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Neuntes Kapitel.

In tiefem Nachdenken hatte Doktor Lutz die Seylersche Wohnung verlassen und war in seine eigene Wohnung zurückgekehrt.

Der Gedanke, den er auch Fischer gegenüber geäußert hatte, nämlich, daß ein ernstes Familiendrama hinter dem mysteriösen Verbrechen stecken mußte, wollte ihm nicht aus dem Sinn, und die Befürchtung, daß die Polizei bei pflichtgemäßer Weiterverfolgung des Falles Denkandi keine Rücksicht auf Verwicklungen nehmen durfte, die den Geschwistern Brentano gegebenenfalls dadurch entstehen konnten, ließ seinen Geist nicht ruhen.

Er beschloß daher, bevor Rademacher, der begreiflicherweise, nach seiner falschen Kombination, nun noch eifriger als vorher bestrebt sein mußte, den wirklichen Täter herauszufinden, irgendwelche neue, dahingehende Schritte unternommen hatte, die Verfolgung der Angelegenheit selbst aufs energischste in die Hand zu nehmen.

Lutz griff nach seinem Hut, um nochmals in die Wohnung seiner Klientin zurückzukehren. Eine eingehende Aussprache, ohne die störende Gegenwart der Polizeibeamten, schien ihm für eine gedeihliche Weiterarbeitung nun das Nächstliegende und Wichtigste.

In der Liebigstraße angekommen, traf Lutz nur den Bruder zu Hause. Er bat den Detektiv höflichst, näherzutreten, und als beide Männer Platz genommen hatten, sagte der Offizier bedauernd:

»Meine Schwester ist leider nicht anwesend, Herr Doktor. Sie ist vor einer halben Stunde ausgegangen, um einen kranken Studienkollegen im städtischen Krankenhaus zu besuchen. – Wenn Sie meinem Rate gefolgt wäre, hätte sie sich selbst zu Bette gelegt, aber sie ließ sich nicht halten. –«

Lutz hatte Hartwig Brentano ruhig aussprechen lassen.

»Herr Leutnant,« sagte er nun, »es ist mir gar nicht unlieb, daß ich Sie allein hier vorfinde, denn die Angelegenheit hat eine derartige Wendung genommen, dass sie eine ernste, offene Rücksprache mit Ihnen als dringend notwendig erscheinen lässt.«

»Mit mir – –?« fragte der Leutnant überrascht. »Warum gerade mit mir – –?«

»Weil Sie ein Mann sind – –!« sagte Lutz nur ruhig. Und nun machte er den aufmerksam lauschenden Offizier mit dem Ergebnis der Ermittlungen bekannt, die zwar die Unschuld des Türken als ziemlich sicher erscheinen ließen, die Angelegenheit an sich aber in keiner Weise geklärt hatte. – – Im Gegenteil – –!

Leutnant Brentano war aufs tiefste erschrocken.

»Das ist ja eine fürchterliche Wendung«, rief er aus, und stand von seinem Stuhle auf. – Schweigend die Stirn in tiefe nachdenkliche Falten gelegt, durchmaß er dann das Zimmer.

Lutz ließ ihn eine kleine Weile ruhig gewähren, dann legte er ihm sanft die rechte Hand auf den Arm und sagte:

»Beruhigen Sie sich, Herr Leutnant. So schlimm die Sache auf den ersten Blick auch aussehen mag, noch ist nichts verloren. Die einzige Befürchtung, die ich hege, ist, daß bei einer Verhaftung der Person, welche ihrem Vater die Schlange geschickt hat, möglicherweise Dinge an die Öffentlichkeit kommen, ich sage zwar möglicherweise, rechne aber mit der Gewissheit, – die Ihrer sozialen Stellung als Offizier nicht gerade dienlich sein werden. Nach Lage der Dinge erscheint eine derartige Befürchtung wohl gerechtfertigt. – Ich rede ganz offen mit Ihnen, Herr Leutnant, denn eine Vogelstraußpolitik treiben, wäre gerade hier der größte Fehler. – –«

Hartwig Brentano fuhr sich mit der rechten Hand in den Kragen, der ihm plötzlich zu eng geworden schien. – Dicke Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

»Gott steh mir bei – –!« rief er gequält aus. »Was kann ich tun, Herr Doktor. – Soll ich den Polizeipräsidenten aufsuchen. – – Geben Sie mir doch einen Rat, wie ich einen Skandal vermeiden kann. – –«

»Vor allen Dingen, Herr Leutnant,« meinte Lutz ruhig, »nehmen Sie bitte wieder Platz. Eben um Ihnen diesen Rat zu geben, und um Ihnen zu helfen, bin ich ja hier. – Nur dürfen Sie den Kopf nicht verlieren. – Ihr Fräulein Schwester hat mich mit der Vertretung Ihrer Interessen betraut und ich habe den Auftrag angenommen. Jetzt ist es nicht nur meine Pflicht, den Täter nach Möglichkeit zu ermitteln, sondern auch alle diese Arbeiten so diskret zu führen, daß jegliche Sensation, die Ihnen Schaden bringen kann, unbedingt vermieden wird. –«

Leutnant Brentano hatte gehorsam wieder Platz genommen. Schon etwas beruhigter fragte er:

»Also, zu welchen Schritten raten Sie mir, Herr Doktor –?«

»Zu gar keinen,« meinte der Detektiv trocken, »Sie selbst würden nichts gutmachen, sondern nur alles verderben. Überlassen Sie alles weitere mir. – – Vor allem ist eine persönliche Vorsprache beim Polizeipräsidenten völlig zwecklos. – Die Polizei ist eine Behörde, die ganz unparteiisch arbeiten muß und keine Rücksichten nehmen kann. – Ihre Tätigkeit in unserem Falle beschränkt sich lediglich darauf, den Täter zu ermitteln und festzunehmen. – Das ist, nachdem sie die Sache schon einmal in die Hand genommen hat, ihre Pflicht, von der sie niemand abbringen kann, auch Ihre persönliche Vorsprache beim Polizeipräsidenten könnte daran nichts ändern. – –«

»Warum mußte dieser elende Bertolinescu uns die Behörden auf den Hals hetzen«, rief Brentano wütend aus.

»Daran ist nun nichts zu ändern«, meinte Lutz gleichmütig.

»Ich beneide Sie um Ihre Ruhe – –«, rief Brentano.

»Die ist in meinem Beruf unerläßlich. Allzuviel Temperament ist immer von Übel, besonders in der Kriminalistik. – Herr Leutnant –,« fuhr Lutz nach einer kleinen Pause fort, »das einzige, was in unserer Sache vorläufig zu machen wäre, ist, der Polizei zuvorzukommen. –«

»Wie soll ich das verstehen – –?«

»Ich muß den Täter entdecken, bevor er in die Hände der Kriminalpolizei fällt.«

»Halten Sie dessen Ermittlung für so schwer? –«

»Nein«, meinte Lutz nachdenklich. »Für relativ leicht.«

»Das ist ja gut für uns«, rief Brentano freudig aus.

»Nein, im Gegenteil, sehr schlecht« sagte Lutz. Und als ihn Brentano überrascht ansah, fuhr er fort: »Vergessen Sie nicht, Herr Leutnant, daß die Herren auf der Polizei auch nicht blind sind. Wenn es mir schon nicht allzu schwer fallen dürfte, die Person, welche Ihrem Vater die Schlange gesandt hat, zu ermitteln, dann gelingt diese gleiche Aufgabe der staatlichen Polizei, die außer einem zahlreichen Personal noch über ganz andere Hilfsmittel verfügt, wie ich, erst recht. – Nun machen Sie nicht gleich wieder so ein betrübtes Gesicht. – Sehen Sie, Herr Leutnant,« fuhr Lutz fort, »der Fall ist ernst genug für uns, aber durchaus nicht hoffnungslos. – Ich weiß, daß die Polizei heute nachmittag im Falle Denkandi keine weiteren Schritte unternimmt, bevor der Leiter der Kriminalabteilung, mein persönlicher Freund, heute abend mit mir Rücksprache genommen hat. Auf Grund dieser definitiven Zusage bleibt uns ein halber Nachmittag, den wir der Polizei voraus haben. Um nun die Sache richtig in die Hand nehmen zu können, muß ich Sie, Herr Leutnant, bitten, mir noch einige Fragen offen und rückhaltlos zu beantworten, Fragen, die ich im Interesse meiner Ermittlungen unbedingt stellen muß. – Sie betreffen die Vergangenheit Ihres Stiefvaters. –«

»Fragen Sie, Herr Doktor«, sagte Brentano. »Ich will Ihnen gern antworten, nur befürchte ich, mein Wissen wird recht gering sein.«

»Es würde mich vor allem interessieren, etwas Genaueres über den Aufenthalt Doktor Seylers in Amerika zu erfahren.«

»Eben über jene Epoche weiß ich so viel wie nichts. Mein Stiefvater hat über jene Zeit mit uns Kindern nie gesprochen, und selbst auf eine direkte Frage nur ausweichende Antworten gegeben.«

»Das ist gerade das bedenkliche«, meinte Lutz nachdenklich. »Ihr Vater besitzt aber doch die deutsche Staatsangehörigkeit?« fuhr er fort.

»Sicherlich«, meinte Brentano. »Er ist in Freiburg in Baden geboren und war in Karlsruhe Soldat.«

»Wo hat er studiert –?«

»Ich glaube in Freiburg. Er war bis zur Zeit der Revolution 1848 in Deutschland, dann wanderte er nach Amerika aus.«

»Nord- oder Südamerika –?«

»Das weiß ich nicht. – Es muß aber ein Staat gewesen sein, wo Spanisch die Landessprache ist. Ich weiß, daß mein Stiefvater drüben weiter studiert hat, und ein Diplom, das mir zufällig in die Hände gefallen ist, war in spanischer Sprache ausgefertigt. Wir Kinder, Hanna und ich, haben immer geglaubt, unser Stiefvater habe in Mexiko gelebt, aber das ist eine Vermutung, die sich auf keinen Beweis stützt. – –«

»Erinnern Sie sich etwas genauer an jenes Diplom in spanischer Sprache, von dem sie soeben sprachen –?«

»Nein«, antwortete Brentano ein wenig zögernd. »Jedenfalls kann ich Ihnen über den Inhalt nichts sagen. – Ich weiß nur noch, daß das Wappen, welches neben der Unterschrift abgedruckt war, einen Löwen enthielt. –«

»Einen Löwen –?« fragte Lutz. »Das Wappen Mexikos«, fuhr er fort, »hat keinen Löwen, auch die Banda Oriental nicht, hingegen das benachbarte Uruguay. –«

»Herr Doktor – –!« rief Brentano bewundernd aus. »Ich staune über Ihr immenses Wissen; selbst auf diesen Gebieten sind Sie bewandert.«

»Eine möglichst große Allgemeinbildung«, antwortete Lutz, »ist für den Kriminalbeamten die › conditio sinae qua non‹. Haben Sie, Herr Leutnant, dieses Diplom oder das Offiziersdekret, welches drüben im Arbeitszimmer an der Wand gehängt haben soll, nicht wiedergefunden?«

»Nein, Herr Doktor, obgleich ich aus leichtverständlichen Gründen die nachgelassenen Papiere meines Stiefvaters genau durchsucht habe. Ich konnte nichts finden, und es macht mir den Eindruck, als ob mein Stiefvater sämtliche Papiere, die über seinen Aufenthalt in der Neuen Welt irgendwelchen Aufschluß geben konnten, absichtlich vor kurzer Zeit vernichtet hat.«

»Ich glaube, daß Sie mit dieser Vermutung nicht ganz unrecht haben«, meinte Lutz nachdenklich. »Nun eine andere Frage, Herr Leutnant. Ihr Stiefvater soll in Amerika Offizier gewesen sein –?«

»Jawohl. Im Zimmer meiner Schwester liegt eine Photographie in Uniform von ihm. Eine weitere Aufnahme besitze ich. Vielleicht interessieren Sie die Bilder, Herr Doktor –? Ich hole sie Ihnen.«

Brentano verschwand für einen Augenblick aus dem Zimmer, und kam sofort mit den zwei Photographien zurück, die Juan de Souza Miranda wenige Tage vorher in so große Aufregung versetzt hatten. Lutz betrachtete die Bilder genau.

»Es ist zwar schwierig,« sagte er, »über Uniformierung in den vielen amerikanischen Staaten eine Erklärung abzugeben, aber einen mexikanischen Offizier stellt dieses Bild hier bestimmt nicht dar. Dagegen spricht erstens die Firma des Photographen Rivalda und Compañía in Montevideo. Montevideo ist die Hauptstadt von Uruguay. Dann läßt auch die Barttracht Ihres Stiefvaters auf einen Aufenthalt in Argentinien oder der Banda Oriental schließen. –«

»Woraus sehen Sie das, Herr Doktor?« fragte Brentano.

»Die dortigen Männer«, antwortete Lutz, »vereinigten in den siebziger Jahren noch, wie hier auf dem Bild, den Schnurrbart und Knebelbart zu einem Zipfel, der spitz nach unten getragen wird. Meine Wissenschaft ist authentisch, Herr Leutnant«, sagte Lutz schnell, um einer diesbezüglichen Frage zuvorzukommen. »Ich habe das vorhin in einem Buche zu Hause nachgelesen.«

»Das zweite Bild, das Sie in der Hand haben,« sagte Brentano erklärend, »stellt meinen Vater nicht vor, ich besitze aber noch eine gute Photographie von ihm in Uniform.« Und er entnahm seiner Brieftasche ein Bild, das er Lutz hinreichte.

Es war eine Aufnahme Seylers im Alter von vielleicht dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Er trug ein dunkles, nach dem Ton auf der Photographie zu urteilen, rotes Wollhemd, ähnlich im Schnitte, wie es von Garibaldis Freischaren getragen wurde, ebensolche bauschige Hosen und hohe Stiefel, mit Sporen, in der Größe eines Fünfmarkstückes. Ein Käppi in französischem Schnitt, schief auf dem Kopf, zwei lange Reiterpistolen im Gürtel und unter dem Arm einen schweren breiten Kavalleriesäbel vervollständigten die Ausrüstung.

»Schneidig –? Nicht wahr –?« fragte Brentano mit einem gewissen Stolz.

Lutz nickte. »Nach der Uniform zu schließen,« sagte er, »dürfte dieses Bild einen Offizier der Armee von Uruguay darstellen. Soweit ich orientiert bin, trugen die Soldaten des Diktators Lopez von Uruguay rote Hemden.«

»Richtig –«, fiel Brentano schnell ein, »das andere Bild, das Sie noch in der Hand haben, stellt diesen Lopez vor. Nach der Widmung auf der Rückseite zu schließen, muß er ein guter Freund meines Stiefvaters gewesen sein. Verstehen Sie Spanisch, Herr Doktor?«

»Um diese Widmung zu verstehen, dazu reicht es«, meinte Lutz und schüttelte bedenklich den Kopf. »Sie täuschen sich, Herr Leutnant«, fuhr er fort. »Dieser Lopez auf der Photographie ist nicht identisch mit dem Präsidenten von Paraguay. Der hieß Francisco Solano Lopez, und auf dem Bild steht Lopez Jordan. Dürfte ich Sie vielleicht bitten, mir den Band Konversationslexikon Königshofen – Luzon, er steht im Arbeitszimmer Ihres Stiefvaters, zu geben. –«

Und als der Leutnant den dickleibigen Band vor Lutz auf den Tisch gelegt hatte, schlug der Detektiv nach einigem Suchen eine Seite auf und sagte: »Hier überzeugen Sie sich selbst. ›Antonio Lopez, Präsident von Paraguay 1842-1862, verstand es, das Land zu hoher Blüte zu entwickeln; – Francisco Solano Lopez, Sohn des ersteren, gelangte im Jahre 1862 nach seines Vaters Tod an die Regierung, brach nach kurzer Friedensherrschaft einen Krieg mit Brasilien, Uruguay und Argentinien vom Zaun, der sein Land fast vernichtete und ihm selbst im März 1870 das Leben kostete.‹ Weiter«, fuhr Lutz fort, »E. Lopez Jordan, geboren 1821, berüchtigter Parteigänger in den La Platastaaten, Adoptivsohn des Präsidenten d'Urquiza von Argentinien, den er, um die Regierung an sich zu reißen, im Jahre 1870 ermorden ließ. – –«

Lutz unterbrach seine Lektüre und sah den Leutnant fragend an.

»Das ist ja ein feiner Herr, dieser Lopez Jordan –« sagte Brentano.

»Der politische Mord, auch Verwandtenmord –«, meinte Lutz wegwerfend, »ist in der Geschichte des lateinischen Amerika eine so alltägliche Erscheinung, daß es sich wirklich kaum der Mühe lohnt, darüber Entrüstung zu zeigen. Bedenklich scheint mir nur die Freundschaft, die diesen Lopez Jordan, wie ich aus der Widmung schließen muß, mit Ihrem Stiefvater verband. – Er schreibt Freund und Waffengefährte. – Merken Sie wohl, Herr Leutnant, Waffengefährte –! In Anbetracht dessen, daß die Kampfhandlungen dieses sauberen Lopez Jordan wohl zumeist in Auflehnung gegen die bestehende Regierung bestanden haben, ist es gerade keine Empfehlung, ein Freund und Waffengefährte von ihm zu sein.«

Leutnant Brentano war wieder aufgestanden und hatte seine Wanderung durch das Zimmer von neuem aufgenommen.

»Ich bin wie vor den Kopf geschlagen, Herr Doktor«, sagte er. »Es bestehen bei mir eigentlich kaum Zweifel mehr, daß mein Stiefvater in Amerika mit einer Person in, sagen wir mal unsaubere Händel verwickelt war, das war wohl auch der Grund, weshalb er mit uns Kindern niemals über seinen Aufenthalt in Amerika geredet hat.«

»Sie sind nicht blutsverwandt mit Doktor Seyler –?« fragte Lutz.

»Nein – Nein – – Herr Doktor. »Meine Schwester Johanna und ich sind die Kinder eines jung verunglückten Artillerieoffiziers, dessen Witwe, unsere Mutter, sich zum zweiten Male mit Doktor Seyler verheiratet hat. Über das Vorleben meines Stiefvaters, der schon mehr als fünfzig Jahre alt war, als er meine Mutter heiratete, weiß ich soviel wie nichts. –«

»Herr Doktor Seyler hat keine eigenen Kinder –?« fragte Lutz.

»Nein,« antwortete Brentano, »er war, als er meine Mutter heiratete, noch Junggeselle. –«

»Wissen Sie vielleicht, wie lange Ihr Stiefvater in Amerika gelebt hat – –?«

»Nein, Herr Doktor – auch nicht genau – –. Und doch – –! Warten Sie einmal – –! Er verließ Deutschland im Jahre 1848, das hat er mir selbst erzählt. – Im Jahre 1870 muß er aber wieder in Deutschland gewesen sein, denn er hat den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im Sanitätsdienst, wenn ich nicht irre, im badischen Korps, mitgemacht. Demnach hat er mindestens zwanzig Jahre im Ausland gelebt, ob er allerdings die ganze Zeit in Amerika zugebracht hat, weiß ich natürlich nicht. – Es hat mir stets gut gefallen und wie ich offen zugeben will, viel zu dem guten Einvernehmen zwischen meinem Stiefvater und mir beigetragen, daß er trotz seines langen Aufenthalts im Ausland soviel patriotisches Empfinden bewahrt hatte, um sich seiner Pflicht zu erinnern, als das Vaterland ihn benötigte. –«

Lutz antwortete nicht sofort. Er schien in dem vor ihm liegenden Band des Konversationslexikons etwas nachzulesen. Schließlich kappte er das Buch zu.

»Ich weiß nicht, Herr Leutnant, ob es gerade patriotische Gründe waren, die Ihren Stiefvater veranlaßten, im Jahre 1870 nach Deutschland zurückzukehren. – Na, wie dem auch sei. – Warten wir ab –!« Er stand auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Auskünfte, Herr Leutnant«, sagte er und reichte Brentano die Hand. »Der Weg, den ich nun einzuschlagen habe, liegt klar vor mir. – Sobald ich etwas in Erfahrung bringe, telephoniere ich Ihnen. Nun, auf Wiedersehen, Herr Leutnant, empfehlen Sie mich Ihrem Fräulein Schwester und nehmen Sie um Gottes willen die Sache nicht so tragisch – – noch ist Polen nicht verloren. –«

Am folgenden Morgen, – Lutz war gerade aufgestanden, trat sein Sekretär Roderich ins Schlafzimmer.

»Herr Doktor,« sagte er, »Kommissar Fischer ist am Telephon. Er will Sie dringend persönlich sprechen. –«

Lutz ging im Schlafanzug nach seinem Arbeitszimmer hinüber und kam nach wenigen Sekunden zurück. »Ich muß sofort aufs Polizeipräsidium – sagte er, »wenn sich irgend etwas von Belang hier ereignen sollte, telephonieren Sie mir bitte. –«

Dann beendete er schnell seine Toilette, trank im Stehen eine Tasse Kaffee und stand wenige Minuten später im Bureau des Kommissars Fischer.

Dieser begrüßte Lutz mit ernster Miene.

»Nehmen Sie, bitte, Platz, lieber Lutz,« sagte er, »ich muß mit Ihnen über den Fall Denkandi sprechen. Ich habe gestern«, fuhr er fort, als der Detektiv seiner Aufforderung nachgekommen war, »noch einen Rapport gemacht, welcher die veränderte Situation klarstellt. Meinem Versprechen gemäß habe ich die Exekutive noch nicht unternommen, nachdem der Bericht aber weg ist, muß ich jetzt weitergehen. – Auf die lange Bank darf ich die Sache nicht schieben und wenn ich eine Verzögerung von einem Tag auch schließlich verantworte, ein längeres Zuwarten wie bis spätestens morgen früh, ist undenkbar. Dann müssen die Nachforschungen nach dem Mörder Seylers mit Hochdruck aufgenommen werden. – Nun wollte ich Sie aber vorher fragen, lieber Lutz, ob Sie bei Ihrer Rücksprache mit den Geschwistern Brentano etwas Neues auf die Sache Bezügliches in Erfahrung gebracht haben, und worin es gegebenenfalls besteht. –«

Lutz hatte die Ausführungen des Kommissars schweigend angehört, dann schüttelte er den Kopf. »Meine Aussprache mit Herrn Hartwig Brentano war völlig negativ. –«

»Und das Mädchen – –?« fragte der Kommissar gespannt, »hat Ihnen Fräulein Brentano nichts erzählen können –?«

»Fräulein Brentano habe ich überhaupt nicht gesprochen –«, antwortete Lutz. »Sie war abwesend. – –«

»Schade – –!« meinte Fischer. »Mehr wie schade. Gerade von einem eingehenden Verhör der Tochter Seylers verspreche ich mir den meisten Erfolg. –«

»Wieso – –?« fragte Lutz etwas erstaunt.

»Mein lieber Lutz – –,« sagte Fischer nachdenklich, »das Benehmen des Mädchen hat mir gestern nicht recht gefallen. – Ich habe Fräulein Brentano genau beobachtet, und, – ich kann mir nicht helfen – Lutz – Sie gefiel mir nicht. Ich will nicht sagen, daß ihr Benehmen direkt verdächtig war. – Nein – – so weit möchte ich nicht gehen, aber sonderbar war es, sehr sonderbar. Ich wundere mich nur, daß Ihnen nichts ausgefallen ist. – –«

Lutz schüttete den Kopf. »Ich habe nichts bemerkt –«, sagte er. »Sie müssen schon ein wenig deutlicher werden.«

»Hm –«, machte Fischer. »Deutlicher werden ist nicht leicht. Ich kann Ihnen mit Worten nicht recht präzisieren, worin ihr auffallendes Wesen eigentlich bestanden haben soll, – aber, ich werde das Gefühl nicht los, Lutz, das Mädchen verbirgt uns etwas, es weiß mehr, als es zugibt, es kennt gewisse Umstände, die mit dem Verbrechen in Zusammenhang stehen und will, aus mir unbekannten Gründen, mit der Sprache nicht heraus. – Rademacher hat übrigens die gleiche Empfindung. –«

Lutz schüttelte den Kopf. »Sie irren sich bestimmt, Fischer –«, sagte er.

»Nein, nein, Lutz«, meinte Fischer entschieden. »Offengestanden, ich hatte sogar die feste Absicht. Fräulein Brentano selbst noch einmal eingehend ins Verhör zu nehmen, und nur die Rücksicht auf Sie ließ mich einstweilen davon Abstand nehmen. – Zufällig habe ich nun heute andere wichtige Dinge zu erledigen. – Im Hotel Astoria ist ein schwerer Zimmerdiebstahl vorgekommen und im Stadtwald in der Nähe der Oberschweinstiege wurde die Leiche einer Frauensperson aufgefunden unter gewissen Umständen, die auf einen Lustmord schließen lassen. Mit diesen beiden neuen Verbrechen, ungerechnet der laufenden Arbeiten, ist mein verfügbares Personal für heute voll beschäftigt, aber morgen muß ich an den Fall Seyler heran, ob ich will oder nicht. Ich bekomme sonst einen Anpfiff verpaßt, – und das wollen Sie doch auch nicht verantworten – –?«

»Um Gottes willen. – – Nein –!« rief Lutz in komischem Entsetzen aus. »Gehen Sie morgen nur mit Hochdruck an den Fall Seyler, nur den heutigen Tag lassen Sie mir noch freie Hand. Nicht wahr – –?«

»Einverstanden –«, antwortete Fischer. –

»Wie denken Sie sich nun Ihr weiteres Vorgehen?« fuhr Lutz fort.

»Nach reiflichem Überlegen gehe ich von dem Gesichtspunkt aus, daß der Täter mit den Verhältnissen im Seylerschen Hause ziemlich genau, möglicherweise sogar sehr gut bekannt sein muß, und wahrscheinlich hier in Frankfurt wohnt. Nach Zeugenaussagen kommt ein junger, elegant gekleideter Ausländer in Frage, voraussichtlich ein Südamerikaner aus der Republik Uruguay, der aber gut deutsch spricht. Soviel wissen wir, oder glauben wir wenigstens zu wissen. – Wenn wir schon von dem Gesichtspunkt ausgehen, daß ein Südamerikaner in Frage kommt, dann stellt sich unsere Arbeit nicht allzu schwer, da ein Ausländer selbst in dem großen Frankfurt aus vielerlei Gründen leichter zu ermitteln ist, als ein Einheimischer. Das wissen Sie alles genau so gut wie ich auch. Ich werde nun morgen in den Hotels, Gasthöfen und Pensionen von Frankfurt und Umgebung nach einem Ausländer, auf den die eben genannten Voraussetzungen zutreffen, fahnden, außerdem auf dem Postamt 9, wo die Schlange als Einschreibebrief aufgegeben wurde, auch auf alle Fälle recherchieren lassen, obgleich ich mir gerade hiervon keinen allzu großen Erfolg verspreche. –«

Ein Beamter war ins Zimmer getreten und bat Lutz in das Nebenzimmer ans Telephon. Als dieser wenige Sekunden später wieder bei Fischer erschien, sagte er: »Roderich telephoniert mir soeben. Ein Klient wartet in meiner Wohnung, und da es sich anscheinend um einen wichtigen Fall handelt, muß ich mich für jetzt bei Ihnen entschuldigen. – Im Falle Seyler sind wir ja auch einig, Fischer. Sie versprechen mir, vor morgen vormittag keine weiteren Schritte zu unternehmen, und ich habe das Gefühl, als ob ich den Fall heute zu einem guten Ende führen könnte. – –«

»Sie haben das Gefühl – –?« wiederholte Fischer und lachte. »Dann ist er schon so gut wie geklärt.«

»Noch ist es nicht so weit,« entgegnete Lutz, gleichfalls lachend, »aber hoffen wir das Beste –.«

Der Detektiv reichte dem Kommissar die Hand und verließ schnellen Schrittes das Präsidium. Dann überquerte er die breite, alleeähnliche Hohenzollernstraße, wo trotz der frühen Stunde der starke Wagen- und Fußgängerverkehr der Großstadt bereits eingesetzt hatte. Die Ruhe in der stillen St. Margaretenstraße, wo Lutz wohnte, stach angenehm dagegen ab.

Als er seine Wohnung betrat, faßte ihn Roderich an der Tür ab und sagte leise:

»Fräulein Brentano ist hier. Ich habe aus leichtverständlichen Gründen am Telephon ihren Namen nicht nennen wollen – –.«

»Macht nichts,« entgegnete Lutz, »wer die wichtige Klientin sein konnte, habe ich natürlich geahnt. Lassen Sie Fräulein Brentano eintreten –.«

Einige Sekunden später saß Hanna dem Detektiv in seinem Arbeitszimmer gegenüber.

Hanna sah sehr bleich aus. Die Augen zeigten dunkle Ringe und um die Mundwinkel lag eine scharfe Falte eingegraben, die das Mädchen um zehn Jahre älter erscheinen ließ.

Lutz schlug absichtlich einen etwas leichten Ton an und sagte mit möglichst heiterer Miene:

»Ich freue mich, gnädiges Fräulein, Sie so früh begrüßen zu können, und bitte um gütige Entschuldigung, wenn ich Sie etwas warten lassen mußte, aber ich war schon in aller Frühe in Ihrem Interesse auf dem Polizeipräsidium. Die Botschaft, Fräulein Brentano, die ich Ihnen bringe, nämlich daß Herr Doktor Denkandi wohl heute oder morgen freikommt, wird Ihnen sicher Freude machen – –«

Von allzugroßer Freude war aber in den Mienen Hannas nichts zu entdecken. Im Gegenteil. – Sie sah Lutz mit einem etwas ängstlichen Blick ihrer großen Augen an und sagte unruhig:

»So haben die Herren von der Polizei den richtigen Täter bereits entdeckt?«

»Noch nicht,« antwortete Lutz, dem das Benehmen Hannas natürlich nicht entgangen war, »aus Rücksicht für mich will Herr Kommissar Fischer die Angelegenheit bis morgen ruhen lassen und es mir überlassen, ihn zu ermitteln. Die Gründe, weshalb ich den Täter unbedingt vor der Verhaftung durch die Kriminalpolizei sprechen muß, sind Ihnen ja bekannt. Ich glaube übrigens annehmen zu dürfen, daß Ihr früher Besuch bei mir mit der Angelegenheit in irgendeinem Zusammenhang steht. Nicht wahr, ich täusche mich nicht –? – Bringen Sie gute Nachrichten – – Fräulein Brentano –?«

Hanna schwieg. Ihre Brust hob und senkte sich unter der dünnen Sommerbluse, ihr Atem ging hörbar schwer.

»Herr Doktor«, sagte sie leise, wie gepreßt. »Ich – ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll – – ich finde die rechten Worte nicht.« Sie sprach abgehackt, ohne den Blick vom Boden zu erheben. »Ich glaube den Täter zu kennen, obgleich ich nicht verstehen kann, wie er, gerade er – – dazu kommen sollte – – meinem Stiefvater die Giftschlange zuzusenden. – Es ist so schrecklich – – Großer Gott – – so unfaßbar schrecklich – – l«

Und nun brach Hanna in Tränen aus, und schlug die Hände schluchzend vor das Gesicht.

Lutz ließ den Schmerz seiner Klientin ruhig etwas austoben. Er wußte, daß im Augenblick doch keine vernünftige Antwort aus dem Mädchen herauszuholen war und trat still ans Fenster.

Hanna beruhigte sich auch etwas und weinte still und leise vor sich hin.

Nun trat Lutz auf sie zu.

»Gnädiges Fräulein«, sagte er sanft. »Wollen Sie Ihr Herz nicht erleichtern?« Und als Hanna nur wieder lauter zu schluchzen anfing, fuhr er beruhigend fort:

»Vergessen Sie einmal für wenige Minuten, daß ich nur wenig älter bin, als Sie selbst, und daß Sie mich erst einige Tage kennen. – Fassen Sie Vertrauen zu mir, wie zu einem alten, guten Freunde, und erzählen Sie nur offen und rückhaltlos, was Sie zur Sache wissen oder zu wissen glauben. – Ich will Ihnen gerne helfen, aber Sie müssen Vertrauen haben. –«

Und als Hanna, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, noch immer schwieg, schob sich Lutz einen Stuhl ganz dicht zu ihr heran, zog ihr sanft die Hände von den tränenfeuchten Augen:

»Kennen Sie den Namen des Mörders – –?«

Bei dem Wort Mörder zuckte das Mädchen unwillkürlich zusammen.

»Ich glaube ihn wenigstens zu kennen, Herr Doktor –« antwortete sie leise, fast unhörbar, »aber, – ein Mörder – –? Nein – –! Ich kenne seine Motive nicht, – – aber ein Verbrechen – – besonders ein so gemeines, scheußliches Verbrechen kann ich ihm nie und nimmer zutrauen – –«

»In welchen Beziehungen steht der Betreffende zu Ihnen?« fragte Lutz.

»Ich betrachtete ihn als – – meinen Bräutigam –« sagte Hanna.

»Sooo – –! Und wo ist der Herr? – Hier in Frankfurt –?«

»Ja – –!« stöhnte Hanna und begann wieder leise zu weinen. »Er liegt todkrank im Städtischen Krankenhaus. – –«

»Nicht wieder weinen, liebes Fräulein –« sagte Lutz eindringlich. »Ist der Herr ein Deutscher –?«

»Nein – ein Argentinier –«

»Und wie heißt er –?«

Hanna gab keine Antwort. Sie zog ein zerknittertes Stück Papier aus ihrer Handtasche, reichte es Lutz hin und stand dann auf, indem sie bemüht war, ihm ihr Gesicht zu verbergen.

Der Detektiv hatte schnell den Zettel ergriffen und las.

Die Botschaft lautete:

 

Cara Juanita! Es geht mit mir zu Ende. – Ein Blutsturz – Nach all der Aufregung zu begreiflich. – Eine zweite Attacke überstehe ich nicht mehr. – Ich muß Dich vor meinem Tode noch sprechen, – muß Dir beichten – Du ahnst wohl, worin meine Beichte bestehen wird. – Der Arzt, den ich halb ins Vertrauen gezogen habe, gestattet eine Unterredung mit Dir. – Ich erwarte Dich bestimmt heute nachmittag um 4 Uhr. – Es ist weniger mein Gesundheitszustand, der es mir so schwer fallen läßt, geliebte Juana, die richtigen Worte zu finden, als die Angst, von Dir verkannt zu werden, und der Gedanke, Dir mit meiner Beichte wehtun zu müssen. – Aber Du wirst es dem Toten nicht nachtragen, geliebte Juanita, wenn er Dir über einen anderen, Deinem Herzen nahestehenden Verstorbenen Enthüllungen machen muß, die Dir sicher große Enttäuschungen bereiten werden, die aber, so schmerzlich sie für Dich auch sein werden, zum Verständnis der vorangegangenen Ereignisse notwendig sind – –

Dein Juan.

 

Lutz hatte den Brief zu Ende gelesen und gab ihn Hanna schweigend zurück.

Diese hatte ihre Tränen getrocknet und schien nun ziemlich gefaßt:

»Der Brief, Herr Doktor –« sagte sie, »wurde mir heute in aller Frühe durch den Boten übermittelt. – Schreckliches werde ich zu hören bekommen – aber – ich muß hin – –«

»Selbstverständlich«, meinte Lutz.

»Und darf ich Sie bitten, mich zu begleiten?« fragte Hanna zögernd.

»Wenn Sie es wünschen, stehe ich gerne zur Verfügung. –«

»Ja, ich bitte Sie recht herzlich mitzukommen –«

Dann schwieg Hanna einen Augenblick. »Ich bin nun ganz ruhig«, fuhr sie fort. »Selbst die Enthüllungen, die ich heute nachmittag zu erwarten habe, fürchte ich nicht mehr. – Ich werde das Schlimmste – was es auch sei, gefaßt aufnehmen, denn ich muß Ihnen beweisen, daß ich kein kleines, dummes Mädchen mehr bin, wenn ich mich vorhin auch von meinem Schmerz überwältigen ließ. – Aber versetzen Sie sich in meine Lage, Herr Doktor. – Seit meiner Ankunft in Frankfurt stürmt es auf mich ein wie mit Kolbenschlägen. – Ich muß endlich zur Ruhe kommen. – Und nun, Herr Doktor, will ich Ihnen erzählen, was ich weiß, – und warum ich vermute, daß Juan – Herr de Souza Miranda –«, verbesserte sie sich, »den Schlüssel zu dem Mysterium besitzt. – Heute mittag werden wir aus seinem eigenen Munde des Rätsels Lösung erfahren. – –«

*

Als sich Lutz in Begleitung Hannas pünktlich um 4 Uhr im Städtischen Krankenhaus einfand – Hanna hatte darauf bestanden, ihren Bruder nicht in das Vertrauen zu ziehen –, wurden sie von dem aufsichtführenden Arzt ernst empfangen.

»Herr de Souza Miranda«, sagte er, »bestand auf Ihrem Besuch und ich konnte und durfte, da anscheinend triftige Gründe familiärer Art vorlagen, meine Einwilligung nicht versagen. Ich richte nur die Bitte an Sie, den Patienten nicht allzusehr zu erregen. – –.«

»Ich bin selbst Medizinerin –«, sagte Hanna. »Ist sein Befinden wirklich so ernst –?«

»Es liegt die begründete Befürchtung vor, daß er die Nacht nicht mehr überlebt«, sagte der Arzt. »Er kennt seinen Zustand selbst genau, ist ruhig und gefaßt und erwartet Sie nur mit großer Sehnsucht.«

»Dann wollen wir den armen Juan nicht länger warten lassen«, sagte Hanna.

Als sie in Begleitung des Arztes das helle, freundliche Zimmer betraten, in dem Juan de Souza Miranda lag, erhob sich eine Krankenschwester von ihrem Sitz am Bett und verließ auf einen Wink des Arztes geräuschlos, fast wie ein Schatten, das Zimmer.

»Ich lasse Sie mit dem Kranken nun allein«, sagte der letztere. »Falls Sie mich benötigen sollten, wollen Sie bitte klingeln.«

Hanna nickte und trat auf das Krankenlager zu.

Lutz war diskret zurückgetreten. Ein kurzer Blick in das wachsbleiche Gesicht des jungen Mannes, der dort im Bette lag, gab ihm Die Bestätigung, daß die Befürchtung des Arztes gerechtfertigt war.

Das Mädchen hatte sich neben dem Bett des Kranken niedergelassen und dessen rechte Hand sanft ergriffen, dann wechselte es einige Worte mit ihm.

»Herr Doktor,« rief Hanna mit unterdrückter Stimme, »Herr de Souza Miranda will Sie sprechen –« und Lutz trat dicht an das Bett heran und ergriff, ohne ein Wort zu reden, die freie Hand des Argentiniers, die ihm dieser aber sofort entzog.

»Nicht –« sagte er. »Es ist die Hand eines Verbrechers –«

Doch Lutz schüttelte den Kopf.

»Ich fühle mich nicht befugt, über Sie zu richten«, sagte er und ergriff die Hand des Kranken von neuem.

»Ich – bin – aber – der Mörder – Doktor Seylers – –!« sagte der andere.

»Ich kenne die Motive nicht, die Sie geleitet haben – für mich sind Sie ein Schwerkranker, der meines Mitleids und der Teilnahme bedarf. –«

Der Argentinier schwieg einen Augenblick.

»Holen Sie sich den Stuhl da drüben,« bat er mit leiser Stimme, »und setzen Sie sich zu mir, ganz nahe. – – Sie sollen meine Beichte mit anhören. – Wenn mich auch die Welt für einen Verbrecher halten wird, – Gott im Himmel wird meine Motive verstehen und meine Schuld vergeben. – Gib mir bitte die Tropfen dort, Juana, sechs Tropfen auf ein Glas Wasser. – Grazias, Juanita. Es wird eine lange Geschichte werden, die ich dir zu erzählen habe, ich muß dir vielleicht auch recht wehetun, Juana, – aber – es ist Wahrheit, was ich dir berichte, – die volle reine Wahrheit. – So wahr mir Gott helfe –«

Und mit leiser Stimme, unter größter Spannung seiner beiden Zuhörer, begann Juan de Souza Miranda zu erzählen. – –


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