuhl sich auf einmal wiederum nicht bewährte und seine Würde flüchtig erschütterte. – – –

Die Frau hatte ihr Gespräch ganz eingestellt. Sie ergriff ein rechteckig geschnittenes Bergbananenblatt, tat Tabak hinein und rollte es stramm. Dies geschehen, preßte sie das Mundende platt und nahm es zwischen die schlohweißen Zähne. Dann griff sie seitwärts in den »Ofen«, nahm einen glimmenden Kienspan heraus, blies ihn an und bediente sich mit einem Quentchen Glut. Sie warf den Span zurück und stützte mit aufrechtem Oberkörper die rundlichen Arme, die selbst in ihrem Alter noch etwas kindlich Eingeknicktes hatten, zu beiden Seiten auf die Matten.

Da das Hängekleid aus Kattun sie ganz bedeckte, erschien sie zwerghaft klein. Doch über diesem Kinderkörper schwebte ein schwerer Kopf mit breiten Lippen und großer, gebogener Nase; einer Nase, wie man sie, brutal gekraust, an Fürstenköpfen bemerken mag; an Tai jedoch wirkte sie wie eine anmutige Hügelscheide zwischen zwei sanften Regentümpeln. Spitzte sie den breiten Mund, so liefen seine Fältchen an den Nüstern herab, und ihre Stirnhaut warf unendliche Rinnen. Ja, ihr Kopf war schwer und geheimnisvoll. Das Haar verdeckte die Ohren nicht und ließ die heller gefärbten Muscheln sichtbar. Hinten stand es, mit einem albernen rosa Bändchen zu einem graumelierten Rattenschwanz gebunden, steif vom Kopfe ab. So saß sie, still mit ihrem kleinen Umkreis beschäftigt, unauffällig da, wie ein großer gütiger Affe. Jetzt kam der Fuß unten hervor und wippte rhythmisch über dem Knie des andern. Dies war das Zeichen, daß sie grübelte. Von jeher hatte sie bei innerem Zwiespalt mit dem Fuß gewippt.

Grothusen starrte sie die Zeit über grell an.

»Mama!« schrie er jetzt, befriedigt durch ihr Schweigen.

»Eh?« kam nach einer Weile ein Kehllaut zurück.

»Mach Kaffee!«

Sie blieb sitzen. Die Sului war ihr ausgegangen; deshalb langte sie sich zuvor ein zweites Mal den glimmenden Kienspan heran. Und leise sprach sie zwischen den Zähnen hervor in ihren Schoß:

49 »Schlecht ist der Whisky.«

Grothusen schwieg finster. Die kurze Pfeife stellte sich aufrecht in seinem Munde auf. Ein trüber Glanz trat hinter der Brille in seine blaßblau vorquellenden Augen. Er nahm die Gläser ab und rieb sie an seinem spitzen Knie.

Wenn er so, böse grübelnd, den Unterkiefer vorschob, erwartete man von ihm im nächsten Augenblick eine Tat, die Tat eines gereizten Mannes in der Blüte der Energie: zerfetzte Siapos, umherfliegende Töpfe, zerschmetterte Lampen oder Schlafschemel; kurz ein zürnendes Herrentum und die Posaune des Weißen . . .

Tai‘afi‘afi sah, unter krauser Stirnhaut, besorgt zu ihm hinüber.

»Schlecht ist der Whisky,« wiederholte sie, »tk, tk, tk.«

»Wirst du schweigen!« – brüllte er. Geschäftig den Lavalavaknoten zurechtzerrend, erhob er sich vom Stuhl und ging stracks auf sie zu. Sein Gesicht erschien wie von Puder befleckt, und der rote Schnurrbart leuchtete funkenknisternd.

Sie rührte sich nicht. Sie sagte nur: »Ui, ui –«, und dabei lächelte sie halberschrocken, mit einem freundschaftlichen Licht in den moorbraunen Augen.

Grothusen schlug nicht zu.

Er klappte zusammen, knapp vor ihr, in die gleiche Hockstellung, die sie innehatte. Seine zermalmende Gebärde löste sich auf wie bei einer knochenlosen Jahrmarktspuppe. Er war gegen die Scheidewand gerannt. Er hatte sich eine neue Beule geholt; die Beule an dem Vollkommenen, gegen das er machtlos wetterte.

Einmal, vor vielen Jahren, hatte er ihr einen Stoß in den Magen gegeben, der sie fast getötet hätte. Damals hatte sie nicht geschrien. Sie hatte ihn nur mit den Augen jener sagenhaften Sina angesehen, von der sie stammte, – der Mutter des »Schwarzen und Braunen Schweines«. Ihre ganze, im Dämmer des Urwaldes sich 50 verlierende Ahnenkette, alt und verzweigt wie ein Fikusbaum, hatte ihm gedroht. Die Fonoti-Familie aus dem Buschdorf Matalaoa, jene edelste Sippschaft, hatte mit diesem Blick schweigend auf den vermessenen Weißen gestarrt. Die »Weiche Pandanusfrucht«, ihre Mutter, hatte sie gepflegt, war – schon damals ein uraltes Weib – herübergekommen und hatte sich so absonderlich, mit so majestätischer Korrektheit gebärdet, daß völlige Verzeihung ein Ding der Unmöglichkeit schien und der Tyrann sich, leicht wie Luft und Gestank, hinwegverbannt fühlte in eine ganz dunkle und sonnenlose Gegend.

Deshalb schlug Grothusen diesmal nicht zu, sondern bat sehr mürrisch noch einmal um Kaffee; und Tai erhob sich und bereitete ihn auf dem Spirituskocher mit gemessenen Bewegungen.

Wiewohl sie sich schon zwanzig Jahre lang mit Papalagigerätschaften abgab, bediente sie sich immer noch dieses Kochers wie ein Kind, das vorsichtig frisch erlernte Handgriffe ausübt und sich fast gütig daran ergötzt, daß das Ding seine Wirkung tut.

Grothusen erhielt blassen Kaffee in einer Tasse ohne Henkel und Untersatz. Er schluckte ihn ohne abzusetzen und geriet in einen munteren Schweiß. Tai, den Löffel selbstvergessen in der Hand, sah zu, wie es ihm schmeckte. Dann ging sie hinaus und verschwand in dem funkelnden Grün, um Reisig und Brotfrüchte aufzulesen. Aus dem ehemals reichen Besitz ihrer Familie – von Mata‘utu bis Mulinuu – war ihr noch ein Stück Land geblieben; doch bestellte sie es nur so weit, als es für die Kopra-Abgabe an die Regierung und ihren häuslichen Appetit reichte.

Das übrige beschied sie in die Hut derjenigen der zwölf samoanischen Vorsehungen, die den Namen ›London mission‹ trägt.

Grothusens Mißempfindung war jedoch noch nicht ganz 51 verschwunden. Er glotzte auf das ungeheure zerrissene Bananenblatt, hinter das sie getreten war.

Ein Ferkel rannte grunzend in die Hütte und blieb dann angewurzelt stehen, von fremden Eindrücken getroffen. Grothusen entsandte einen Stein aus dem Lavakies; jedoch erreichte er das Ferkel nicht mehr.

Es hatte ein leises Schnalzen von draußen vernommen; es war das Schoßschwein Tai‘afi‘afis. Der Stein zertrümmerte die Weckuhr auf der Waschkiste.

»Nun ja,« dachte Grothusen tyrannisch. »Das schadet nichts. Die alte Hexe kann die Scherben auflesen.«

Er strengte die Augen an, um die Stellung der Zeiger zu erkennen.

»Fünf Minuten auf acht . . . By Jove! – Wie die Alte mich verhätscheln würde, wenn sie wüßte, daß ich Geburtstag feiere! Meinen fünfzigsten Geburtstag! – Aber ich sage es ihr nicht! Das geschieht ihr ganz recht!«

Und er dachte mit Galle daran, daß sie ihn heute wieder wegen des Whiskys geärgert hatte. O, ihre leisen Selbstgespräche von heute morgen waren es nicht allein, nicht das war es, was ihn so zerrieb – es waren die vielen Unterhaltungen, die ihnen vorausgeklungen jeden Gottesmorgen – sie hatten das ätzende Gewicht von nunmehr fast zwanzig Jahren!

Aber ein Entschluß stand auf, fiebernd und riesengroß: Heute war ein Markstein! Heute war es genug! – Und Grothusen, erhitzt wie er war, bezweifelte nicht, daß er dieser Alten bis an den Hals überdrüssig sei, daß der Punkt endlich gekommen sei, ein neues Regiment einzuführen! Die plötzliche Begeisterung für Klärung der Luft war heute nicht bloß ein alkoholisches Feuerchen, wie er deren schon unzählige entfacht, sondern hatte tiefere Beweggründe, hatte irgendwie etwas mit seinem fünfzigsten Geburtstag zu tun.

Ha, heute sollte sie einmal klein werden! Ganz klein! Wie sie sich schämen würde, in ihre zeremoniengläubige 52 Seele hinein, wenn er diesen Trumpf: seinen Geburtstag, vor sie hinwarf! »Eh! so bist du! Da hast du's! Solchen Tag vergißt du!«

Daß Grothusen nötig gehabt hatte, sie auf seine früheren Geburtstage mit Pomp hinzuweisen – worauf sich denn immer eine große Verwandtenansammlung mit Geschenken einzustellen pflegte – war ihm soeben wohl klar; er hütete sich aber wohl, Teufelskerl, der er war, es diesmal zu sagen! Er wollte sich vernachlässigt vorkommen, wollte sich großmachen, wollte sich einen prächtigen Grund zu einer großen Geste sichern, zu Lamento und Vergeltungsgeschrei . . . Demütigen wollte er die Alte, zerschmettern wollte er sie für Wochen!

Das war sein Plan.

Zwei hochgeschraubte Weiberstimmen, eine fragende aus der Pflanzung und eine erwidernde, begegneten sich draußen. Tai hatte ihrer Base, die in der Hütte nebenan bei der alten Mutter Ta‘ēle Ulamamai, der »Weichen Pandanusfrucht«, lebte, etwas mitzuteilen.

Ach, der Klang dieser Weiberstimmen! Diese zum Erbrechen reizende Welle von trübster Alltäglichkeit, die an Grothusens Ohr treffen mußte!

Wider Willen, wie immer, lauschte er, sog jedes Wort in sich, als ob sein eigenes böses Gewissen, getrennt von ihm, eine unschöne Fistelstimme da draußen erhebe; und als er den Sinn des Klagedialoges erfaßte, der sich draußen mit quälender Monotonie abspann, wurde er geradezu unwahrscheinlich büchsenlachsrot, als verteile sich die Farbe seines Nackens plötzlich über sein ganzes leidendes Gesicht. Er stand heftig auf und schwenkte schweigend seine schwache bleiche Faust mit den violetten Adern darauf auf und nieder, in die Richtung jener Stimmen zunächst, dann im Kreis umher, wie jemand, der mit letzter Kraft Kerkermauern bedroht.

Seine Augen blitzten unheilvoll. Er ging zu der Whiskyflasche, goß sich noch einen derben Schluck ins Glas und zog 53 sich dann mit entschlossenen Bewegungen Strümpfe, Stiefel und einen verwaschenen, von Bügelflecken besäten Leinenanzug an. Sein Sohn Petina, dieser Fratz, war natürlich heute wieder nicht da, um ihm die Sachen zu reichen und ihn zu bedienen. Immerhin – diese Tatsache paßte in den Rahmen der Stimmung.

 

Als Grothusen nun vor dem zerbrochenen Spiegel stand und sich den fuchsroten Schnurrbart mit der Hälfte eines Kammes striegelte, fügte es das Schicksal, daß Tai‘afi‘afi noch gerade auf dem Schauplatz erschien, ehe er ging.

Er band sich soeben eine schwarze Schleife um den ausgefransten Kragen, als sie, ihr Schoßschwein im einen Arm, ein Bündel Reisig im anderen, lautlos in die Hütte trat. Ohne ihm einen Blick zu schenken, aber für das soeben beendete Zwiegespräch draußen unerwartet zart, sprach sie: »Entschuldige, bringe Geld, Kotūsa. Das Geld ist zu Ende, ganz zu Ende. Du hast in der letzten Woche kein Geld gebracht, und nun gehst du in das Trinkhaus und kommst betrunken nach Hause. Und es ist so schlecht von dir, Papá, und es ist eine Schande in der ganzen Familie, einen solchen Mann zu haben . . .« Es war dasselbe Thema, das sie vorhin beim Reisigpflücken mit ihrer Base ausgetauscht, die im Hause zwischen den fünf Hunden der Großmutter gesessen und gebetet hatte. Es war ein Thema, das ihrer ganzen Aiga – den zehn Familien im Umkreis –, dem Dorf Mata‘utu, ja, jeder samoanischen Seele den Strand herunter bis Saluafata geläufig war, so daß man nicht einmal mehr die Köpfe wiegte, sondern nur »tk, tk« sagte und lächelte.

Grothusen wollte sich nicht mehr reizen lassen. Er spürte wieder, wie die Röte über sein Gesicht kroch; doch sein Grimm saß so tief, war so entschlossen, daß sogar eine Art von Humor sich diesmal regte. Er antwortete nichts und 54 warf ein Zweimarkstück auf die Matte. Sie blieb versteinert stehen; ihr Mund klaffte. Der Arm löste sich; das Ferkel glitt zuckend auf den Boden.

Sie bückte sich und hob das Geldstück auf. »Danke sehr, Kotūsa; danke recht sehr und viele Male . . .«, sagte sie bestürzt.

Und was da seinen Abgang hielt, war ein Weißer, der Geld hatte, ein Weißer, der sie, Tai, in seiner Hütte duldete . . .

Als Grothusen, seinen Regenschirm trotz des wundervollen Wetters unter den Arm gepreßt, die Wiese überquerte, stand sie noch immer da und blinzelte.


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