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Durch Zufall erfuhr ich vor Kurzem von der Existenz zweier neuer Vereine in Berlin, dem »Verein ehemaliger Selbstmörder« und dem »Verein geheilter Pockenkranker«. Diese Beispiele erschienen mir bemerkenswerth für die allgemeine Sucht unserer Zeit, sich zusammenzuthun, und lenkten meine Aufmerksamkeit auf diese Erscheinungen. Es gelang mir im Laufe einiger Wochen eine grosse Anzahl von neuen Vereinen zu entdecken, die, wie ich annehmen darf, dem grossen Publikum mehr oder weniger unbekannt sind. Es mag genügen, wenn ich hier nur einige der bemerkenswerthesten aufzähle.
Die Sonnenbrüder sind wie schon ihr Name andeutet, Sonnenanbeter. Deshalb finden auch ihre Zusammenkünfte auf grossen freien Plätzen oder ähnlichen Orten statt, die der unbehinderten Einwirkung des himmlischen Gestirnes ausgesetzt sind. Ihre religiösen Anschauungen verbieten ihnen jegliche Arbeit und jeglichen Kleiderluxus, und ihr ganzes Leben ist stiller Beschaulichkeit und der Verehrung ihrer Gottheit gewidmet. Wovon und wie sie sich ernähren ist ein Räthsel; mir wenigstens ist es nie gelungen, sie essen zu sehen. Zu den Hauptäusserungen ihres Kultus gehört es, dass sie unter feierlichen Zeremonien eine Flasche unter sich kreisen lassen, die mit einer weissen, grünlichen oder braunen Flüssigkeit gefüllt ist. Diese Handlung ist sicher symbolisch und stellt die Sonne und ihren täglichen Kreislauf dar. Ein Jeder ergreift bei solcher Gelegenheit die Flasche mit stummer Andacht, hält sie eine Weile wie in Anbetung versunken zum Himmel empor und thut dann einen tiefen Zug. Sodann schüttelt er sich kräftig, wie von den Schauern der Gottheit durchrieselt, und reicht die Flasche seinem Nachbar.
Ausser der Sonne verehren sie unter dem Namen »Mutter Grün« noch ein anderes erhabenes Wesen. Da sie dieser Göttin im tiefsten Schatten der Wälder und Haine huldigen, so sind hier unzweifelhaft noch Spuren des alten Hertha-Kultus erhalten. Leider gelang es mir nicht darüber Näheres in Erfahrung zu bringen, da die Mysterien, die dieser Göttin geweiht sind, nur in dunkler Nacht stattfinden, und die Orte dieses Kultus sorglich verborgen gehalten werden.
Die Zusammenkünfte dieser Gesellschaft finden bei einem Glase Ammenbier in einem Keller der Linkstrasse statt. Vorsitzende ist eine junge Dame, die durch eine glückliche Fügung und eigenes Verdienst bereits zum fünften Male in der Lage ist, sich ihrem einträglichen Berufe widmen zu können. Sie hat dadurch eine solche Virtuosität in den Haupterfordernissen ihres Faches erlangt, dass es ihr gelungen ist, während ihrer letzten Säugeperiode ihre Dienste einundfünfzig verschiedenen Herrschaften zu widmen, eine Leistung, die für diese einer Summe von Aerger entspricht, dass das Himmelsgewölbe zu eng ist, um sie darauf nieder zu schreiben. Deshalb geniesst sie auch bei ihren Colleginnen eine abgöttische Verehrung und bei den Berathungen, die stattfinden über die besten Methoden, die Frau krank zu ärgern, den Herrn zur Raserei zu bringen und vorteilhafte Stellungen anzunehmen, wenn die dazu nothwendige Befähigung längst erloschen ist, welche drei Dinge sie als die höchsten Aufgaben des Ammenthumes betrachten, lauscht man den Worten der Weisheit, die von ihren Lippen träufen, mit tiefer Andacht. Für die nächste Sitzung ist der Vortrag einer erfahrenen Spreewälderin angekündigt über die beste Methode, den Säugling in Schlaf zu bringen, und man ist sehr gespannt, ob sie einer Abkochung von Mohnköpfen, dem Einreiben des Kinderkopfes mit Madeira oder dem selbsteigenen Genuss genügender Mengen von Gilka den Vorzug ertheilen wird. Mit der letzten auch für die Amme genussreichen indirekten Methode sollen bereits schöne Erfolge erzielt worden sein.
Die Bezeichnung ist eigentlich nicht ganz richtig, da sich die Mitglieder obiger Gesellschaft ausschliesslich mit moderner Archäologie beschäftigen. Da jedoch das Volk ihnen seit lange den Namen »Naturforscher« ertheilte, so haben sie diese Bezeichnung für ihren Klub beibehalten. Ihre Versammlungen finden statt an jenen äussersten Grenzen der Kultur, wo Schutt abgeladen werden darf, und an einsamen Bretterzäunen langsam der Koprolith der Zukunft heranreift. Dort haben sie ihre soeben erworbenen Schätze ausgebreitet und reinigen sie und trocknen sie in der Sonne, und beneiden sich gegenseitig ganz wie ihre vornehmeren Kollegen. Aber wenn diese sich gewöhnt haben die Sammelobjecte erst bei einem tausendjährigen Alter zu schätzen, wenn sie zu weiter nichts mehr zu brauchen sind, als im Museum in einen Glaskasten gesetzt zu werden, so achtet der modernste Archäologe seine Fundstücke nur, wenn sie noch nicht dieses zweifelhafte Verdienst besitzen. Lieber als ein halb zerfallenes Gewebe aus den Pfahlbauten von Robenhausen ist ihm Riekes noch wohlerhaltener Scheuerlappen, und ein Pfund Schreibhefte eines Kommunalschülers gelten ihm mehr als zehn Kilogramm alter ägyptischer Papyrus-Handschriften, die zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Und ich möchte die Frage aufstellen, wer glücklicher ist, der Eine, wenn er vorsichtig eine wohlerhaltene Gesichtsurne aus dem Schooss der Erde hebt, oder der Andere, wenn er eine leere Champagnerflasche findet, die unter Brüdern immerhin ihre zehn Pfennige werth ist.
Der Wahlspruch des Vereins heisst: »Lumpen, Knochen, Papier und freie Forschung!« und auf diese hinzuwirken, ist sein Zweck. Denn, sollte man es glauben, in einer Zeit, wo selbst die Türkei einem Schliemann erlaubt, die Müllhaufen des Alterthums zu durchstöbern und Orte umzugraben, wo sieben Städte wie bei einer Wiener Torte übereinander geschichtet sind, besitzen in Berlin, der Hauptstadt der Intelligenz, viele Hausbesitzer so wenig wissenschaftlichen Sinn, dass sie der freien Forschung Hindernisse in den Weg legen und ihre Höfe und Müllgruben vor der Hacke des modernsten Archäologen stumpfsinnig verschliessen.
Auch diesem Verein, dessen ich schon zu Anfang erwähnte, bin ich näher getreten, obwohl ich mich nicht rühmen kann, ihn entdecket zu haben. Wenn ich die Geschichte eines seiner Mitglieder erzähle, so wird man am besten einen Begriff bekommen, welch' eine sonderliche Gesellschaft sich unter diesem Titel zusammengefunden hat. August Nottebohm war von jeher ein Pechvogel. Allein mit solcher Grausamkeit wie in jener denkwürdigen Woche des Jahres 1880 war er doch noch nie vom Schicksal behandelt worden. 1. Trotz der sorgfältigsten Vorbereitung fiel er durch das Baumeisterexamen. 2. In Folge dieser Thatsache entging ihm eine sichere und einträgliche Anstellung. 3. Beides zusammen bewirkte, dass seine Verlobung mit einem hübschen und wohlhabenden Mädchen von den Eltern rückgängig gemacht wurde. 4. Durch diese drei Thatsachen aufs Höchste erbittert, enterbte ihn sein Onkel, der Weissbierbrauereibesitzer Pannemann und heirathete das hübsche und wohlhabende Mädchen selber. 5. Vor Entsetzen über alles Dies starb eine Erbtante des jungen Nottebohm, die im Gerüche der Wohlhabenheit gestanden hatte. Sie hinterliess aber nichts, als die Begräbnisskosten zweiter Klasse. 6. Fallirte die Actien-Baugesellschaft »Sandgrube«, bei der er sein ganzes Vermögen angelegt hatte, und 7. stürzte das von ihm erbaute Haus Gründerstrasse 17, in einer guten Nacht vollständig ein.
Eine solche Reihe von Unglücksfällen, deren jeder einzelne schon geeignet ist, einen Menschen zu Boden zu schlagen, trieb ihn dem Selbstmord entgegen. Und zwar, da er sieben Ursachen hatte, beschloss er in seinem siebenfachen Schmerz, sich auch auf siebenerlei Arten gleichzeitig um's Leben zu bringen.
Nichts ist unwahrer als das Sprüchwort: »Umsonst ist der Tod«, ja; Mancher würde sich wohl hüten zu sterben, wenn er nachher die Begräbnisskosten zu zahlen hätte. Deshalb dachte auch Herr Nottebohm seinen siebenfachen Tod so billig als möglich einzurichten.
Er kaufte einen Ausschussstrick, einen Revolver letzter Klasse, ein nachgemachtes Bulldogg-Messer, ein Pülverchen Rattengift, eine Quantität ungelöschten Kalk vom Billigsten und eine Dynamit-Patrone. Sodann miethete er sich im Thiergarten einen Kahn und fuhr damit an eine abgelegene Stelle, woselbst ein passender Baumzweig über das Wasser sich hinstreckte.
Hier füllte er seine Kleider mit dem ungelöschten Kalk, mit dem er die Patrone sorgfältig umgab, befestigte den Strick an den Baumast und legte sich die Schlinge um den Hals. Sodann nahm er das Gift in den Mund, setzte den Revolver vor den Kopf, das Messer auf die Brust und während er nun den Kahn mit den Füssen von sich stiess, sprang er, indem er zugleich den Hahn abdrückte, das Pulver schluckte und mit dem Messer zustiess, sich aufhängend in's Wasser, woselbst der ungelöschte Kalk ihn verbrühen und durch seine Hitze die Dynamitpatrone zur Explosion bringen sollte. Allein der Strick riss, der Revolver versagte, das nachgemachte Bulldogg-Messer brach ab, das Rattengift war mit Gipsmehl verfälscht und wirkte nicht, der Kalk hatte sich durch zu langes Liegen schon an der Luft gelöscht, und das Wasser war nicht tief genug. Zwar versuchte er nun mit Entschlossenheit durch Untertauchen sich um's Leben zu bringen, allein als er bemerkte, dass ihm dabei die Luft wegblieb, erregte ihm dies so unangenehme Empfindungen, dass er eiligst wieder hervortauchte, und machte, dass er ans Land und nach Hause kam. Er gewann dann wieder Lust am Leben, strengte seine Kräfte an und befindet sich jetzt in einer ganz behaglichen Position.
Als er später in den »Verein ehemaliger Selbstmörder« eintrat, war es selbstverständlich, dass man ihn nach einer solchen Vergangenheit einstimmig zum Vorsitzenden erwählte.