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Fünftes Kapitel.

Der Arzt war gegangen.

Denkandi hatte Hanna leicht am Arm gefaßt und willenlos ins Nebenzimmer geführt, wo er sie sanft auf das Sofa drückte.

»Meine Befürchtung, gnädiges Fräulein, ist leider eingetroffen – –«, sagte er schmerzlich. »Ihr Herr Papa hat selbst nicht gewußt oder wenigstens nicht wissen wollen, wie krank er eigentlich war.«

Hanna nickte nur stumm und trockenen Auges; sie konnte keine erlösende Träne finden, zu viel war heute schon auf sie eingestürmt. –

Ihr nächster Gedanke war – Juan –. Sie erinnerte sich dunkel, mit ihm angekommen zu sein, sie hatte ihn kurze Zeit auf dem Vorplatz sitzen sehen. – Aber seitdem war er spurlos verschwunden.

Mit halbem Ohr hörte sie auf das, was ihr Denkandi in seiner beruhigenden Art vortrug.

Ihre Gedanken waren bei dem Argentinier. – Was mochte sein mysteriöses Gebaren von vorhin nur zu bedeuten haben – –? Der Kopf schmerzte sie und in ihren Schläfen hämmerte es wild. –

Denkandi hatte eine Frage an sie gerichtet.

»Wie meinen Sie – –?« fragte sie apathisch.

»Es sind verschiedene Formalitäten zu erfüllen, gnädiges Fräulein«, sagte er. »Ein Todesfall bringt immer eine Menge unangenehmer Förmlichkeiten mit sich. Wollen Sie mir gestatten, liebes Fräulein Hanna, daß ich Ihnen diese Arbeit abnehme –?«

Hanna hatte die Hände auf die Schläfen gepreßt. Sie nickte nur. Daß der Türke sie vertraulich beim Vornamen genannt hatte, fiel ihr gar nicht auf.

»Ich werde mit Hilfe von Frau Martens Ihren Vater in seinem Schlafzimmer aufbahren lassen und dann die weiteren, notwendigen Schritte vornehmen. – –«

Doktor Bertolinescu war langsam in das Zimmer getreten und hatte die letzten Worte des Türken mit angehört.

»Entschuldigen Sie,« sagte er, »ich bitte, nichts zu übereilen. – Über die Todesursache meines armen Freundes Seyler sind wir uns durchaus noch nicht im klaren. Meines Erachtens kommt ein Schlaganfall nicht ohne weiteres in Frage. –«

Erstaunt sah Denkandi zu dem Rumänen auf. »Der sofort herbeigerufene Arzt hat doch eine Apoplexie cerebri diagnosziert,« antwortete er gleichfalls in Rumänisch, »und, soweit ich die Sache beurteile, sind auch die Symptome eines Schlagflusses gegeben. –«

»Das glaube ich nicht so ohne weiteres behaupten zu können –,« meinte der Rumäne, »und bevor die Kriminalpolizei nicht den Tatbestand aufgenommen und die Staatsanwaltschaft die Leiche zur Beerdigung freigegeben hat, darf jedenfalls im Sterbezimmer nichts berührt oder gar verändert werden. – –«

Denkandi machte eine unwillige Handbewegung. Dennoch antwortete er in seiner orientalischen Ruhe:

»Was hat die Polizei in diesem Hause zu suchen –? Sie werden doch nicht behaupten können, daß an Doktor Seyler ein Verbrechen verübt worden ist. –«

Doktor Bertolinescu zuckte die Achseln. »Verbrechen oder Unglücksfall,« sagte er, »wer weiß es. Jedenfalls ist die Entscheidung des Staatsanwalts abzuwarten, ob die Leiche zur Beerdigung freigegeben oder von Amts wegen seziert wird. –«

Denkandi schüttelte den Kopf. – »Aus Ihnen spricht der Gerichtsarzt«, meinte er etwas ärgerlich. »Es ist sinnlos, hier eine verbrecherische Handlung zu vermuten. – Ich kenne Herrn Doktor Seyler besser als Sie, ich, der ich seit Jahren sein treuer Mitarbeiter bin und täglich mit ihm zusammen war. Die Aufregung der letzten Tage, verbunden mit dem hohen Alter, haben das Unglück herbeigeführt.«

Bertolinescu schüttelte den Kopf. »Ihre Ausführungen überzeugen mich in keiner Weise. Solange nicht amtlich erwiesen ist, daß es sich hier in der Tat um einen Schlaganfall handelt, was ich, persönlich stark bezweifle, solange dulde ich im Namen der Gerechtigkeit nicht, daß jemand das Zimmer betritt und den Toten ohne Ermächtigung der Justizbehörden aufnimmt. –«

»Ich begreife Sie nicht«, meinte Denkandi immer noch ruhig, mit einem Seitenblick auf Hanna, die sich auf das Sofa geworfen und ihr Gesicht in ein Kissen vergraben hatte. »Warum wollen Sie diesem armen Kinde die meiner Ansicht nach völlig unnötige Aufregung verursachen –?«

»Wenn es meiner Ansicht nach so unnötig wäre,« sagte Bertolinescu, die Worte »meiner Ansicht« stark betonend, »die Behörden intervenieren zu lassen, so glauben Sie mir, verehrter Herr, daß ich der letzte wäre, welcher der sofortigen Aufbahrung meines guten, alten Freundes irgendwelche Schwierigkeiten in den Weg legen würde, aber je länger ich nachdenke, desto mehr verdichtet sich bei mir der Verdacht, daß an Seyler ein Verbrechen begangen worden ist. –«

»Unsinn – –!« sagte Denkandi nur.

Bertolinescu fuhr auf. »Ich bitte Sie, Ihre Zunge etwas mehr im Zaum zu halten«, sagte er scharf. – »Ihr ganzes Benehmen zwingt mich, so zu handeln, wie ich nun handeln werde. – –«

Mit diesen Worten trat er zur Tür des Arbeitszimmers, schloß sie ab und steckte den Schlüssel in seine Tasche.

»Was erlauben Sie sich!« fuhr nun Denkandi auf und trat drohend auf den Rumänen zu.

»Das werden Sie in einer Viertelstunde sehen«, antwortete dieser kalt. – Dann trat er auf den Vorplatz hinaus und kam mit dem Hut auf dem Kopfe gleich wieder zurück.

»Ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam,« sagte er drohend, »daß niemand das Zimmer zu betreten hat, bevor die Kriminalpolizei hier gewesen ist. – Besonders Sie haben dort nichts zu suchen. – Ich hoffe, daß Sie mich verstanden haben.«

Denkandi zuckte die Achseln. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte er ruhig und kehrte dem Rumänen den Rücken.

Bertolinescu sah den Türken scharf an und schien etwas erwidern zu wollen. Doch er besann sich anders. Er warf einen kurzen Blick auf Hanna, die apathisch auf dem Sofa lag, ohne sich um die erregte Debatte der beiden Herren im geringsten zu kümmern und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. –

*

Nach dem Fortgehen Bertolinescus hatte sich Denkandi in einen Plüschsessel geworfen.

Seine Stirne in ernste Falten gelegt, verbrachte er, den Kopf in die rechte Hand gestützt, längere Zeit, schweigend in tiefe Gedanken versunken. Dann trat er langsam zu Hanna, die unbeweglich, das Gesicht in die Arme vergraben, auf dem Sofa lag.

»Armes Kind«, murmelte er leise und strich dem Mädchen sanft über den blonden Scheitel. »Gnädiges Fräulein –« sagte er dann etwas lauter. »Sie können unmöglich so liegenbleiben –« Und als Hanna keine Antwort gab, fuhr er eindringlich fort: »Sie müssen auch an sich selbst denken, Fräulein Hanna – – Gestatten Sie, daß ich Frau Martens beauftrage, Sie zu Bett zu bringen. Das wird Ihre Nerven beruhigen. Ich werde Ihnen außerdem einige Baldriantropfen zurechtmachen, und dann müssen Sie auch etwas essen –«

Als Hanna immer noch schweigend in ihrer unbequemen Lage verharrte, klingelte der Türke der Haushälterin und hob mit ihrer Hilfe das junge Mädchen, das nicht den geringsten Widerstand leistete, auf. Frau Martens machte Hanna dann ein Lager auf dem Bett zurecht, das Dr. Bertolinescu bisher innegehabt hatte, und, nachdem Denkandi schweigend in das Wohnzimmer zurückgekehrt war, ging Frau Martens nach dem nahen Postamt, um den Leutnant Hartwig Brentano in Wilhelmshaven von dem Ableben seines Stiefvaters in Kenntnis zu setzen.

Wenige Minuten nach ihrer Rückkehr schlug die Vorplatzklingel an.

Dr. Bertolinescu stand draußen, in Begleitung zweier Herren, die unter Führung des Rumänen an der Haushälterin vorbei in den Salon gingen.

Frau Martens trat inzwischen in das Wohnzimmer ein, wo der Türke gedankenvoll am Fenster stand und sinnend in die ruhige Straße hinabsah.

»Verzeihung, Herr Doktor«, sagte Frau Martens. »Herr Doktor Bertolinescu ist gekommen und zwei fremde Herren. Sie warten im Salon und wollen Fräulein Hanna sprechen.«

Denkandi drehte sich um. »Fräulein Brentano darf unter keinen Umständen gestört werden. – Ich will mit den Herren reden. –«

Bei diesen Worten schritt er schnell an der Haushälterin vorbei und betrat den Salon.

Zwei Herren, die, ihre Strohhüte auf den Knien, dort stumm gesessen hatten, erhoben sich bei seinem Eintritt, während der Rumäne mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa sitzenblieb.

Der jüngere der beiden fremden Herrn, ein großer, blonder Mann mit einem goldenen Kneifer, trat auf den Türken zu und sagte, sich vorstellend: »Mein Name ist Rademacher, ich bin Kriminalkommissar und zu einer Tatbestandsaufnahme hierher befohlen. –«

Bei diesen Worten schlug er seinen Rock auf der linken Seite zurück und ließ ein kleines Metallschild sehen, das auf seiner Weste befestigt war.

»Dr. Denkandi –« stellte sich der Türke kurz vor. »Die Herren wünschen Fräulein Brentano zu sprechen – –?« fragte er. »Leider ist das gnädige Fräulein nicht in der Lage, Sie zu empfangen. – Der plötzliche Todesfall, und die damit verbundene Aufregung, haben der jungen Dame so zugesetzt, daß sie auf meine Anordnung – ich bin Arzt –, zu Bett gebracht wurde – –.«

Kommissar Rademacher verbeugte sich steif. »Ich glaube auf ein Verhör von Fräulein Brentano verzichten zu können – vorerst wenigstens –; hingegen möchte ich Sie bitten, Herr Doktor, sich zur Verfügung zu halten, ich habe voraussichtlich einige Fragen an Sie zu richten. –«

Der Türke verbeugte sich schweigend. Der Kommissar schritt zur Tür des Arbeitszimmers, die er mit dem Schlüssel, den ihm Bertolinescu wohl vorher ausgehändigt hatte, öffnete. Dann betrat er mit seinem Begleiter langsam und schweigend das Zimmer, in dem Seyler verschieden war, und noch in unveränderter Stellung am Boden lag.

»Wollen die Herren bitte an der Tür zurückbleiben –« sagte der Kommissar; dann begann er langsam und systematisch – Punkt für Punkt – das Zimmer abzusuchen. – Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Arbeitstisch Seylers, wo das tote Kaninchen immer noch auf seiner Glasplatte lag. – Die Injektionsspritze, die Denkandi benutzt hatte, nahm er vorsichtig zur Hand und hielt sie gegen das Licht. – In dem Glaskolben befanden sich noch einige Tropfen einer farblosen Flüssigkeit. Dann legte er die Spritze weg und beugte sich zu dem Toten nieder. –

Der andere Herr kümmerte sich nicht weiter um die Untersuchungen seines Kollegen. Er betrachtete aufmerksam, und wie es schien, mit großem Interesse das Spiel zweier Meerschweinchen und einiger weißer Mäuse, die lustig in einem großen Glaskasten herumjagten.

Ab und zu warf er auch einen kurzen Blick auf Denkandi und den Rumänen, die schweigend, ohne daß der eine von dem anderen Notiz nahm, an der Tür zurückgeblieben waren.

Der Kommissar schien die Untersuchung der Leiche beendet zu haben und trat zu dem Schreibtisch, den er aufmerksam betrachtete. Darauf kniete er auf dem Teppich nieder, der den Boden vor dem Sessel Seylers bedeckte, und hob einen kleinen Pappkarton vom Boden auf, sowie ein ungefähr zehn Zentimeter großes, rechteckiges Stück Papier, das er unter dem Schreibtisch gefunden hatte.

»Kommen Sie doch mal her – Wachtmeister Muschall –!« sagte er zu seinem Begleiter.

Dieser trat schnell an den Vorgesetzten heran, und betrachtete aufmerksam das kleine Stück Papier, das ihm der Kommissar zur Einsichtnahme gegeben hatte. – Dann flüsterte er Rademacher einige leise Worte zu, die dieser durch ein kurzes Kopfnicken beantwortete.

»Herr Doktor –« sagte der Kommissar nach einer kurzen Pause der Überlegung zu dem Türken, »wollen Sie die Freundlichkeit haben, drüben im Salon zu warten. – Ich habe später einige Fragen an Sie zu richten. – Sie, Herr Doktor Bertolinescu, wollen bitte einen Augenblick nähertreten. –«

Hinter dem Rumänen schloß Muschall schnell die Tür.

»Herr Doktor –« sagte der Kommissar ernst, mit leiser Stimme, »ich danke Ihnen für Ihre Umsicht und beglückwünsche Sie zu dem guten Gedanken, das Zimmer sofort abgeschlossen und den Schlüssel in Verwahrung genommen zu haben. Dank Ihrer weisen Vorsicht ist mir die schnelle Aufdeckung eines gemeinen Verbrechens ermöglicht worden. Herr Doktor Seyler ist keines natürlichen Todes gestorben. – Er ist einem wohlüberlegten Verbrechen zum Opfer gefallen, – und hier steht der Name des Mörders – –«

Bei diesen Worten überreichte der Kommissar dem Rumänen den Zettel.

Bertolinescu warf nur einen kurzen Blick auf den Inhalt des Papiers. »– – Donnerwetter –!« rief er im Tone höchsten Erstaunens aus.

»Kennen Sie diese Schrift – –?« fragte der Kommissar.

»Wenn ich nicht irre, ist es die Handschrift Seylers,« antwortete der Rumäne, etwas ruhiger und schaute Rademacher triumphierend an; »welch ein Glück!« rief er aus, »daß ich die Lage gleich richtig erfaßt habe. – –«

Der Kommissar nickte ernst, und die drei Herren beugten sich von neuem über das kleine Stück Papier.

Der Zettel enthielt einige wenige, handschriftliche Worte.

Es war eine flüchtige Gelehrtenschrift, die nicht leicht zu entziffern war, doch konnte man den nachstehenden, in lateinischen Buchstaben, mit Tinte hingeworfenen Satz nicht allzuschwer entziffern.

»Mörder Denkandi Ben der Orientale.«

»Wer hatte nun recht – –?« rief Bertolinescu aus. »Seltsam – – aber ich habe diesem spaniolischen Juden von Anfang an mißtraut – –.«

»Ich dachte, Doktor Denkandi sei Türke, – Mohammedaner –.«

»Der und Mohammedaner – –« rief der Rumäne verächtlich lachend. »Türke – –? Na, ja, – türkischer Untertan – mag sein. – Er stammt, wenn ich nicht irre aus Mazedonien und hat in Österreich und Deutschland studiert, daher das gute Deutsch, das er spricht – –«

»Was versteht man eigentlich unter Spaniolen – –?« fragte der Kommissar.

»Spaniolen« entgegnets der Rumäne, »sind Nachkommen derjenigen Juden, die im Mittelmeer aus Spanien und Portugal ausgewandert sind und sich im Orient, in der Türkei, Griechenland und Bulgarien angesiedelt haben. Es gibt auch welche in Rumänien, Serbien und Holland. Hingegen sind diejenigen Juden, die in Deutschland, Österreich, Rußland wohnen, anderer Provenienz. – Ich mache gar kein Hehl daraus, daß meine Sympathien für die Abkömmlinge Judas im allgemeinen keine großen sind, aber die Spaniolen liegen mir ganz besonders im Magen. –«

»Es ist mir interessant, daß Sie hier einen Unterschied machen«, meinte der Kommissar. »Ich dachte immer, Israelit sei Israelit.«

»Ein großer Unterschied besteht auch nicht, höchstens im Namen und in der Sprache. –«

»Was sprechen die Spaniolen?«

»Wenn sie unter sich sind, – Spanisch, allerdings ein sehr verdorbenes Spanisch mit vielen hebräischen Worten untermischt. – Natürlich verstehen und sprechen die Spaniolen auch die jeweilige Landessprache. – Während die Juden der ganzen Welt meistens deutsch klingende Familiennamen führen, unterscheiden sich die Spaniolen sofort durch den romanischen Klang ihrer Namen, wie Alcalay, Altaras, Esrenasy, Figueiro, Benvenisti und so weiter. Unser Mann heißt ja auch Denkandi – Benvenisti –«

»Aha – –!« sagte der Kommissar, und nahm den Zettel wieder zur Hand. »Daher auch die Abkürzung Denkandi Ben., die ich erst nicht recht verstanden habe. – Diese schriftliche Aufzeichnung läßt nun allerdings kaum Zweifel an der Schuld des Türken aufkommen.«

»Ich war mir darüber von Anbeginn an klar –« meinte Bertolinescu.

Der Kommissar trat von neuem zu dem Toten. »Wenn ich nur wüßte, auf welche Art und Weise Doktor Seyler umgebracht wurde«, sagte er nachdenklich. – »Die Züge sind verzerrt und drücken Angst und Entsetzen aus. – Aber eine tödliche Einwirkung von außen habe ich nicht feststellen können. –«

»Gift – –« meinte der Rumäne lakonisch.

»Hm –!« meinte der Kommissar. »Das wäre möglich. – Auf welche Weise glauben Sie, Herr Doktor, daß Denkandi seinem Opfer das tödliche Gift beigebracht haben kann – –?«

Bertolinescu zuckte die Achseln: »Das muß die gerichtsärztliche Sektion der Leiche ergeben –« meinte er. »Ich habe kein Recht, meinen toten Freund zu berühren, und möchte Ihnen auch empfehlen, die Leiche ruhig liegen zu lassen, bis die Staatsanwaltschaft hiergewesen ist und weitere Verfügungen getroffen hat. –«

»Natürlich –! Selbstverständlich –« stimmte Rademacher bei. »Immerhin, Herr Doktor, eine kleine Andeutung könnten Sie mir vielleicht doch geben. –«

Bertolinescu trat langsam zu dem Toten und betrachtete ihn aufmerksam, ohne den Körper zu berühren.

»Meiner unverbindlichen Ansicht nach«, sagte er schließlich, und trat von der Leiche zurück, »ist der Tod durch ein sehr starkes, schnellwirkendes Gift eingetreten. Wie dieses Gift aber in den Körper gelangt ist, ob es durch den Magen, in das Blut direkt, oder auf eine noch andere Art und Weise, muß die Sektion der Leiche mit Sicherheit ergeben. – –«

»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte der Kommissar höflich. »Ich möchte nun noch gern einige kurze Fragen an Sie richten. –«

»Bitte, ich bin zur Verfügung. –«

»Muschall –!« fuhr Rademacher fort. »Nehmen Sie hier am Schreibtisch Platz und machen Sie sich die nötigen Notizen. – Also –« meinte er, sich wieder an den Rumänen wendend, »Sie heißen Bertolinescu – Ihr Vorname, bitte?«

»Mihail, Iancu –«

»Rufname ist Mihail –?«

»Jawohl.«

»Konfession –?«

»Griechisch-katholisch –«

»Nationalität –?«

»Rumäne –«

»Beruf –?«

»Arzt. Vereidigter Gerichtsarzt bei der Staatsanwaltschaft in Bukarest.«

»Sind Sie verheiratet, Herr Doktor?«

»Jawohl, und ich habe zwei Kinder.«

»Sie wohnen in Bukarest –?«

»Jawohl, Strada Smardan, Nummer 64.«

»Wie alt sind Sie?«

»Vierundvierzig Jahre –«

»Danke schön, das genügt. Wie lange sind Sie in Frankfurt –?«

»Seit Donnerstag der vorigen Woche –«

»Zu welchem Zwecke, wenn ich fragen darf –?«

»Ich war hier zur Teilnahme am Internationalen Medizinischen Anthropologischen Kongreß, der am Sonnabend hier stattfand.«

»Schön, Herr Doktor. Und wie lange gedenken Sie noch hierzubleiben –?«

»Ich beabsichtigte eigentlich heute abzureisen, nun gebe ich natürlich noch einige Tage zu.«

»Wo wohnen Sie hier in Frankfurt –?«

»Augenblicklich noch bei meinem Freunde Seyler. Nun werde ich aber ins Hotel übersiedeln; schon aus dem Grunde, um der Tochter meines armen Freundes, deren Zimmer ich bewohnte, Platz zu machen.«

»Können Sie eigene Wahrnehmungen zu dem Verbrechen bekunden – Herr Doktor –?«

»Nein –«

»Auf welche Weise bekamen Sie Kenntnis davon?«

»Als ich heute morgen um ein halb neun Uhr hier wegging, war Seyler noch kerngesund und munter. – Ich begab mich zur Bahn, vergewisserte mich, daß der Münchener Schnellzug, mit dem ich um zwei Uhr dreiundzwanzig die Heimreise antreten wollte, auch fuhr, und kehrte dann sofort hierher, nach der Liebigstraße zurück, um mein Gepäck fertigzumachen. – Beim Eintritt in die Wohnung hatte ich seltsamerweise sofort das Gefühl, als ob ein Unglück geschehen sein müsse.«

»Wieso, erklären Sie sich bitte etwas deutlicher?«

»Vor allen Dingen bemerkte ich einen fremden Hut auf dem Vorplatz liegen, daneben das Besteck eines Arztes. – Ferner vernahm ich im Arbeitszimmer Seylers mehrere erregte Stimmen. – Ich trat etwas beklommen und beunruhigt ein und fand meinen Freund tot am Boden liegen.«

»Wer war außer dem Toten im Zimmer –?«

»Frau Martens, die Wirtschafterin, Doktor Denkandi und ein fremder Arzt namens Meister –«

»Seyler war also schon tot, wie sie ankamen –?«

»Er mußte kurz vorher verschieden sein, er war noch warm, die Leichenstarre ist seltsamerweise auch jetzt noch nicht eingetreten – –«

»Unter welchen äußeren Symptomen der Tod eingetreten ist, wissen Sie demnach nicht –?«

»Nein, darüber kann Ihnen Frau Martens wohl am ehesten Auskunft geben –«

»Warum hat man eigentlich einen fremden Arzt hinzugezogen. Denkandi ist doch selbst Mediziner?«

»Denkandi soll, als der Tod eintrat, nicht zugegen gewesen sein, er kam erst wenige Minuten vor mir an –«

»Demnach war Herr Doktor Meister noch vor Denkandi hier –?«

»Jawohl, wenigstens soweit mir bekannt ist –«

»Hm –!« machte der Kommissar, »das ist ja sehr interessant. – Wissen Sie, ob die Tochter Seylers bei seinem Verscheiden zugegen war –?«

»Nein –! Fräulein Brentano hat die Nacht im Hotel gewohnt und kam als die letzte hier an. – – Der erste war Doktor Meister, dann kam Denkandi, dann ich, und zuletzt erst Fräulein Brentano –«

»So, so – –« machte der Kommissar nachdenklich und spielte mit dem Futteral seines Kneifers. »Nun noch eine Frage, Herr Doktor«, fuhr er fort. »Welche Meinung haben Sie über das Motiv des Verbrechens – –?«

»Darüber habe ich auch so meine Gedanken«, sagte der Rumäne.

»Natürlich sind es nur Vermutungen, aber ich glaube nicht weit über das Ziel hinauszuschießen. – Herr Kommissar, Seyler hat, wie Sie wissen, an einem Serum gearbeitet, das ihn zum berühmten Manne machen mußte. – Dieses Serum wurde gestern abend fertiggestellt. – Sein Assistent, der in alles eingeweiht war, heißt Doktor Ibrahim Denkandi. Es wäre menschlich begreiflich, wenn der Assistent aus Ehrgeiz die Frucht der gemeinschaftlichen Arbeit allein pflücken wollte. Da er, ad eins Spaniole ist, und ad zwei, von dem Ermordeten wahrscheinlich kurz vor dem Verscheiden schriftlich als Mörder angegeben wurde, bestehen für mich nicht die geringsten Zweifel; weder über das Motiv zur Tat, noch über den Täter selbst. –«

Rademacher stand auf und reichte dem Rumänen die Rechte.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor –« sagte er. »Für mich liegt der Fall auch ganz klar. – Wir können uns gratulieren, daß ein Fachmann, und dazu ein so tatkräftiger Charakter, wie Sie, die Sache gleich richtig in die Hand genommen hat. Ihr folgerichtiges Vorgehen hat die Untersuchung sehr erleichtert, da die corpora delicti nicht entfernt werden konnten. – Weitere Fragen habe ich – für den Augenblick wenigstens – nicht mehr an Sie zu richten. – Wir wollen jetzt die Haushälterin verhören. – Muschall, rufen Sie, bitte, Frau Martens herein. – –«

»Darf ich bei dem Verhör anwesend sein –?« fragte der Rumäne.

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, antwortete der Kommissar verbindlich.

Von dem Kriminalwachtmeister geleitet, trat Frau Martens langsam in das Zimmer. Sie brachte ein weißes Bettuch mit, das Muschall über den Körper des Toten deckte.

»Wollen Sie bitte hier Platz nehmen –« ergriff der Kommissar das Wort und wies auf einen Stuhl vor ihm. Frau Martens setzte sich. »Darf ich nun um Ihren Vornamen bitten –?«

»Maria, Helene –«

»Der Rufname ist wohl Maria –?«

»Jawohl –«

»Wie alt sind Sie –?«

»Neunundvierzig Jahre –«

»Haben Sie das notiert, Muschall –?« fragte Rademacher.

»Jawohl, Herr Kommissar –«

»Frau Martens –« wandte sich nun Rademacher ernst an die Haushälterin. »Meine amtliche Eigenschaft ist Ihnen wohl bekannt. – Sie wissen, daß Sie hier die reine Wahrheit sagen müssen, nichts hinzufügen und nichts verschweigen dürfen. Richten Sie also Ihre Aussage bitte gleich so ein, daß Sie solche später mit gutem Gewissen beeiden können. – Sie sind Katholikin – und würden Ihr Gewissen aufs schwerste belasten, wenn Sie unter Eid die Unwahrheit aussagten. – Außerdem belegt aber auch das weltliche Gericht den wissentlichen Meineid mit schweren Freiheitsstrafen, es steht Zuchthaus darauf. Daß aber auch der fahrlässige Meineid mit Gefängnis bestraft wird, ist Ihnen vielleicht nicht bekannt – –«

»Doch, Herr Kommissar, das weiß ich alles. – Ich bin die Witwe eines Oberlehrers –«

Der Ton Rademachers wurde nun um eine Nuance höflicher und freundlicher. »Nun ja,« sagte er, »dann sind Sie über diese juristischen Fragen natürlich unterrichtet, nichtsdestoweniger ist es meine Pflicht, Sie nochmals darauf aufmerksam zu machen. – Das wäre nun erledigt. – Frau Martens, es kommt mir jetzt darauf an, ein möglichst genaues Bild über die Vorgänge hier zu gewinnen, die zur Klärung der Angelegenheit beitragen könnten. Vielleicht erzählen Sie mir mal, was Sie zur Sache wissen –«

»Es ist nicht viel, Herr Kommissar. – Ich bin auch noch so erregt – –«

»Das begreife ich ohne weiteres. Fassen Sie sich und erzählen Sie uns ruhig und ausführlich, was Sie wissen. Auch die geringsten Details sind von Interesse.«

»Soll ich mit den Ereignissen von heute morgen beginnen?« fragte die Haushälterin.

»Ja, bitte«, erwiderte der Kommissar.

»Nach dem Kaffee, heute vormittag,« sagte Frau Martens, »ging Herr Doktor Seyler sofort in sein Arbeitszimmer –«

»Am welche Zeit war das –?«

»Kurz nach acht Uhr. Er wollte wohl an seinem Serum arbeiten, dessen chemische Formeln, auf dem Papier, er am Abend vorher schriftlich niedergelegt hatte. – Als ich um neun Uhr anklopfte, und fragte, ob ich zum Reinigen kommen könnte, wies er mich kurz ab. Er wolle jetzt nicht gestört sein.«

»Welchen Eindruck machte Herr Doktor Seyler auf Sie –«

»Keinen anderen als sonst auch, kurz angebunden und schroff: Höflichkeit war nie seine starke Seite –«

»Was tat er, als Sie eintraten?«

»Er saß am Schreibtisch und schrieb –«

»Machte er einen besonders aufgeregten oder gar kranken Eindruck –«

»Im Gegenteil. Schon beim Kaffeetrinken war er in so vorzüglicher Laune, wie ich ihn seit Monaten nicht gesehen hatte. Ich freute mich darüber, denn die letzten Tage stand das Barometer bei ihm auf Sturm. – Seine Arbeiten wollten nicht vorwärtskommen. Verschiedene Versuche mißlangen, er war deshalb hypernervös, und konnte wegen jeder Kleinigkeit furchtbar grob und ausfallend werden. –«

»Auch zu Herrn Doktor Denkandi –?«

»Zu dem ganz besonders. – Herr Doktor Denkandi ist im Gegensatz zu Herrn Doktor Seyler die Ruhe selbst, und da er niemals widerspricht und sich alles ruhig gefallen läßt, ist er der geeignete Blitzableiter für Herrn Doktor Seyler, der gewöhnt war, von jeher seine schlechte Laune an seinem Assistenten auszulassen – –«

»Hat es in den letzten Tagen wieder eine derartige Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Herren gegeben –?«

»Meinungsverschiedenheit – –?« wiederholte Frau Martens, »kann man es eigentlich nicht nennen, der Spektakel ging stets einseitig von Doktor Seyler aus. Aber Krach hat es immer gegeben, besonders die letzten Tage unmittelbar vor dem Kongreß waren schlimm. – Herr Doktor Seyler wollte unbedingt, koste es, was es wolle, sein Serum bis zu diesem Termin fertig haben, und als ihm das nicht zu gelingen schien, war es gar nicht mit ihm auszuhalten. Ich ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg, da ihn schon die Fliege an der Wand störte, so wurde natürlich der ganze Unmut Seylers an dem armen Denkandi ausgelassen – –«

»So, so«, meinte der Kommissar. »Na, fahren Sie nur bitte fort, Frau Martens – –«

»Am Freitag abend gab es spät noch einen furchtbaren Spektakel; weil Herr Doktor Denkandi unvorsichtigerweise ein Präparat fallen ließ, das dadurch in Trümmer ging, auch ein Instrument, wenn ich nicht irre ein Mikroskop, das mit zu Boden gefallen war, hatte Schaden gelitten. – Herr Doktor Seyler war wütend. Ich hörte ihn bis in meine Küche, deren Tür fest geschlossen war, schimpfen und schreien. – Am Samstag vormittag besuchte er dann den Kongreß. Das Mißlingen seiner Absicht, nämlich das Serum zu diesem Tag fertigzustellen, schien ihm sehr zugesetzt haben, denn er kam in einer schauderhaften Gemütsverfassung aus dem Kongreß zurück, rührte beim Mittagessen keinen Bissen an, und schloß sich dann in sein Zimmer ein. Niemand, auch Doktor Denkandi nicht, wurde vorgelassen. – Ich ängstigte mich um ihn, schlich leise zur Tür seines Arbeitszimmers und schaute durchs Schlüsselloch –«

»Nun – –?« fragte der Kommissar gespannt.

»Zu Befürchtungen lag kein Grund vor. Herr Doktor Seyler stand an seinem Tisch am Fenster und arbeitete«, antwortete Frau Martens. »Am Abend schien er auch etwas ruhiger. – Er aß eine Kleinigkeit und arbeitete dann wieder, bis in die späte Nacht hinein. Ich mußte ihm einen starken Kaffee brauen und ins Zimmer hinübertragen. – Am Sonntag früh empfing er den Besuch eines jungen Mannes – –«

»Kannten Sie den Herrn –?« fragte der Kommissar.

»Nein. Ich hielt ihn für einen der Teilnehmer am Kongreß. Er war früher noch nie dagewesen. Die beiden Herren saßen eine Viertelstunde zusammen im Arbeitszimmer und unterhielten sich gedämpft in einer fremden Sprache.«

»War es Französisch oder Englisch –?« fragte Rademacher.

»Nein, weder das eine noch das andere. Es muß Italienisch oder Spanisch gewesen sein. Vielleicht auch Rumänisch. Die Sprache klang stellenweise hart und scharf wie Russisch, hatte aber viele Vokale, wenigstens soweit ich es feststellen konnte. Ich habe erstens nicht viel verstehen können, weil sie so leise sprachen, und zweitens auch nicht den Horcher spielen wollen. Dazu hatte ich keine Zeit und dann liegt mir dies auch nicht. – Nach dem Weggang des Herrn schellte mir Herr Doktor Seyler und beauftragte mich, sofort nach Herrn Doktor Denkandi zu telephonieren.«

»Wo wohnt Herr Doktor Denkandi?«

»Gar nicht weit von hier, in der Feldbergstraße 245.«

»Welchen Eindruck machte Herr Doktor Seyler auf sie nach Verlassen des Besuchs. Schien er sehr erregt – –?«

»Darüber kann ich etwas Positives nicht bekunden, da er mir den Rücken kehrte und ich infolgedessen das Gesicht nicht sehen konnte. Außerdem sprach er nur wenige Worte. –«

»Was geschah weiter –«

»Nach einer Viertelstunde kam Herr Doktor Denkandi und blieb zum Mittagessen da. Nachmittags fuhr er dann in einer Familienangelegenheit nach Mülhausen im Elsaß und holte am Montag vormittag Fräulein Brentano in Basel ab, die aus Lausanne zurückkehrte –.«

»Und was tat Herr Doktor Seyler den Rest des Sonntags?«

»Er blieb den ganzen Tag zu Hause und arbeitete ununterbrochen. Ebenso am Montag vormittag. – Am Montag abend gelang es ihm dann endlich die Zusammensetzung des Serums zu ergründen.«

»Wir kommen jetzt zu den heutigen Vorgängen«, sagte der Kommissar. »Erinnern Sie sich bitte genau – Frau Martens. – Wie Sie vorhin sagten, ging Herr Doktor Seyler direkt nach dem Kaffee in sein Arbeitszimmer?«

»Jawohl, so war es.«

»Wer befand sich bei ihm?«

»Niemand, er war allein. – Herr Doktor Bertolinescu war sofort nach dem Kaffeetrinken zur Bahn gegangen und Herr Doktor Denkandi kommt nur in Ausnahmefällen vor zehn Uhr und war auch heute morgen noch nicht erschienen.«

»Und die Tochter des Herrn Doktor Seyler?«

»Fräulein Brentano wohnte vorübergehend im Hotel, weil hier kein Platz war, sie kam erst, als Herr Doktor Seyler längst tot war.«

»Gut. Erzählen Sie nun bitte, wie sich der weitere Verlauf der Sache abspielte.«

»Um dreiviertel neun Uhr«, fuhr Frau Martens fort, »kam der Briefträger. – Er hatte neben einigen gewöhnlichen Briefen, die er mir abgab, auch einen Einschreibebrief, dessen Empfang Herr Doktor Seyler durch Unterschrift quittieren mußte. Ich schickte den Briefträger deshalb ins Arbeitszimmer. – Nach einer Minute kam er freudestrahlend wieder heraus und sagte, der Herr Doktor habe ihm fünf Mark Trinkgeld gegeben, damit er sich einen Extraschoppen leisten könne – –.«

»Pflegte Herr Doktor Seyler immer so splendid zu sein?«

»Nein, im Gegenteil –«

»Wie reimen Sie sich dann diese auffallende Noblesse zusammen?«

»Ich glaube aus Freude, an dem endlichen Gelingen seiner Arbeit.«

»Hm«, machte der Kommissar. »Es wäre aber auch möglich, daß ihm der Einschreibebrief eine besonders angenehme Botschaft gebracht hat.«

»Das glaube ich nicht, Herr Kommissar«, meinte Frau Martens und schüttelte leicht den Kopf. »Es handelte sich nämlich um keinen eigentlichen Brief, sondern um eine Warensendung, die aus jenem Kästchen bestand, das dort am Boden liegt.«

Der Kommissar hob die bezeichnete Schachtel sorgfältig auf und betrachtete sie genau. –

Es war ein niedriger Karton, noch ganz neu, aus dunkelbrauner Pappe, ungefähr 25 cm lang, 10 cm breit und 4-5 cm hoch. Auf dem Deckel, der einige Schritte von dem eigentlichen Kasten entfernt lag, war eine weiße Adresse aufgeklebt, die in Schreibmaschinenschrift die genaue Adresse Dr. Seylers trug. Die Bezeichnung des Absenders fehlte. – Ferner befand sich in der Ecke links unten ein rotumrändertes, kleines weißes Zettelchen, wie sie die Post zum Kenntlichmachen von Einschreibesendungen zu benützen pflegt. Rechts in der oberen Ecke waren die Freimarken, mit dem Poststempel Frankfurt (Main) 9. Die Sendung war also auf dem Postamt 9, am Hauptbahnhof, aufgegeben, und zwar am 27. Juni 1900, zwischen 7 und 8 Uhr abends. Rechts und links, neben der Adresse, waren zwei Messingösen zum Durchziehen der Kordel.

Der Kommissar hatte das Kästchen nach Betrachten wieder auf den Boden gelegt, wobei er eifrigst bestrebt war, den Deckel und den Kasten getrennt, haargenau, auf die frühere Stelle zu legen. Dies gebot seine Vorschrift, denn noch waren keine schriftlichen Aufzeichnungen über den Tatort vorgenommen worden.

»Bei unserer Ankunft lag diese Schachtel leer am Boden«, sagte der Kommissar. »Hatten Sie, Frau Martens, von ihrem Inhalt Kenntnis?«

»Nur Vermutungen, Herr Kommissar«, meinte die Haushälterin zögernd. »Ich nehme an, daß sie den reparierten Teil des Mikroskops enthielt, das Herr Doktor Denkandi am Freitag umgeworfen hatte.«

»Wie kamen Sie gerade auf diese Vermutung?«

»Ich schüttelte das Kästchen, bevor ich es Herrn Doktor Seyler hineintragen ließ, mehrere Male hin und her, es mußte sich ein nicht allzu großer Gegenstand darin befunden haben, der den Raum nicht völlig ausfüllte –«

»Sie glauben also nicht, daß Herr Doktor Seyler dem Postboten ein so hohes Trinkgeld gegeben hat, weil er vielleicht die Einschreibesendung dringend benötigte, und sie gerade rechtzeitig ankam?«

»Nein, Herr Kommissar, das halte ich für nicht wahrscheinlich. Derartige Sendungen kamen häufig an, und nie hat Herr Doktor meines Wissens ein Trinkgeld gegeben. – Ich nehme, wie schon bemerkt, viel eher an, daß er sich infolge des endlichen Abschlusses seiner Arbeit in einer gehobenen Stimmung befunden hat und dem Briefträger aus diesem Grunde eine Freude machen wollte. – –«

»Nun gut. Fahren Sie bitte fort. Was geschah nachher?«

»Als der Briefträger das Zimmer verlassen hatte, kehrte ich in die Küche zurück, um Kartoffeln zum Mittagessen zu schälen. – Plötzlich hatte ich das Empfinden, als kämen aus dem Arbeitszimmer unartikulierte Laute – – Ich eilte auf den Vorplatz. – – Richtig. – – Aus dem Zimmer Doktor Seylers kam ein deutliches Stöhnen. Ich öffnete schnell die Tür und blieb vor Schrecken und Entsetzen gebannt stehen. – – Doktor Seyler lag am Boden!«

»Tot – –?«

»Nein, er atmete noch –«

»Beschreiben Sie nun genau, was Sie sahen. Was jetzt kommt, ist sehr wichtig.«

»Ich faßte mich schnell, nachdem ich den ersten Schrecken überwunden hatte, und rief den Herrn Doktor an. – – Er gab keine Antwort. – Die Augen standen starr und weit offen, doch schien mir der Augenstern stark verkleinert. – Der Atem ging ganz langsam, unregelmäßig, dazwischen stöhnte Seyler mehrere Male zum Gotterbarmen und sagte leise » dolore« oder so ähnlich. Damit wollte er wohl auf Lateinisch zum Ausdruck bringen, daß er starke Schmerzen habe. – Seine linke Seite schien gelähmt, während die rechte krampfhaft zuckte und bebte. – Ich versichere Sie, meine Herren, es war ein Anblick zum Gotterbarmen. – Dazu war ich allein im Hause, und wußte nicht, wie ich helfen konnte. – – Da kam mir ein Gedanke. – Schräg gegenüber von uns wohnt der praktische Arzt Doktor Meister, dem ich sofort telephonierte, dann klingelte ich Doktor Denkandi an, er möge gleich kommen. – Meister war zu Hause und erschien nach wenigen Minuten. – Er konnte nur den inzwischen eingetretenen Tod Seylers feststellen, und zwar konstatierte er einen Schlaganfall. Doktor Denkandi schloß sich später seiner Ansicht an.«

»Wann erschien Doktor Denkandi?« fragte der Kommissar.

»Knapp fünf Minuten, nachdem ich ihm telephoniert hatte.«

»Schien er durch die Nachricht sehr erregt?«

»Nein, Herr Doktor Denkandi behält in den schwierigsten Fällen seine orientalische Ruhe.«

»Was tat er nach seinem Erscheinen?«

»Er beugte sich mit Doktor Meister über den Toten, dann besprachen sich die beiden leise, wobei eine Unmenge lateinischer Worte fielen, die ich nicht verstand.«

»Und die Tochter Doktor Seylers?«

»Die kam bald nachher, vielleicht eine Viertelstunde später.«

Rademacher schien einen Augenblick über etwas nachzudenken, dann fragte er:

»Wie lange sind Sie schon in den Diensten Doktor Seylers, Frau Martens?«

»Beinahe zehn Jahre, Herr Kommissar.«

»Dann dürften Sie allerdings den Toten und seine Gewohnheiten genau gekannt haben. – Wie alt ist Herr Doktor Seyler geworden?«

»Zweiundsiebzig oder dreiundsiebzig Jahre.«

»Das ist ein ganz respektables Alter«, meinte der Kommissar. »Neigte der Herr Doktor zu Krankheiten? Ich meine, war er eine gesunde Natur, oder das, was man mit kränklich bezeichnet –?«

»Er war gesund, und hatte in seinen Jahren noch eine bessere Körperkonstitution, wie mancher Vierzigjährige.«

»Neigung zu Schlaganfällen war also nicht vorhanden. Frau Martens?«

»Mir ist nichts davon bekannt, Herr Kommissar.«

»Muschall!« wandte sich Rademacher an seinen Wachtmeister. »Machen Sie sich doch mal eine Notiz, bezüglich Doktor Meister, Liebigstraße, er muß zum Verhör geladen werden«, dann richtete er seine Fragen von neuem an Frau Martens.

»Haben Sie sich nicht gewundert, daß Herr Doktor Seyler, der doch Ihrer eigenen Meinung nach, trotz seines hohen Alters einen kerngesunden Körper hatte, innerhalb weniger Minuten an einem Schlaganfall gestorben sein soll –?«

»Eigentlich ja«, meinte die Haushälterin zögernd. »Anderseits hatte sich Herr Doktor Seyler in den letzten Wochen zuviel zugemutet. Er kam den ganzen Tag nicht von seiner Arbeit weg, saß nur allzu häufig halbe Nächte lang über seinen Präparaten und Experimenten, und hielt sich nur durch starken Kaffee wach. – Daß derartige Gewaltsachen den stärksten Körper mit der Zeit ruinieren, besonders bei einem Mann im Alter Doktor Seylers, darf niemand wunder nehmen. Dazu kommt noch, daß die Experimente nicht klappen wollten und die ganze Arbeit häufig von Anfang an begonnen werden mußte. Daß es eines Tages zu einem solchen Ende mit Schrecken kommen mußte, habe ich mehr oder weniger vorausgesehen.«

»Sie waren also nicht gerade überrascht, wie der Arzt heute morgen einen Schlaganfall konstatierte?«

»Nein, Herr Kommissar.«

»So ist Ihnen auch noch nicht der Gedanke gekommen, daß Doktor Seyler einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte?«

Frau Martens sah den Kommissar überrascht an.

»Einem Verbrechen – –?« wiederholte sie langsam und zögernd. »Nein – –, an ein Verbrechen kann ich nicht glauben – –«

Über das Gesicht des Kommissars zuckte ein leises Lächeln:

»Weshalb glauben Sie eigentlich, verehrte Frau Martens, daß ich hierhergekommen bin, und mir die Zeit nehme, ein so langes und eingehendes Verhör mit Ihnen aufzunehmen – –?«

Und als die Haushälterin schwieg, und den Kommissar nur mit großen Augen fragend und etwas befangen ansah, fuhr dieser fort:

»Ja, die Polizei sieht im allgemeinen doch schärfer als das Publikum und wittert überall ein Verbrechen, manchmal täuscht sie sich, meistens aber nicht.« Er griff nach dem weißen Zettel: »Kennen Sie die Handschrift Doktor Seylers?« fragte er.

»Natürlich, Herr Kommissar. Ganz genau.«

»Dann sagen Sie mir bitte, ob Seyler diese Worte geschrieben hat?«

Frau Martens nahm vorsichtig, fast ein wenig ängstlich, das Papier in Empfang, setzte umständlich einen Kneifer auf die Nase, und las – las genau, und eingehend. –

Heftiges Erschrecken malte sich in ihren ehrlichen Zügen.

»Aber, Herr Kommissar – –!« stammelte sie. »Das – – das – – ist doch nicht gut denkbar – – – Mörder – Denkandi – – der Orientale –? Denkandi ein Mörder – –? Nein, Herr Kommissar«, sagte sie entschieden. »Das kann nicht sein –«

Rademacher zuckte die Achseln:

»Ist das Seylers Handschrift oder nicht?« fragte er.

Frau Martens betrachtete den Zettel von neuem.

»Sie könnte es wenigstens sein«, meinte sie etwas unsicher. »Die Schrift ist allerdings sehr flüchtig und undeutlich.«

»Die flüchtige Schrift ist leicht erklärlich, wenn man in Betracht zieht, daß diese wenige Zeilen im Todeskampf auf das Papier geworfen wurden. Ich gebe es zu. Diese wenigen Zeilen enthalten eine furchtbare Anklage, aber, nachdem Sie und übrigens auch Herr Doktor Bertolinescu, die Handschrift Seylers zu erkennen glauben, dürfte die Schuld Doktor Denkandis nahezu erwiesen sein.«

»Herr Kommissar«, sagte die Haushälterin fest und bestimmt. »Hier steht es zwar schwarz auf weiß, aber ich halte es für ausgeschlossen, daß Herr Doktor Denkandi ein Mörder sein soll.«

»Wir sind da allerdings etwas anderer Meinung«, sagte Doktor Bertolinescu etwas spitz. Er hatte bisher schweigend auf dem Sofa gesessen und sich in keiner Weise in das Verhör des Kriminalkommissars hineingemischt.

»Sie sind schon gar nicht maßgebend, Herr Doktor«, erwiderte Frau Martens unwillig. »Bevor Sie Herrn Doktor Denkandi nur gesehen hatten, waren Sie schon gegen ihn eingenommen, nur aus dem Grunde, weil er Jude ist –«

»Aber erlauben Sie mal – –!« fuhr der Rumäne auf.

»Bitte sehr –!« sagte Frau Martens gereizt. »Ist es vielleicht nicht so? Haben Sie nicht Herrn Doktor Seyler vom ersten Tag Ihres Hierseins an aufgehetzt, sich den semitischen Assistenten vom Leibe zu halten? – Was kann Doktor Denkandi für seine Konfession –? Daß er zufällig von jüdischen Eltern geboren ist, daran ist er doch unschuldig –«

»Konfessionelle oder Rassefragen«, meinte nun der Kommissar ruhig und beschwichtigend, »sind in unserem Falle ganz nebensächlich. – Ich für meine Person halte mich nur an die nackten Tatsachen, und daß dieser Zettel, in der Handschrift des Toten, den Türken stark verdächtigt, müssen Sie doch selbst zugeben.«

Frau Martens schien einen Augenblick nachzudenken. »Ich habe nicht mit Bestimmtheit behauptet, daß Doktor Seyler die belastenden Worte geschrieben hat. Es ist dies noch nicht erwiesen. Richtig ist, daß der Charakter der Schrift der seinen ähnelt, aber eine bestimmte Diagnose wird durch ihre Flüchtigkeit sehr erschwert.«

»Mag sein«, erwiderte der Kommissar gleichmütig. »Übrigens wurde ja die Möglichkeit, daß Seyler die Worte geschrieben hat, auch schon von anderer Seite eingeräumt. Des weiteren wird sich der sachverständige Graphologe noch mit der Handschriftbeurteilung zu befassen haben.«

Frau Martens wollte sich nicht überzeugen lassen.

»Mir ist überhaupt nicht klar,« sagte sie, »warum Herr Doktor Seyler ausgerechnet seine Zuflucht zum Schreiben genommen haben soll, wenn er irgend jemand verdächtigen oder anklagen wollte. Hätte er das nötig gehabt? – Genau so schnell, wie er schreibt, sogar noch schneller, hätte er mich mit einem Druck auf jener Klingel herbeirufen können und mir alles erzählen können.«

Nun mischte sich Bertolinescu wieder in die Debatte«.

»Können Sie sich in das Handeln eines Menschen hineinfühlen,« wandte er ein, »der mit seinem Tode kämpft, dem möglicherweise ein mörderisches Gift in seinen Adern wütet, und der nur von dem einen Gedanken beherrscht ist, den Namen seines Mörders noch schnell festzuhalten –? Zugegeben, Frau Martens, er hätte Sie rufen können, in seinem Zustand dachte er aber gar nicht an das Naheliegendste, hingegen brachte ihn die Feder und das Papier, das beides vor ihm auf dein Schreibtisch lag, auf die Idee zu schreiben, das erscheint mir als Mediziner mehr als logisch, wenn Sie es auch in Ihrem Laienverstand nicht fassen können. –«

Frau Martens zuckte die Achseln. »Sie werden doch den armen Denkandi –« wandte sie sich an den Kommissar, »der die Güte selbst ist, nicht verhaften lassen wollen?«

»Noch ist es nicht so weit,« meinte Rademacher ernst, »aber das weitere steht nicht bei mir, und ich fürchte, daß es ohne die Verhaftung des Türken nicht gehen wird, er ist zu stark belastet. Wissen Sie, ob Doktor Seyler einen Feind hatte, der ihm vielleicht aus irgendwelchen Gründen nach dem Leben trachten konnte –?« fragte er sodann.

»Nein« sagte Frau Martens entschieden. Ich kenne niemand, dem ich einen Mord an Doktor Seyler zutrauen möchte. Er lebte sehr zurückgezogen und hatte so gut wie gar keinen Verkehr.«

»Dann wollen wir jetzt Herrn Denkandi hören. – Muschall, wollen Sie den Doktor herüberbitten. Ich danke Ihnen, Frau Martens.«

Die Haushälterin ging. Kurz darauf erschien der Türke unter der Tür.

Rademacher ergriff das Wort. »Ich habe Ihnen als Kriminalkommissar einige Fragen vorzulegen«, sagte er zu Denkandi gewandt. »Wollen Sie antworten?«

»Natürlich«, sagte der Türke ruhig. »Nur fürchte ich, daß ich! Ihnen nicht viel erzählen kann, denn mein Kollege Seyler war bei meinem Eintreffen schon tot.«

»Ihr Name ist Denkandi?« fragte der Kommissar. »Mit einem k und d, nicht wahr?«

»Jawohl, Ibrahim Denkandi – Benvenisti!« antwortete der Türke.

»Ihre Konfession?«

»Israelitisch –«

»Staatszugehörigkeit –?«

»Osmanische –.«

»Beruf –?«

»Dr. med. und Bakteriologe.«

»Ledig oder verheiratet?«

»Ledig –«

»Wo sind Sie geboren –?«

»In Saloniki –.«

»Wie alt sind Sie –?«

»Einunddreißig Jahre –.«

»Waren Sie Soldat?«

»Nein. Aber ich gehöre der Kaiserlich Osmanischen Armee als Militärarzt im Hauptmannsrang an.«

»Gut, Herr Doktor. Nun eine andere Frage. In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Toten?«

»Ich bin weder verwandt, noch verschwägert mit ihm.«

»Sie haben meine Frage mißverstanden. Ich meine, ob Sie in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Seyler standen. Ob Sie ein bezahlter Arbeiter waren?«

»Nein, ich war sein Assistent bei seinen bakteriologischen Arbeiten, aber natürlich nicht gegen Entgelt.«

»Wie lange haben Sie schon mit dem Toten gemeinschaftlich gearbeitet?«

»Beinahe ein Jahr.«

»In dieser Zeit waren Sie täglich mit ihm zusammen?«

»Jawohl. Fast täglich.«

»Sie sind Arzt, Herr Doktor«, fuhr der Kommissar fort. »Welcher Ursache schreiben Sie Seylers plötzlichen Tod zu?«

»Einem Schlaganfall,« antwortete Denkandi, »den ja auch ein anderer Kollege, ganz unabhängig von mir, konstatiert hat – –.«

Rademacher machte eine kleine Pause, während welcher Zeit er die Züge des Türken, die ruhig und unbefangen waren, genau studierte.

»Ihr Kollege, Herr Doktor Bertolinescu hier, ist anderer Ansicht«, meinte der Kommissar. »Er vertritt den Standpunkt, daß Herr Doktor Seyler an einem schnellwirkenden Gift verstorben ist.«

Denkandi richtete seine Augen erstaunt auf den Rumänen, der den Blick des Türken kalt erwiderte.

»Diese Ansicht teile ich nicht«, antworte Denkandi und schüttelte den Kopf. »Sich zu vergiften, dazu hatte Herr Doktor Seyler nicht die geringste Veranlassung

»Von einem Selbstmord ist auch gar nicht die Rede« meinte der Kommissar, und sah den Türken scharf an. »Ich möchte behaupten, daß Herr Doktor Seyler einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.«

Denkandi schüttelte erneut den Kopf. »Dieser Ansicht kann ich noch weniger beipflichten«, sagte er. »Es wäre geradezu absurd, an ein Verbrechen zu glauben. Wer sollte den alten Mann, der weder Freund noch Feind hatte, ermordet haben. – Außerdem sind, soweit ich es beurteilen konnte, die typischen Symptome eines Schlaganfalls gegeben –«

»Ich bin kein Fachmann, Herr Doktor. Aber ich habe mir sagen lassen, daß die Anzeichen bei einer Vergiftung auf den ersten Blick ganz ähnliche sein sollen.«

»Sie verirren sich auf das Gebiet der Vermutungen, Herr Kommissar,« sagte der Türke, »von Vergiftung oder einem anderen Verbrechen kann meines Erachtens gar keine Rede sein. Es fehlt zu dieser Annahme jedes, aber auch jedes plausible Motiv.«

»Da bin ich doch etwas anderer Meinung«, antwortete der Kommissar kalt. »Herr Doktor«, fuhr er ernst fort. »Wir wollen kein Versteck spielen. Welche Gründe Sie haben konnten, um Ihren Mitarbeiter zu vergiften, will ich jetzt nicht erörtern. Ich halte mich nur an die nackten Tatsachen. – Sie werden beschuldigt, Herrn Doktor Seyler ermordet zu haben.«

Sechs Augenpaare richteten sich gespannt auf Denkandis Gesicht.

Dieser brauste nicht auf, noch zeigte in seinen Zügen irgendwelche Entrüstung, noch besondere Überraschung.

»Ich – –?« fragte er nur ruhig. »Ich soll ein Mörder sein. – Herr Kommissar, wenn ich nicht soviel Achtung vor dem Gesetz hätte, würde ich herzlich lachen. So muß ich Ihnen nur mit dem Zitat antworten: ›Wär' der Gedanke nicht so sehr gescheit, man wär' versucht, ihn herzlich dumm zu nennen‹ –«

Der Kommissar zog ärgerlich die Brauen zusammen.

»Ihre Kenntnis von Schillers Werken in allen Ehren – –.«

»Pardon –« unterbrach ihn Denkandi ruhig. »Das Zitat kommt in Goethes ›Faust‹ vor.«

»Meinetwegen Goethe«, sagte der Kommissar unwillig. »Das Scherzen wird Ihnen schon noch vergehen. Den Beweis Ihrer Schuld habe ich schon in Händen. Seyler selbst hat Sie vor seinem Tode als Mörder namhaft gemacht.«

»Da bin ich doch begierig, auf welche Weise«, meinte der Türke gleichmütig. »Seyler war schon tot, wie ich erschien. Wie er Ihnen dann erzählt haben könnte, daß ausgerechnet ich sein Mörder sein sollte, ist mir mehr als schleierhaft.«

»Und ihr Ton dem Gesetz gegenüber ist mehr als ungehörig«, sagte der Kommissar, der Mühe hatte, Denkandis Benehmen gegenüber seine Ruhe zu bewahren. – Plötzlich griff er nach dem Zettel, der neben ihm auf dem Tisch lag.

»Die Handschrift Seylers ist Ihnen doch wohl bekannt,« sagte er, »hier lesen Sie, – und nun, verantworten Sie sich, wenn Sie können – –.«

Rademacher tauschte mit Bertolinescu einen kurzen Blick, dann überreichte er dem Türken das Stück Papier.

Dieser las kopfschüttelnd, und gab den Zettel schweigend zurück.

»Nun, was haben Sie darauf zu erwidern?« fragte der Kommissar.

Denkandi strich sich mit der linken Hand langsam über die Stirn, dann nahm er seine Brille ab und begann sie schweigend mit seinem Taschentuch zu putzen.

»Sie besinnen sich etwas lange auf Antwort!«, meinte der Kommissar spöttisch. – Bei ihm stand es nun fest, daß Denkandi schuldig war.

Dieser antwortete endlich:

»Zweierlei wäre möglich –« meinte er ruhig. »Entweder Seylers Geist muß aus Gründen, deren Erörterung mit wenigen Worten nicht möglich ist, derart gelitten haben, daß er in seinem Todeskampf etwas niedergeschrieben hat, wofür er selbst nicht den geringsten Beweis aufbringen konnte; oder, die zweite Möglichkeit, für mich schon beinahe eine Wahrscheinlichkeit, – der Zettel ist gar nicht von ihm geschrieben worden, und von irgend jemand an den Tatort geschmuggelt worden, der mir schaden will –.«

»Sie führen sonderbare Dinge zu Ihrer Entlastung an« meinte nun Bertolinescu höhnisch. »Das Sterbezimmer wurde doch in Ihrer Gegenwart von mir verschlossen und nachher von keinem Menschen mehr betreten – –.«

Denkandi richtete seine großen, dunklen Augen voll auf den Rumänen. »Der Zettel kann schon vorher dort gelegen haben«, sagte er.

»Genug –!« meinte Rademacher. »Ich wiederhole Ihnen, Herr Doktor, daß ich mich als Polizeibeamter nur an die Tatsachen zu halten habe, und diese Anklage, in des Ermordeten eigener Handschrift, sie wurde von zwei Zeugen als solche erkannt, belastet Sie aufs schwerste, das müssen Sie doch zugeben –?«

Denkandi schwieg. »Mag sein«, gab er dann ruhig zu. »Jedenfalls habe ich nichts zu gestehen. – Tun Sie Ihre Pflicht, Herr Kommissar. Ich habe nichts zu befürchten. – Die Sektion der Leiche muß die Haltlosigkeit Ihrer Behauptung ergeben. – Was der mysteriöse Zettel zu bedeuten hat, kann ich Ihnen, für den Augenblick wenigstens, nicht sagen. – –«

Ein Geräusch von der Tür her veranlaßte die vier Herren sich umzudrehen.

Hanna Brentano stand in der geöffneten Tür.

Das Mädchen sah erschreckend bleich aus. – Jeder Blutstropfen schien aus ihrem Gesicht gewichen. – Sie hielt sich an der Kante des Schreibtisches fest, und richtete ihre großen, blauen Augen auf Denkandi.

Die beiden Polizeibeamten und der rumänische Arzt hatten sich erhoben.

Der letztere trat auf Hanna zu und wollte ihr stützend den Arm reichen, doch sie wehrte ihn leicht ab.

»Entschuldigen Sie mein Eindringen – –« wandte sie sich mit leiser, bebender Stimme an Rademacher. Frau Martens erzählte mir alles, – und – ich habe es im Bett nicht mehr ausgehalten – – Ich mußte kommen – –.«

Der Kommissar hatte Hanna einen Stuhl zugeschoben und nötigte sie sanft zum Sitzen.

»Es ist eine traurige Pflicht, die mich hierhergerufen hat, Fräulein Brentano –« sagte er.

»Mein Vater soll keines natürlichen Todes gestorben sein –?« fragte das Mädchen tonlos.

»Leider haben wir berechtigten Grund zu der Annahme, daß ein Verbrechen vorliegt –« antwortete Rademacher.

»Und Herr Doktor Denkandi soll der Mörder sein?« fragte Hanna. »Unmöglich«, fuhr sie fort. »Ich kann es nicht glauben.«

Zum ersten Male kam Leben in die unbeweglichen Züge des Türken. Er trat auf Hanna zu und reichte ihr die Hand.

»Haben Sie Dank, gnädiges Fräulein«, sagte er. Seine Stimme klang bewegt. »Ich danke Ihnen, daß Sie wenigstens nicht an mir zweifeln.«

Der Kommissar griff von neuem nach dem Zettel.

»Wir haben hier etwas gefunden,« sagte er, »was die Täterschaft des Herrn Doktor Denkandi beinahe ohne Zweifel dastehen läßt. Wollen Sie mir sagen, ob Sie die Schrift Ihres Vaters in diesen Zeilen erkennen –?«

Hanna betrachtete unsicher bald das Stück Papier, bald das unbewegliche Gesicht Denkandis.

Ein heftiges Zittern ging durch ihre Gestalt.

»Diese Schrift – –?« sagte sie. »Sie ist so flüchtig – – fast unleserlich – –.«

»Vergessen Sie nicht, daß ein Mann, der mit dem Tode kämpfte, diese Zeilen auf das Papier geworfen hat«, warf Bertolinescu ein.

»Ja, – ja –, Sie mögen recht haben – –« sagte sie fast unhörbar. »Ich, – – ich – glaube ja auch, daß mein Vater diese Zeilen geschrieben hat. – – Er muß sie wohl geschrieben haben – – Wer – hätte es auch sonst tun können –«

»Das genügt –« meinte der Kommissar.

»Wollen Sie sich nicht wieder niederlegen, gnädiges Fräulein,« sagte Denkandi besorgt, »Sie sind krank, und bedürfen unbedingt der Ruhe – –.«

»Etwas auf die Tat Bezügliches werden Sie uns doch nicht sagen können –?« meinte der Kommissar.

»Nein – nein – –!« rief Hanna schaudernd aus. »Ich weiß gar nichts. – Ich bin ja auch als Allerletzte hier erschienen. Nein –! Ich kann nichts sagen – –.«

»Herr Doktor«, sagte Rademacher nach kurzem Überlegen. »Ich muß Sie bitten, mich zu begleiten. – Vielleicht, daß sich in einigen Tagen schon Ihre Unschuld herausstellt, ich hoffe und wünsche es für Sie. – Aber ich muß meine Pflicht tun.«

»So bin ich also verhaftet – –?« fragte der Türke und seine Stimme zitterte nun doch ein wenig.

Rademacher zuckte bedauernd die Achseln.

»Nicht ich beschuldige Sie, der Tote selbst klagt Sie an. Sie haben es ja auch gelesen: Mörder Denkandi Ben der Orientale. Ein Zweifel an dem Sinn dieser Worte ist nicht möglich – –«

Der Kommissar trat ans Fenster.

Unten auf der Straße standen in kleinen Gruppen ungefähr zwei Dutzend Menschen, die sich erregt unterhielten, wobei sie ab und zu einen schnellen, scheuen Blick nach der Seylerschen Wohnung hinaufwarfen.

Da trat der Kommissar vom Fenster zurück.

»Sorgen Sie für einen Wagen, Muschall –!« gebot er. Dann legte er dem Türken leicht die rechte Hand auf die Schulter und sagte:

»Herr Doktor Denkandi. – Im Namen des Gesetzes, erkläre ich Sie für verhaftet – –.«


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