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Siehst du den grünen Schatten vor dem tiefen Blau? Der spiralige Ausläufer einer Schlingpflanze tastet dir entgegen . . .
Ihre Wurzeln haben am Rande der Lava ihr Heim; und das Endglied des Wesens, das mit prangendem Willen zum Leben Tellerblätter über toten Grund entbreitet, zittert leicht bewegt . . . Der grüne Finger pocht forschend an die schwarze Härte: – Ist es der Wind, der ihn schwanken läßt? – Nein, sein Puls ist es, sein eigener Puls . . . Siehst du nicht, wie seine Spirale sich öffnet? Wie die winzige Drohung, unendlich vervielfacht, groß und brausend wird –: Drohung des ringsum anrückenden Waldes?
O, nur noch ein paar tausend Jahre; nur noch ein paar Risse und regenmürbe Spalten; – und der Wurzeldrang des Lebens zersprengt dies harte Schrecknis zu Humus, um unzerstörbar darin zu wuchern. Und in letzter Stunde behält das Wachstum den Sieg und lächelt ob der höhnischen Verneinung des Lebens; lächelt mit unendlicher saftprangender Bejahung.
So auch pochtest du, Gerhart, mit leiser Frage an die höhnende Härte der Dinge, um sie dir zu öffnen; mit zäher Treue triebst du deine Wurzeln in Risse, die du unbeirrbar wittertest; und die Rätsel, an denen andere ächzend verzagten, öffneten sich dir und gaben dir widerwillige Fruchtbarkeit zurück. So zaubertest du Gärten aus dem Stein 4 und legtest den Teppich von kühlen Blättern über die Teerwüste; und deine Sohle vergaß der spitzen Härte und blieb kühl und frei.
Es gibt ein Labyrinth, das endet in plötzlichen blinden Gängen oder führt statt in einfache Zirkel nach krausen Fahrten in stille Winkel, in denen man säumt und fast vergißt, daß man zum Mittelpunkt gelangen wollte . . . Je heimlicher sie werden, desto blendender, ablenkender, verwirrender sind die Wege des deutschen Herzens. Sein innerstes Kleinod, einmal entdeckt, verkündet sich mit keiner südlichen Fanfare, sondern liegt schwer darin wie formloses Gold oder ruht als tiefer Grundakkord unter lärmenden Worten, von denen das Herz nichts weiß.
Etwas Dumpfes ist darin, etwas unendlich Trächtiges und Vielfältiges, das die Brust beklemmt; etwas, das in Nacht, in Weite, in Wind verwandte Stätten findet; das gewaltig genießen und leiden kann, aber ewig unübertragbar bleibt . . . weil es selbst die sanfte Helle der Lampe auf dem Papier als grell empfindet; – weil selbst fließende Rede von Lippe oder Feder nur blasses Symbol für seine Rede ist.
Wiewohl Gerhart stets eine südliche Leichtigkeit und Heiterkeit zur Schau trug, lag tief in ihm jenes »große Ungenützte«, wie er es selbst taufte; jene ewig unzufriedene, nimmerruhende, immerfragende Sucht nach Vervollkommnung des Gemeinen; das stachelnde Bewußtsein, jede Erkenntnis sei, wenn auch eindrucksvoll, nur die Stufe zu einer größeren. – Dinge und Menschen – was sind sie wert ohne Beseelung?
Die lange Kette der Motive abwandeln, als deren Endzweige sie dastehn; nackte Formen, nackte Gesichter von innen heraus mit Dasein und Gehalt füllen –: das will das deutsche Herz.
Ein Gesicht ist nichts; – auf einmal beugt es sich über ein 5 Buch; – starrt in die Tiefe einer spiegelnden Tischplatte: da glänzt es von Inhalt; denn aus der gleichgültigen Form wird das Gefäß eines Gedankens. Ein Mann an einer Krücke wird übersehn wie ein Baum; – setzt er sich aber und wirft die Krücke weg, um dich aufächzend anzusehn, so ist seine Geschichte da; auch die des Baumes findest du, wenn du seine Brüder wegdenkst und es ihn vor deinen Augen nach seiner unschuldigen Pflanzenvollendung drängt. Diese Gabe, die Dinge mit Sinn zu füllen, anstatt sie nur hinzunehmen, wie er sie sah, war Gerhart eigen wie eine Besessenheit; und seit er geistig mündig war, mühte er sich ab, sie zu seinem Weltbild zu verweben. Schmerzlich war diese Mühe, denn vieles trat wieder auseinander wie glänzende, sich wesensfremde Bilder, von denen jedes das andere störte. Aber er wußte: es gibt eine Verwandtschaft; diese muß aufgefunden werden, und die schreienden Mißklänge müssen in einen reichen Akkord münden, bei dessen Ton ich niedersinken werde, schluchzend vor Frieden und endlicher Erlösung.
Es ist ein leichtes, einen Zug zu besteigen und mit der Fahrkarte in der Tasche die Reisezeit zu verschlafen. Tausende tun das in jeder Minute. – Doch ein Verhängnis ist's, wenn ein Traum, in dem klirrende Ungeheuer schreien, Dampf vor gläserner Wölbungsferne sich ballt, tiefe Sprache des Eisens unter grünerhelltem Polster surrt – durch den die Stille großer Wartesäle murmelt – wieder und wieder kehrt, wie geheim gekostetes Gift mit pressendem Erwartungsschmerz des Ungewissen . . .
Weißt du noch, Gerhart, wie über einen Berg von schottischen Plaids – inmitten einer donnernden Schwärze, die dir dennoch kein Leid tat – jene lautlosen Ameisen stiegen, fett und groß von der Angst deines sechsjährigen Herzens? – Wie sie wimmelten und sich flüsternd verständigten, um dich in Bann zu schlagen? – Und wie dann, als du stöhnend emporfuhrst, die magere kräftige Hand deines Vaters vom 6 gegenüberliegenden Polster sich löste und die bösen Kolonnen verscheuchte, gelbschimmernd unter der verdeckten Gasampel? – Das war im Riviera-Expreß zu zweiter Stunde nach Mitternacht auf einer gemeinsamen Fahrt in einen schwarzen Abgrund . . .
Diese Feierlichkeit schwankender Gänge und samtener Zimmer, die eine Fracht von Stille durch die Zeit trugen, überschattete ihn seitdem jedesmal gedämpft, wenn er die Augen schloß und auf das Schluchzen einer Maschine horchte, die als Puls in einer heimlichen Welt wirkte und seinen Umkreis erschütterte – sei es in einer Kabine auf einem Dampfer, wo ein weites Sieden vor der Luke herrschte und er sich im Takt der dumpfen Pleuelstangen niedergelassen fühlte, ruckweise und ohne Widerstand zum Schoß der Erde; – oder sei es in einem Badegemach, wo geheimnisvolle fernabdröhnende Klänge in den Röhren erwachten und sein Knabenhirn ihm eine Stadt vorspiegelte mit Metallmauern und Sälen von maßloser Höhe; und er durcheilte diese Säle und suchte ein tiefbefreundetes Wesen, das einen Namen aus dunklen Vokalen trug . . .
Ja; die Beklemmungen aus der Zeit der Ameisen unter der Ampel blieben ihm treu, wenn sein Körper auch reifte und sein Sinn sich helläugig entwickelte. Noch trat ein kurzer lächerlicher Schreck an sein Herz, wenn er in einem Turmhaus in New York den Aufzug betrat; wenn in der Untergrundbahn farbige Signale vorüberschwirrten; wenn Hafenlichter mit weitflimmerndem Griff ihn hereinzogen nach Malaga oder Santiago; oder wenn er große Bahnhöfe der Neuen Welt zu später Stunde betrat.
Solches Gefühl glich einem dumpfen Sträuben; einem Bedürfnis zu bleiben, wo er war; in Ruhe gelassen zu werden, und sich nach einer wirren Flucht wechselnder Breitengrade im Anschaun von etwas Geliebtem zu bescheiden.
7 Ein Heim kannte der Knabe nur für Monate. Meistens war es eine Hotelzimmerflucht mit fremden Stimmen und dem Kommen und Gehen von Kellnern; Kellnern aller Völker; melancholisch-tückischen oder heiteren, die zum Leben zu gehören schienen wie unaustilgbare Schatten. Die Eltern waren beständig auf der Reise, und das gehörte sich so. Sechsmal haben wir die Fahrt von London nach Chile gemacht; das bedeutet, wir haben länger als ein Lebensjahr das Parkett des Promenadendecks für die Welt erklärt und Intimitäten von den buntesten Leuten entgegengenommen. Es gab ja außer den Hotels noch viel, was man nebenher erlebte; auf Tennisplätzen unter Buchen und unter Palmen; mit steifen blonden Kindern und weichen südlichen –: kurze Freundschaften, deren Duft noch lange über den Zaun drang, mit dem man die Stationen dieses exklusiven Zigeunerlebens umgab . . .
Wenn es doch immer so geblieben wäre wie in der seligen frühsten Zeit, als der Vater das geschenkte Gut in Thüringen ohne Glück betrieb; als man noch mit Dolores, der Schwester, die Wissenschaft teilte, daß die zwei schwarzen Hühner draußen nachts ein Doppelleben führten: Juan in der Sonne und Kleinhuhn im Monde! – Als Sir Austen Cholmondeley von Brighton herüberkam und sich im Schwarm der Gäste neben dem Großvater aus Köln noch öfters Donna Carolina zeigte! – Wollte Gott, man wäre auch fernerhin unter der schläfrigen Zucht zweier Kinderfrauen friedlich weitergediehn wie eine Pflanze; – mit dem Blick auf Kornfelder zwischen den mächtigen Buchenkronen der weiten Einfahrt hindurch!
Aber es kam anders, dank dem Blut der Donna Carolina Velez. Sie gab ihrem Sohn die grünen Augen mit . . . Heinrich Ollendiek-Velez hatte eine Unabhängigkeit, die undeutsch war, und jene stille pantherähnliche Energie, die unter seiner ruhigen Haltung verborgen lag wie ein Degen in samtener Scheide.
Sohn eines rheinländischen Kaufmanns und jener Dame 8 von Santiago, vereinigte er bestes Blut beider Rassen; zu seinem deutschen Humor kam eine leidenschaftliche Abneigung gegen Seßhaftigkeit, gegen kleine Ziele und Freuden engen Kreises; so gab es eine wunderliche Mischung . . . Entfernungen gab es nicht für ihn; seine Sprachbeherrschung ließ ihn überall zu Hause sein. Ein plattdeutsches Wort traf ihn mit der gleichen Schärfe wie die Rufe der »Rottos« in der Morgenfrühe, wenn sie ihre Esel nach der Plaza trieben . . . Er verstand mit seltener Hellhörigkeit die Komik des Einfachen so gut wie ein feines Witzwort in Kastilianisch. Selbst in Zeiten, wo er verhältnismäßig mittellos war, trug er solchen Zustand mit der Miene eines Grande, der sich zum Scherz in ein Poncho hüllt, das doch weder seinen geraden Rücken noch seinen Gang verbergen kann.
Sein kurzgehaltener Kinnbart war etwas, wovor die Friseure aller Zonen zitterten; denn ein Millimeter daran, falsch geschnitten, trug ihnen einen grünen Blick ein, der auf eine unheimliche Weise ihren ganzen Beruf in Frage stellte. Seine Stiefel kaufte er nie fertig, sondern ein bestimmter Schuster in einer bestimmten Straße in London stellte sie ihm nach peniblen Angaben her und sandte sie ihm nach, wo er sich auch befand. Für seine Kragen, seine Leibwäsche beanspruchte er nie das betreffende Gewerbe, sondern Spezialisten; so daß er auch in lang getragenen Anzügen immer eine distinguierte Erscheinung bot . . . Diese Sorgfalt in Kleinigkeiten trieb er bis zum Fanatismus; trieb sie wie eine Religion. Auch in großen Dingen verstand er zu rechnen, ohne je einer Spekulation zu erliegen.
Ein Pfau, dessen törichtes Geschrei ihn dreimal gestört hatte, ärgerte ihn, als er Buch über jenes wenig einträgliche Gut führte, das er aus Pietät für seinen Vater betrieb; er nahm seinen Revolver und erschoß ihn durch die 9 Fensterscheibe. Einen zudringlichen Reisenden warf er wie ein Bündel über die Gartenmauer. Den Besitzer eines Frankfurter Hotels, der sich gegen Donna Carolina unehrerbietig betrug, stieß er die Treppe hinunter; dieser, ein Tyrann, statt nach deutscher Gepflogenheit die Polizei zu beanspruchen, kam wieder herauf und entschuldigte sich. Er tat Dinge mit einer Schnelligkeit und Grandezza, gegen die das dickere Geblüt sich sträubte, der es aber rätselhaft unterlag . . .
Er hatte Geld in der Banco de Santiago. Als deren Direktoren sich zu den Einlagen der Teilnehmer verhelfen wollten, warf er die chilenischen Herren heraus – fette angesehene Bürger mit Namen wie Balladenstrophen – und übernahm selbst die Bank. Man versuchte, als er nach dem Landgute in Placilla zu seinen Verwandten ritt, ihn hinter Kakteen hervor anzuschießen; ein Priester kam und warnte ihn. Überallhin folgte ihm eine unerklärliche Sympathie, die alle Anschläge, allen Haß überdauerte. Dieser Mann besaß die Stärke einer Stahlfeder. Auch später von seinem eindringlichen Empfinden gebeugt, dem Erbteil Gerharts, dem »Ungenützten« – der Schwermut, die sich wie ein Rost an den Stahl setzte – er gab nicht nach; man sah es ihm nicht an . . .
Das war dein Vater, Gerhart, dem der Präsident Don Fernando Alamos einen Extrazug anbot, nach dem dürren Iquique zur »Emma Luisa«, der Salpetermine; das war dein Vater, dem derselbe Präsident seine Privatjacht schickte, »der Abwechslung halber«, um ihn nach Valparaiso zurückzuschaffen . . . Das war dein Vater, der sich sechsmal mit kalter Tapferkeit operieren ließ, sich sechsmal wieder aufrichtete, wie eine Spirale, deren Stemmkraft auch Tonnenlasten nicht erdrücken können, und der um einen Stuhl kämpfte, um aufrecht zu sterben . . . Und was waren seine letzten Worte? – »Ruft sie mir nicht, Kinder; macht keine Szene daraus . . . Sie leidet an Kopfweh.«
10 Wer war diese »sie«? Wann sah man sie überhaupt?
In der Tat, man sah sie nie; und doch war sie auf eine unerklärliche Weise mit seinem schnellen und aktiven Leben verkettet, schob sich stets dahinter, auf lautlosen Rollen gleitend, wie eine Kulisse von Grau, hinter der es nach Medikamenten duftete. Sie war immer zugegen und doch selten sichtbar, wie der Ahnenschrein eines reisenden Japaners.
Daß sie existierte, kam den Kindern dann und wann ins Bewußtsein, wenn man eine dämmrige Zimmerflucht in einem Hotel oder einem dunklen englischen Privathaus vor ihnen auftat und sie über zwei kahle Schwellen schritten, wie über Vorhöfe zum Allerheiligsten; ganz hinten gab es dann ein Arrangement von Kissen, zwischen denen sich etwas Blondes, Weißes mit dunklen Augen regte – und sanftes Deutsch mit ihnen sprach, seltsam durchsetzt mit spanischen Kosenamen. Es waren kurze Interviews, und sie endeten gewöhnlich damit, daß einige Anordnungen wegen der Lichtverteilung fielen oder eine klagende Suche nach einer verlegten Patience-Karte anhob.
Ein anderer Beweis für die Existenz dieser Begleiterscheinung war die Tatsache, daß Gesetze und Verbote, ihr Kinderleben regelnd, dick in der Luft lagen, ohne daß der Vater etwas damit zu tun hatte. Später, als man in Santiago wohnte, geschah es ungemein häufig, daß der Vater sich für die Stunden, während der man ihn früher in der Bank gewähnt, in jene abgeblendete Atmosphäre begab; und man erkannte, daß man ihm und einer langen Reihe anderer Leute – von dem stets vorhandenen Doktor an, dem ewigen Verwalter jener mysteriösen Räume, bis zu Carmen, der alten Pflegefrau – lange Unterhaltungen gönnte.
Allmählich begriff man: all der schweigsame Aufwand, der neben ihrem Leben herlief, abgegrenzt und schallsicher von ihnen getrennt, war die Mutter.
Der Vater führte ein Doppelleben . . . »Mutter«: was 11 bedeutete das? – – – Umsturz des Bestehenden, grübelnde Eifersucht auf etwas Unberechtigtes, was ihnen die Hälfte des Vaters raubte . . .
Die Großmutter, Donna Velez, war zwar auch ein Alpdruck, aber sie hatte Fleisch und Bein. Ja, sie gewann eine gewisse prickelnde Unheimlichkeit, als sie eines Tages darauf verfiel, ihre Kinder ihre »sieben Todsünden« zu nennen; und da der Konvent sie nicht aufnahm, machte sie aus ihrem Haus ein Privatkloster, worin sie jedoch fortfuhr, unter ihrem härenen Nonnenhemd täglich die seidene Wäsche zu wechseln . . . Als sie starb, saßen zwei Jesuitenpater wie brütende Geier über sie gebeugt; und sie hatten, als die alte Dame mit einigem Lärm gestorben war, als Beute fast all ihre Hinterlassenschaft erschnappt . . . Ja, diese spanische Matrone verursachte Aufruhr, und ihre Launen waren menschlich faßbar; ihre Tyrannei schlug Beulen; während die jener jüngeren Frau ganz anders geartet war: sie bedrückte moralisch. Denn da gab es ein Ablehnen aller Lebenspflichten, einen naiven Egoismus, der etwas ungeheuerlich Zwingendes hatte, wohin er seine sanften Finger legte . . . Der Vater sah das nicht. Er fand es vollkommen in der Ordnung. – – – »Stört sie nicht,« sprach er, als er starb; »sie hat Kopfweh.«
Im oberen Zimmer vielleicht, nach dem ersten taumelnden Schreck vor dem schwarzen Loch, das man ihr vorsichtig aufdeckte, setzte sie sich mit matter Hand eine Märtyrerkrone auf das Haupt; und darunter erwachte der Gedanke: »Wie dankbar bin ich dir, Enrique, wie dankbar, daß du mir dies erspartest . . .«
Darin war er konsequent. Er ersparte ihr alles . . . Andere Leute handelten in seinem Geiste.
Selbst ein Erdbeben meinte es gut mit ihr in Placilla, als die Marmorplatten in der Halle auf die Wanderschaft gingen und ein mächtiger Eukalyptusbaum am hellen Mittag den Einfall hatte, sich auf das Dach zu begeben . . . In ihrem Zimmer fiel nicht einmal eine Arzneiflasche auf den Boden.
12 Und so lebte sie weiter, beschäftigte sich damit, in regelmäßigen Abständen auf die Uhr zu sehn . . . Die Tage gingen vorüber, eindruckslos mit dem Geknarr von Fensterjalousien; mit dem Kommen und Gehen des »Mosso«, der das Zimmer in Ordnung hielt; mit Audienzen, die sie der zahlreichen chilenischen Dienerschaft gewährte, und dem Beichtvater, der das blasse Gespenst einer noch blässeren Gedankensünde mit leisem Lächeln von hinnen bannte, um ihr dann die letzten Neuigkeiten vom Asphalt der Plaza auf die passendste Art zu hinterbringen . . . Er wußte Skandale; doch hatte er sie präpariert wie Falter unter dem Glas; und selbst herb Aktuelles hatte bei ihm jene sanfte Lichtbrechung, die es historisch und gleichsam entschuldbar macht. Was sich mit Donna Errasurez oder mit Alfonso La-Rein-Claro begeben, selbst wenn es erst Tage alt war, hätte ebensogut die Sanktion von Monaten oder Jahren haben können.
Würde darum – so fragte sich der philosophische Priester – jene Fensterjalousie nicht genau dasselbe zeitlose Knarzen und Singen vollführen?
Endlich, nach gewaltsamem Kampf mit dem Entschluß, bereitete die Mutter eine Reise vor und zog nach Weimar; der Kinder wegen, deren Alter eine bessere Erziehung heischte. Dort erwarb sie ein solid gebautes Ziegelhaus mit einer hochgetürmten Mauer um den Garten und lebte im allgemeinen dasselbe Leben weiter . . . Man achtete das; man ersparte ihr Katastrophen. Zudem bezahlte sie gut dafür, daß man ihr mit Rücksicht alles abblendete, was Augen- und Sinnenschmerz bereiten konnte. Sie nährte sich von Teilnahme; sie bezahlte für Bedauern wie für guten Wein; und das konnte sie sich gestatten.
Denn ein Punkt, in dem sie der Welt nie entfremdet ward, blieb die Verwaltung der Geldinteressen; und die 13 tägliche Morgenbeschäftigung mit den Kursen zahlreicher Papiere blieb bei ihr bestehn als eine äußerst rege Passion.