Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Heimkehr

Vor dem Tivoli-Hotel herrschte abendlicher Tumult, der schalkhafte Tumult einer kurzen tropischen Dämmerung. Die Missionsschule hatte ihre Abendandacht beendet und ihre Pforten geöffnet; nun waren die Schönen durch den Garten herausgekommen, um unter den Zitronen- und Fikusbäumen, auf dem Steinfundament des eisernen Zaunes hockend, die Huldigungen ihrer Liebhaber entgegenzunehmen. Eine einzelne kleine Gestalt kam zögernd herangeschritten, von spitzen Reden verfolgt, die sie mit Schulterzucken ablehnte. Es war Petina. Er sah nachdenklich und matt besorgt aus, wenn man den Ausdruck auf seinem glatten Gesicht so deuten wollte.

Wie stets kaute er an einer Puablüte. Er stellte sich vor dem Hotel auf. Jetzt hielt er den Mund offen; der Stengel hing ihm zwischen den Zähnen heraus. Da fiel etwas: ›Klick!‹ durch ein Stückchen samtblauen Abendhimmels und landete gerade vor seinen Füßen. Es war ein Schirm. 87 Gleich darauf folgte der Vater, von einer Macht, über die er offenbar keine Kontrolle besaß, durch die Bartür befördert. Eine Welle von Geschrei und Gelächter flutete hinter ihm her.

Petina hob den Schirm auf und faßte den Vater am Arm. Grimmig heraustaumelnd, von kriegerischem Geist erfüllt, erfaßte Grothusen zunächst seine Umgebung nicht; seine blutgesprenkelten Augen stierten in die Runde, das ganze friedsame Hafenpanorama entlang, wie um ein neues Objekt zu erspähen, auf das er sich stürzen könne. Endlich ward er sich bewußt, daß ihn jemand am Arme hielt, und er erkannte in den zögernd klammernden Fingern die seines Sohnes. Er riß sich los.

»Ha!« schrie er, »Respekt! sage ich, Respekt! – Welches Recht, sage ich, nimmst du dir heraus, Sohn des weißen Mannes! Faßt seinen Vater am Ärmel! Du Bestie du!– Cut it out!! – – Geh hinein! – Schnurstracks geh hinein,« gröhlte er, »und zerschlage ihnen den ganzen Ausschank!«

Er riß Petina den Schirm fort. Breitbeinig hingepflanzt und dennoch schwankend, schleuderte er Drohungen zurück. Er wäre hingefallen, wenn Petina, eifrig und besorgt wie ein Wiesel, sich nicht um ihn herumgeschlängelt und seinen Sturmlauf verhindert hätte. Über den Kopf des Sohnes hinweg trompetete er. Sein Hals blähte sich; seine weiße Gestalt reckte sich prophetisch. Endlich erhielt er durch Petinas Bemühungen wieder eine Art Gleichgewicht.

Helles Gelächter rann den Missionszaun herab. Samoaner, die vorbei gingen, sagten: »Tk, tk«, und grinsten bis zu den Ohren hinauf. Da schien Grothusen plötzlich zusammen zu fallen, plötzlich etwas zu bemerken. In der Tat: um die Ecke, in die Ifi‘ifi-Straße hinein, war ein blitzender Kraftwagen geglitten. Ein Stulpenhandschuh an einem rohseidenen Ärmel hatte sich von dem Lenkrad gelöst und 88 irgendwo einen Gruß erwidert. Grothusen stierte auf den Punkt in der Luft, wo der Stulpenhandschuh geschwebt hatte, und mit dem Nachklang des taktfest versickernden Geräusches in den Ohren, sprach er träumerisch wie ein Kind: »Guten Abend, Exzellenz.«

»Komm nun, komm, Vater,« sagte Petina und zerrte an ihm. Er sammelte sich, und die imaginäre gerade Linie, in die ihn Petinas leiser Fingerdruck wies, starr fixierend, gab er seinen Beinen einen Antrieb. Sie fielen vorwärts. Er ging und sprach mit krauser Stirn: »Der Gouverneur ist ein höflicher Mann. Er hat mich gegrüßt. – – Ich habe in Vailima gesungen!« schrie er markig und sah seinen Sohn drohend an. »Bei dem Herrn Amtsvorgänger! Der wußte mich auch zu schätzen! Aug' in Auge hab ich ihn gefragt: ›Welches Lied belieben Sie, Exzellenz?‹ ›Die Müllerlieder!‹ pflegte er zu sagen. ›Singen Sie mir die Müllerlieder, Grothusen, das erinnert mich an die Heimat.‹ Und alle hab ich sie ihm heruntergesungen; er konnte sich nicht satt hören. Das war ein Mann! ›Zwei so alte Samoaner wie wir,‹ pflegte er zu sagen, ›wir kennen uns, was?‹ – Gold in der Kehle!« Grothusen krächzte den Beginn einer Opernarie. Petina blickte ihn aufmerksam an, dann lächelte er selig übers ganze Gesicht. Seine schwarzen Augen verkrochen sich ganz vor Vergnügen. Grothusen stolperte plötzlich und setzte sich hin.

In diesem Augenblick kam der englische Konsul. Diesmal faßte er nicht nach seiner Pilzhaube, sondern er schob sich vorüber, als ob es durchaus niemand sei, der da auf der Straße säße. In seinen engstehenden Augen regte sich nicht einmal der Schatten eines Grußes . . . Seltsame Gedanken nahmen von Grothusen Besitz. Er saß wie ein Insekt am Grunde eines Sandtrichters, kam es ihm vor; und am Rande entfernte sich der Ameisenlöwe, der diesen gleitenden Schacht verschmitzt gebaut, und der sich oben in freier Luft bewegte. Ja, dort oben intrigierte und wühlte er gegen ihn, wie es ihm beliebte . . . Die Strandstraße 89 zeigte eine Neigung, sich in einer weichen Kurve himmelwärts zu heben. ›Ach,‹ dachte Grothusen, ›wie komme ich da hinüber!‹ Doch auf einmal sah er an einer kleinen Gestalt herauf, einem Bäumchen, einem Wächter. Zwei treue staubige olivbraune Kniee, und ferner am Himmel ein halbdunkles Gesicht mit Grübchen und mit Zähnen, die blitzten.

Dies nun, er mochte wollen oder nicht, heimelte ihn an. ›Allein bin ich nicht,‹ dachte er. ›Diese beiden Beine, diese staubigen klaffenden Zehen sind für mich geschäftig. Großes Unrecht geschieht mir, aber etwas kommt und reißt mich heraus. Ein Junge kommt, stellt sich hin, nennt mich Vater, und hilft mir davon. Geräuschvoll und widrig ist die Welt, voll von übelwollenden Fratzen . . . Selbst ein feister Baumpilz, der sich gebildet nennt, und der platzt, wenn man ihm bloß mit dem Finger droht, kann Schindluder mit mir treiben. Hier aber kommt ein junger Bote aus einer friedlichen Ecke, trägt keine Häkelspitze, und ist nicht jämmerlich oder gemein, sondern geht treuherzig, halbnackt und einfachen Geistes durch die Welt und verleugnet mich nicht. Bleibt Wache stehen, wenn ich mich hilflos auf den Hintern setze, rümpft nicht die Nase, spottet meiner nicht, sondern ist zäh und geduldig und ehrt in mir seinen Erzeuger . . .‹

Staubbeschmutzt auf dem Boden hockend, empfand er weichen Vaterstolz. – Die Grübchen verschwanden aus Petinas Gesicht, und es ward glatt und dumm vor Widerwillen.

»Auf!« schrie er auf samoanisch. »Auf! Du setzt dich hier auf die Straße! Man wird lachen! Auf! Du sollst heim!« Er stieß mit dem Knie an Grothusens Schulter, die haltlos nachgab.

»Petina!« sprach Grothusen schnarrend vor sich hin. »Liebst du deinen Vater?«

Die Kniee rieben sich unschlüssig aneinander.

»I,« klang es nach einer Pause zurück.

Grothusen starrte mit gläsernen Augen an ihm herauf. 90 »Du hast mich zu lieben!« schrie er ächzend und erbost. »Das ist's, was du zu tun hast, verstehst du? Wenn du mich fürchtest, das macht nichts! Fürchte mich nur, die Liebe kommt ganz von selbst! – Wo sind wir denn jetzt?«

Petina lachte hölzern. »Auf dem Weg nach Hause. Mutter wartet.«

Grothusen erhob sich torkelnd und schlang den Arm um Petinas Schulter. Die Schirmstücke ließ er liegen. »Gut!« knurrte er hochbefriedigt. »Gut! nach Hause! Die Mutter wartet!« Unklare Vorstellungen kamen ihm. Plötzlich lallte er: »Was sagst du? Sie wartet? Auf was wartet sie?«

Petina antwortete nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, über das Gleichgewicht des Vaters zu wachen. Da tönte es weiter: »Deine Mutter ist eine Hexe, das weißt du wohl!« Grothusen stieß auf. »Wenn dein Vater seinen Geburtstag hat, seinen fünfzigsten, so schläft sie nicht! Freilich schläft sie nicht! Sitzt und wartet, und dann geht das Gezeter los! Dann piekt sie mir Nadeln in die Haut! Ein herrlicher Geburtstagsfraß war das heute mittag! Taro und Tinfleisch! Aber ich bin die Gans mit den goldenen Eiern! Ihr schneidet mir noch den Bauch auf vor Habgier! Seht nur nach, was ihr findet, und steckt eure Nasen hinein! – – Aber die Gans ist dahin, und ihr habt sie in die Grube gebracht!«

Petina machte den Mund auf. Er verstand gar nichts, aber seine Arbeit focht es nicht an. Immerhin war es erstaunlich, was er im folgenden zu hören bekam, und er begann aufzuhorchen.

»Aus Dreck ist der Mensch gemacht,« – ging es weiter. »Aber du bist eine bessere Mischung, mein Sohn, hast ein gutes Herz und hilfst deinem alten Vater davon. Man wird nicht alle Tage fünfzig Jahre alt. Siehst du, und du weißt wohl, dein Vater nimmt einen ›Nip‹, und dann noch 91 einen,weil es ihm nicht gut gegangen ist. Ein toter Hund, ja, das ist dein Vater, aber du bist ein verflixter Bastard, was?«

Petina grübelte ein wenig. »Was ist das?« fragte er dann wißbegierig. Da Grothusen nicht antwortete, hielt er es für eine Schmeichelei und trabte befriedigt weiter . . .

»Kommst her«, fuhr Grothusen fort, »und hilfst deinem Vater auf die Socken . . . Du bist mir zu gut für die ganze Gesellschaft!« schrie er rauh. »Aus dir muß was werden! Sollst es besser haben als ich! Hast du den Dreimaster bemerkt, der heute mittag gekommen ist? Das ist die schwedische Bark ›Thorna‹, Captain Rosenqvist! Das nächste Mal gehe ich hin und sage: ›Captain, hier ist mein Sohn, Ferdinand Grothusen, nehmen Sie den als Schiffsjungen, sage ich, Sie wetten Ihren Kopf, er ist anstellig! Muß hier heraus aus der verdammten Insel! Muß nach Europa, sage ich, muß nach Hamburg und eine Erziehung genießen, eine Prachterziehung, soll es besser haben wie sein Vater!‹ Raus mußt du, Donnerwetter, weg von hier, auf ewig und immer weg!

Aussaugen, ja, das könnt Ihr einen! Und wenn ich ein Huhn bestelle und komme zu Mittag nach Hause, an meinem fünfzigsten Geburtstage: Ja, dann ist keins da! Das ist unerhört, das gibt es nicht bei deiner Kanaker-Mutter! Bist ein Weißer, mein Sohn, und steckst hier immer unter Kanakern!« Grothusen gröhlte es vor sich hin, mit scharfem Akzent auf jeder Silbe, und dabei packte er des Sohnes Schulter wie eine eiserne Klammer.

Allmählich begriff Petina den Inhalt der Drohung. Die Hand des Vaters fiel herab, brutal fiel sie auf eine ganze Welt von braunen, schwarzhaarigen Köpfen, die Petina anverwandt waren; auf seine gesamte Vetternschaft, die lächelnd in den Dörfern saß und deren behutsames Zeremoniell ihn als gleichberechtigt und begrüßt in ihrer Mitte hocken ließ: die Beine unter sich und das Hirn voll einfacher Freuden. Sie alle zählten nicht; wurden ausgelöscht wie Geschmeiß samt ihrer Zuvorkommenheit, ihrer gütigen 92 Toleranz, ihren ellenlangen Titeln. Ein betrunkener Fremder kam und zerrte ihn heraus. Stummer Widerstand erwachte in ihm, mit der lautlosen Vehemenz seines eigentlichen, seines echten Herzens. Eine tierische Zärtlichkeit zu Tai‘afi‘afi war es, eine Flucht in ihren Schoß; er sah sie mit Abwehrgebärden diesem Menschen gegenüber, der auf samoanisch zu fluchen verstand, und sah sie schwach vor ihm, als vor einem, der das Lächeln dieser Inseln erlernt hatte und sie immer wieder samt ihrer A‘iga in die Fesseln einer künstlichen Gemeinschaft schlug. – Er machte sich plötzlich mit einem Ruck frei, mit einer Schlangenbewegung seines glatten, geschmeidigen Körpers. – Der Vater verfolgte die Richtung noch einige Schritte; dann lehnte er sich gegen einen Palmenstrunk. Mühsam drehte er sich um und sah den Sohn hinter sich auf dem Weg stehn wie ein böses Holzbild; tückisch und reglos . . .

Der Knabe hatte die Augen, halb geschlossen, nach oben gedreht. Für die Dauer eines Blitzes war sein schmales Gesicht die Maske eines ganz frühen Menschen, dem die Leidenschaft den Herzschlag raubt. Empörungen blinder Völker verdichteten sich blutschwellend in dem Endzweig – dem vor Wut gesteiften Leib dieses Knaben – und drückten ihm ein bösartiges, viel zu starkes Symbol auf; – zu stark für das verfälschte Blut und die kaum erwachte Männlichkeit, in deren erstem schwachem Morgenschatten er stand. Mutter und Schwester waren beschimpft; roh ward er ergriffen und in einen Zwiespalt geworfen, zwischen rufende Stimmen, unter denen er fror. – Auf einmal riß er sein Hüfttuch empor, wies mit einer aufreizenden höhnischen Bewegung dem Vater die nackten Hüften und zischte, auf dem Platz emporhüpfend: »Fang mich! – Schlag zu, wenn du kannst! . . . Schlag zu!« –

»Komm her, du verfluchter Kanaker!« . . . Grothusen setzte sich schwer auf die spitzen Bastkanten des Strunkes; es tat ihm weh. – »Du kommst jetzt her, oder ich prügele dich, bis du nach Luft schnappst!«

93 »Soia!« – kam es hart zurück, mit der Stimme Tais. Petina zeigte die Zähne und rührte sich nicht. Minuten vergingen.

 

Endlich trat er zögernd herzu und half dem Vater auf. – Es geschah nicht aus Kindesliebe. – Es war die Angst vor der Schmach der künftigen Morgensonne und dem Gelächter über ein Mitglied seiner Familie, das hohen Titel trug und desperat am Wege sitzen würde ohne Dach über dem Kopf.

So trieb er ihn weiter, Stück um Stück, wie ein Moskito plagte er ihn. Immer wieder schwirrte er heran, mit kleinen Stößen, Umklammerungen und Hinweisen auf die Wirkung, die es haben werde, wenn er hier wie eine gestrandete Meerschildkröte zappelnd liegen bleibe, dem Gelächter und dem Schnabelhieb der morgendlichen Möwen verfallen . . .

Es war dunkler geworden. Eine feine, tiefe und gleichwohl noch durchsichtige Dämmerung herrschte. Der Himmel hatte sich mit Wolken bezogen. In die harten Atemzüge der beiden hinein sprach das gleichmütig plätschernde Meer. Es war ganz nahe, und weiches Pfeifen von Riffvögeln drang darüber hin. Palmenrascheln erhob sich in der Abendbrise. Der Widerschein der halbgesunkenen Sonne lag eigelb und begrenzt ganz fern im Westen. Grillen feilten zu dem Takt monotoner Gesänge. Die Hüttenhauben lagen friedlich wie brütende Hühner über traulich blinkenden, verstreuten Lampenlichtern. Ein glucksendes geiles Gelächter ward irgendwo wach und endete in einem erstickten Kreischen. 94



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