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Lisei kam von dem Begräbnis Jergs, bei dem sie die einzige Leidtragende gewesen und bei dem kein Geistlicher die Gebete gesprochen hatte. Nun war sie im Begriff, zu Stasi hinaufzugehen. Vorher aber sprach sie noch in der Pfarre vor, um die Bona Uschina davon in Kenntnis zu setzen, daß Stasi gefunden und wiederhergestellt sei.
Die kleine, lebhafte Frau war gerade eifrig beschäftigt, die Spuren der Verwüstungen zu tilgen, die die Franzosen in der Pfarre angerichtet hatten. Bei Liseis Mitteilungen überkam sie ein Zittern an allen Gliedern; sie mußte sich niedersetzen, und dicke Freudentränen tropften ihr aus den Augen. Dann rief sie ein Mal über das andere:
»O santa umma di Dio!« O santa umma di Dio! – (ital.) O heilige Mutter Gottes!
Sie wollte gleich zu Stasi hinaufeilen. Lisei aber bat sie, es heute noch nicht zu tun; sie verschwieg ihr jedoch, daß sie selber hinaufginge, um Stasi auf Ambros' Tod vorzubereiten.
Das war ein schwerer Gang für sie, schwerer selbst als jener mit Jerg zum Altar, und sie bedurfte ihrer ganzen Seelenstärke, um sich bei dem Wiedersehen mit der kaum Genesenen nicht zu verraten.
Stasi wußte von der Verhaftung des Klosterbauern noch nichts und hatte auch keine Ahnung von dem Schrecklichen, das ihr bevorstand. Bei ihrer Rückkehr von Fodara Vedla hatte sie den Ohm krank gefunden und war durch seine Wartung mit Mona zusammen ganz an das Haus gefesselt worden. Die Soldaten hatten den Tod ihres Führers und ihr vergebliches Suchen nach Ambros durch arge Mißhandlungen an dem Alten gerächt.
Lisei schwieg daher noch über die Verschleppung ihres Vaters.
Es eilte ja nicht, Stasi darauf vorzubereiten, daß ihre Trennung von Ambros eine Trennung für ewig sein würde. Mit heimlich blutendem Herzen hörte sie Stasi von ihrem Bruder erzählen.
Plötzlich unterbrach Stasi ihre Mitteilungen und preßte die Hand aufs Herz. Sie hatte jemand am Fenster vorüberkommen sehen. In der nächsten Minute flog sie mit einem Freudenschrei in die Arme ihres Ambros, und hinter ihm trat der Klosterbauer in die Stube.
»Er lebt!« stammelte Lisei, von der Erscheinung ihres bereits totgeglaubten Bruders überwältigt.
»Ja, wir leben beide!« rief der Vater und küßte sie. Und dann, als Ambros sie endlich freiließ, küßte er auch Stasi und sagte mit etwas unsicherer Stimme: »Von wegen dem Brosi hab mich auch ein wenig lieb. Er hat mich auch lieb! – Ach, Lisei, Lisei«, wandte er sich wieder zu dieser, »kannst du's denn verstehn, daß er sein Leben für mich hat hingeben wolln?«
Lisei lächelte unter Tränen. »Ich wußte es«, sagte sie leise.
Ambros erzählte, während er den rechten Arm fest um Stasis Hüften geschlungen hatte. Sie erblaßte bei seiner Erzählung; doch bald kehrte die Farbe auf ihre Wangen zurück. Und wenn es einen Wermutstropfen in ihre Freude schüttete, daß er durch Afra gerettet worden war, so löste sich dieses Gefühl doch in dem Stolz auf seinen Opfermut, und ihre braunen Augen leuchteten von dieser Empfindung ebenso wie die grauen Augen Liseis.
Auf welche Weise Afra den General Broussier bewogen hatte, dem Erfolg seiner Spekulation auf die heiligsten Empfindungen der Menschenbrust zu entsagen, blieb unaufgeklärt. Denn Afra kehrte weder am nächsten noch an den folgenden Tagen nach St. Vigil zurück. Erst nach Wochen erfuhr man durch ihre Mutter, die auf die Mühle kam, daß sie nach Österreich gegangen und dort in ein Kloster der barmherzigen Schwestern eingetreten sei, um ihr Leben fortan der Pflege der Kranken und Armen zu widmen. Sie hatte den Ihren den größten Teil des Geldes geschickt, das ihr der alte Arigaya hinterlassen hatte, und die Mutter gebeten, Lisei ihre letzten Grüße zu überbringen.
Der Klosterbauer zog zu seiner Tochter und brachte für sie den Mühlenbetrieb wieder in Gang. Vefa hatte zuwenig Herz, um die Wandlung zu begreifen, die sich in ihrem Bruder vollzogen hatte, und ihr Verstand reichte nicht aus, das Herz zu ersetzen. Da Ambros von den Franzosen nicht erschossen worden war, hielt sie dessen Selbstauslieferung an den Feind für nichts Großes. Befremdet und fremd stand sie unter den Ihren, die die Liebe um so enger vereinigte, je unheimlicher es in der Außenwelt zuging.
Mit dem Gefühl von Schiffbrüchigen, die sich auf ein Eiland gerettet haben, um das die empörten, mit Schiffstrümmern und Leichen bedeckten Wogen rasen, schauten Ambros und Stasi von ihrem Gehöft, auf dessen lang verwaistem Herd ein tiefes menschliches Glück das Feuer wieder entzündet hatte, auf das wüste Treiben der Franzosen und Bayern im Lande. Sie wurden Zeugen von Taten, vor denen der Genius der Menschheit entsetzt sein Antlitz verhüllte. Der Himmel war rot von Feuerbränden, und die Täler hallten von Standrechtsschüssen wider. Wer nach der Proklamation des Vizekönigs von Italien die Waffen ergriffen, den letzten Aufruf Hofers verbreitet oder die Sturmglocken gezogen hatte, wurde erschossen. Patrouillen durchzogen unablässig das Land und schleppten die Verdächtigen fort, und menschenunwürdige Erbärmlichkeit und Gemeinheit, die sich vor der allgemeinen Begeisterung versteckt gehalten hatte und nun hervorkroch, vermehrte durch ihre Angebereien die Zahl der Opfer für Grab und Galeere. Selbst der Priesterrock bot keinen Schutz, und mancher Dorfpfarrer, der an der Spitze seiner Gemeinde gekämpft oder ihr das Kreuz vorangetragen hatte, mußte jetzt mit dem Leben dafür büßen. Die Häuser und Gehöfte der Anführer, nach denen man mit der Ausdauer sklavenjagender Bluthunde fahndete, wurden verbrannt oder niedergerissen, ihre Angehörigen ins Elend gestoßen.
Manchem gelang es, aus dem Lande zu entfliehen. Haspinger rettete sich aus dem oberen Inntal nach Graubünden. Speckbacher dagegen mußte während des ganzen Winters in Tirol von Versteck zu Versteck flüchten und dabei Schreckliches erdulden, ehe er nach Österreich zu entrinnen vermochte. Peter Siegmayr, der Ordonnanzoffizier Hofers, wurde in Ketten und unter brutalen Mißhandlungen von den französischen Soldaten erst nach Bozen, dann nach Bruneck geschleppt und schließlich auf Befehl des Generals Broussier in Mittel-Ollang angesichts seines elterlichen Hauses und in Gegenwart der Seinen – die man zwang, dabeizustehen – erschossen und an einen Galgen gehängt. Kemenater entging dem gleichen Schicksal nur dadurch, daß er bereits nach Hofers Aufruf zum Waffenstillstand beim Einrücken der Franzosen in das Pustertal in seinem Wirtshause zu Schabs gefangengenommen worden war. So wurde er der Amnestie des Vizekönigs Eugen teilhaftig. Der jugendlich schöne, edelherzige Peter Mayr von der Mahr fiel den Franzosen ebenfalls in die Hände. General Baraguay d'Hilliers kassierte auf die warme Fürsprache seiner Gattin, die eine Deutsche war, das Todesurteil des Kriegsgerichts und sicherte ihm Leben und Freiheit zu, wenn er eine Erklärung unterzeichnete, daß ihm die Proklamation des Vizekönigs von Italien unbekannt geblieben sei. Peter Mayr aber weigerte sich, sein Leben durch eine Lüge zu erkaufen, und selbst der Anblick seiner untröstlichen Frau und seiner weinenden Kinder vermochte seine Standhaftigkeit nicht zu erschüttern.
Noch aber hatten die Standrechtskugeln dieses edle und reine Heldenherz nicht durchbohrt, als durch Täler und Gebirge die Kunde kam, daß der Hofer gefangen sei. Ein Holzschlittner, Johann Raffl aus Prandach, so hieß es, habe zufällig sein Versteck in der Waldhütte unterhalb der Pfandlerspitze entdeckt und es den Franzosen verraten. Fast zwei Monate lang hatte sich Andreas Hofer dort im Hochgebirge unter Schnee und Eis verborgen gehalten und war taub geblieben gegen alles Bitten Haspingers, der sich, als Hausierer verkleidet, aus Graubünden zu ihm gewagt und ihn beschworen hatte, mit ihm aus dem Lande zu fliehen. Er hatte nicht fortwollen aus Tirol – so wie ein Baum den Ort, an dem er eingewurzelt ist, nicht zu verlassen vermag, es sei denn, er würde umgehauen.
In St. Vigil sah man nur bestürzte Mienen. Ambros hatte nirgends Ruhe, und er sprach mit Mutschleitner und dem Gamsmanndl davon, daß man ihn befreien müsse. Er holte seine Waffen aus Tamers und setzte seine Pistolen instand. Sampogna erklärte sich sofort bereit, ihm beizustehen, meinte aber doch, mit Gewalt wäre nichts zu machen; der einzige Weg, der in das Gefängnis Hofers führen könnte, müßte mit Gold gepflastert sein.
»An Geld fehlt's nit!« rief Ambros. Er hatte seinen Rappen, der sich für die Feldwirtschaft in den Bergen nicht eignete, an den Wirt in Waldbruck verkauft. Hundert Gulden in Bankozetteln hatte er für das schöne Tier erhalten; die wollte er mit Freuden hergeben. Das aber dünkte dem Gamsmanndl denn doch zuwenig, um über die Zugbrücken der Festung, geschweige in das Gefängnis Hofers zu gelangen.
Mutschleitner meinte, der Kaiser Franz habe zwar Tirol preisgeben müssen, aber daß der Hofer stürbe, würde er nicht zulassen, zumal Napoleon des Kaisers Schwiegersohn werden sollte. Die meisten teilten diese Ansicht, besonders die Frauen, und Lisei und Stasi versuchten ihre Hoffnung auch Ambros einzuflößen.
Nur Herr Zengerl brummte vor sich hin: »König Agamemnon Agamemnon – sagenhafter König von Mykenä, der im Trojanischen Krieg das Heer der verbündeten Griechen befehligte und, da seine im Hafen von Aulis versammelte Flotte durch eine Windstille zurückgehalten wurde, seine Tochter Iphigenia opferte, um die erzürnte Göttin Artemis zu versöhnen. hat seine eigne Tochter geopfert, um den Zorn der Götter zu versöhnen, und genauso tut der Kaiser Franz. Aber Napoleon ist kein Gott. Er ist ein Brennus, Brennus – Anführer der Gallier, die um 387 v. u. Z. in Italien einfielen; besiegte die Römer an der Allia (18. Juli 387), eroberte und zerstörte Rom. Von ihm rührt die sprichwörtliche Redensart »Vae victis!« (»Wehe den Besiegten!«) her, die er dem römischen Befehlshaber zugerufen haben soll, indem er beim Zuwägen der 1000 Pfund Gold, die er für seinen Abzug verlangte, noch sein Schwert in die Waagschale warf. der zu den Gewichten, mit denen das Lösegeld gewogen wird, noch sein Schwert in die Schale wirft.«
Eines Nachmittags, gegen Ende des Monats Februar, erhielt Ambros einen unerwarteten Besuch. Es herrschte ein nasses, rauhes Wetter, bei dem niemand gern aus dem Hause ging. In dem großen Ofen knisterte und prasselte ein tüchtiges Feuer. Stasi spann. Der wiedergenesene Ohm saß in einem bequemen Stuhl, den Ambros für ihn angeschafft hatte, und Ambros erzählte von dem, dessen sein Herz voll war: von Hofer. Der trübe Tag erinnerte ihn an die Feierlichkeit in der Franziskanerkirche zu Innsbruck, wo der vor dem Hochaltar kniende Sandwirt die Gnadenkette des Kaisers empfangen hatte. Da trat Planatscher aus Prags in die Stube. Wie ungern auch Ambros jetzt an sein Leben unter den Schmugglern zurückdachte – sein Willkommen ließ es seinen Kameraden aus jenen Tagen nicht entgelten. Er nötigte ihn auf die wärmste Stelle der Ofenbank, und Stasi beeilte sich, eine Jause aufzutragen, sobald sie den Namen des Gastes erfahren hatte. Denn die Namen aller, die sich ihrem Manne freundlich und hilfreich erwiesen hatten, standen lebendig in ihrem Herzen.
Planatscher schien einer Stärkung auch sehr zu bedürfen. Er sah übel aus und ließ sich sichtlich ermüdet auf der Bank an dem warmen Ofen nieder. Da er gerade des Weges gekommen sei, habe er sehen wollen, wie es Ambros gehe, äußerte er. Es wisse ja heutzutage keiner von seinem besten Freunde, ob er noch lebe oder irgendwo ohne Sang und Klang eingescharrt worden sei.
»Des Wegs kommst du?« fragte Ambros. »Das ist weit! Du mußt dich doch nit etwa auch vor den Franzosen verstecken?«
Planatscher verneinte. Sie hätten auch im Pragser Tal wieder zu den Waffen greifen wollen, aber ihr Pfarrer habe abgemahnt: es könne nichts mehr helfen. – Er strich sich mit der Hand über das rundgeschnittene Haar und fuhr fort: »Meine Frau ist zufrieden, seitdem der Hofer uns hat zusammengeben lassen. Wie wir dazumaln von ihm Abschied genommen haben, da hat er die Martha beiseit gezogen und hat ihr Geld gegeben, daß wir wieder eine Kuh haben kaufen können. Das ist sein Hochzeitsgeschenk gewesen. Ja, und wie ich gehört hab, daß er von den Franzosen ist nach Mantua gebracht worden, da hat's mich nit länger zu Haus gelitten. Noch einmal hab ich ihn sehn wolln.«
»Du kommst aus Mantua?« fragte Ambros mit stockendem Herzschlag. »Du hast ihn gesehn?«
Der Gast bejahte mit trauriger Miene. Kaum hörbar setzte er hinzu: »Auf seinem letzten Gang.«
Ambros ließ tief atmend den Kopf in die aufgestützten Hände fallen. Stasi weinte, und David klagte: »Ach, welche Welt ist das!«
Nach einer Weile fuhr Planatscher mit gedrückter Stimme fort: »Zuerst hat's geheißen, daß das Kriegsgericht ihn freigesprochen hätt oder daß es nit einig geworden wär im Urteil. Aber das hat der Napoleon nit angenommen, und eines Tage gegen Abend, da ist ein Kurier durch die Stadt gejagt gekommen und über den Mühlendamm, der über das Wasser nach der Festung führt, und am nächsten Morgen da hab auch ich und etliche, die wir immer vor den Toren gelegen sind, in die Festung dürfen. Da haben wir viele Landsleut, die kriegsgefangen warn, bei den Kasematten gefunden. Einige waren noch krank an ihren Wunden, und andre waren zu Krüppeln geschossen. Wir haben einander kaum ansehn mögen vor Herzeleid. Plötzlich ist so ein dumpfer Trommelschlag von der Zitadelle heruntergekommen; das sind die Grenadiere gewesen, und zwischen ihnen ist der Hofer gegangen und neben ihm ein Priester mit dem Kreuz. Der Hofer ist so ruhig und frei dahergeschritten. Ernst ist er freilich gewesen, aber ich hab kaum noch was sehn können vor dem Wasser in meinen Augen. – Die Soldaten haben's zugelassen, daß er hat stehenbleiben und etlichen hat die Hand reichen dürfen. Wir haben aber kein Wort reden können vor Schmerz und Schluchzen. Er hat mich erkannt und hat mir die Hand gereicht, und ein Lächeln ist auf seinem Gesicht gewesen. – Nachher hat er gesagt: ›Behüt euch Gott, ihr lieben Landsleut! Das Sterben kommt mir so leicht an, daß mir nit mal die Augen naß werden‹ – Auf die Bastion bei der Porta Ceresa haben sie ihn geführt. Die Augen hat er sich nit verbinden lassen, auch nit niedergekniet ist er und hat selbst ›Feuer!‹ kommandiert und sie sollten gut schießen. – Aber sie haben schlecht geschossen. – Nachher ist er ausgestellt worden in der Kapellen, wie's Brauch ist in Italien. – In dem Pfarrgärtlein der Zitadelle ist er begraben.«
Die tiefe innere Bewegung hatte seine Stimme immer dumpfer gemacht, und nur in abgerissenen Sätzen hatte er zuletzt noch erzählen können. Stasi hatte sich schluchzend an Ambros gelehnt.
»Sie haben ihn nit gerichtet, sie haben ihn gemordet!« rief Ambros, wobei seine breite Brust sich dehnte »Verflucht sei der schändliche Verräter!«
»Dazu sag ich amen!« ermannte sich Planatscher. »Ich versteh's nit, wie er in Tirol noch weiterleben will. Wo ich hingekommen bin, ist der Raff! verwünscht worden. Der Orespo würd wieder über uns spotten, daß keiner den Verrat an ihm rächt; jetzt mein ich doch, das ist die schrecklichste Vergeltung, daß er fortleben muß, verachtet und verabscheut von jedem wie ein Kain oder Judas.«
Gemordet durch einen Machtspruch des Gewalthabers! – so raunte es erbittert durch alle Hütten und Häuser, durch Dörfer und Städte. »Ein Opfer der Furcht des Tyrannen« nannte der Landrichter den Getöteten und fügte hinzu: »Mich soll's wundern, ob sich der blutige Sandwirt nit dem Korsen beim Hochzeitsmahl gegenübersetzen wird wie Banquos Geist dem Macbeth!« Banquos Geist – In Shakespeares Tragödie »Macbeth« erscheint der Geist des königlichen Heerführers Banquo, den Macbeth zur Ausführung seiner ehrgeizigen Absichten ermorden ließ, an der Festtafel und setzt sich auf den Platz des Mörders, der dadurch zu Tode erschreckt und unsicher wird.
»Welch unheimliche Idee!« rief seine Frau schaudernd.
Als der Vikar den ersten Gottesdienst abhielt, erschien auch der ehemalige Klosterbauer mit Lisei, Ambros und Stasi. Nun konnte der Alte innewerden, daß es schönere Ehren gibt als diejenigen, die Hab und Gut verleihen. Mit welcher Teilnahme, welch herzlichen Glückwünschen, welchen Beweisen der Zuneigung und Achtung wurden er und die Seinen von den Leuten überhäuft! Es war ein anderer Stolz, mit dem er jetzt den Kopf erheben durfte, und wenn es in seinen Mundwinkeln zuckte, war es kein Hochmut. Er dachte daran, daß er so alt hatte werden müssen, um das Glück kennenzulernen, geliebt zu werden und zu lieben.
Um so mehr bemühte er sich nun, dieses Glück für den Rest seines Lebens zu genießen. Stasi wurde bald sein Liebling. Sie mußte mit Ambros alle Sonntage auf der Mühle zubringen, und das waren die schönsten Tage für den ehemaligen Klosterbauern. Dabei wurde denn auch oft des abwesenden Hannes gedacht, über dessen Schicksal man noch immer in Sorge war.
Endlich kam auch von ihm Nachricht in Gestalt eines Briefes an den Vater. Er befand sich in Locarno, am Lago Maggiore, wo es ihm dank seiner botanischen Kenntnisse schließlich gelungen war, in einer Apotheke Beschäftigung zu finden.
Ambros und Stasi wurden nach der Mühle gerufen, um den Brief vorlesen zu hören; desgleichen kam Frau Carlotta die sich, in der Hoffnung auf Hannes' Rückkehr und um sich nicht von Stasi zu trennen, gern bereit erklärt hatte, auf der Pfarre zu bleiben und dem Herrn Vikar die Wirtschaft zu führen. Der Klosterbauer übernahm das Vorlesen, und mit angehaltenem Atem lauschten seine Zuhörer den vielfältigen Abenteuern und Gefahren, die der Flüchtling zu bestehen gehabt, ehe er unter Not und Entbehrungen das Asyl erreicht hatte. Eine Nachschrift bat darum, daß Frau Carlotta seine zurückgelassenen Herbarien doch ja recht sorgfältig aufbewahren möge, und zum Schluß folgten die unterstrichenen Worte: »Grüßt den Herrn Landrichter von mir aus dem Vaterlande des Tell. Er wird mich verstehen.« »O santa Crusch!« rief Frau Carlotta betroffen. »Mit der Pflanzensammlung haben die Franzosen ihren argen Spaß getrieben. Zu allen Fenstern haben sie sie hinausgeschmissen, und was der Wind nit verweht hat, das ist im Schmutz verdorben. Ich hab nur wenig wieder zusammenlesen können.«
Die Kräuter wüchsen ja noch ringsherum auf allen Bergen, und Hannes könnte sie daher wieder frisch pflücken, meinte der Klosterbauer tröstend.
Lisei lächelte wehmütig und verhielt sich still, während die anderen den Brief besprachen. Die Äußerung ihres Vaters erregte in ihr einen Gedanken, den sie fortspann. Die Liebe blühte fort und fort wie die Pflanzen auf den Bergen; die ihre aber war zerstört, und sie konnte keine frische dafür pflücken. Sie lag nur noch als Erinnerung zwischen den Blättern ihres Herzens.
Die Erinnerung war kein Unrecht mehr, seit der Tod sie von Jerg befreit hatte. Es bedurfte der Zeit, bis ihr von der Ehe mit Jerg wundgedrücktes Gemüt sich erhob, und mit ihm zugleich erhob sich der Gedanke an Wolf, den sie bisher von sich abgewehrt hatte. Sein Name kam nie über ihre Lippen. Sie gedachte seiner wie eines geliebten Toten, und die Liebe zu ihm, die ihr ganzes Wesen mit einer milden Wärme erfüllte, kam nicht allein den Ihren zugute. Viele Familien hatten ihre Ernährer verloren, die entweder gefallen waren oder noch in der Kriegsgefangenschaft schmachteten; andere waren durch ihre Verwundungen arbeitsunfähig geworden oder durch den Franzoseneinbruch in das Tal um Hab und Gut gekommen. Überall gab es zu trösten und zu helfen, und Lisei, die durch den Tod Jergs eine wohlhabende Frau geworden war, half und tröstete, soviel sie konnte. Sie folgte dabei nicht nur dem Zuge ihres guten Herzens, sondern es war zugleich eine Art von Sühne, die sie vollzog. Es trieb sie, soviel sie vermochte, die Wunden zu heilen, die die Landsleute Wolfs ihrem Lande geschlagen hatten.
Wie auf Fledermausflügeln schwebte die Zeit dahin. Der Klosterbauer studierte nicht mehr in seinen Schuld- und Hypothekenscheinen, sondern war von früh bis spät in der Schneidemühle seiner Tochter tätig. Er wollte nicht mehr von den Leuten als Klosterbauer angeredet werden. Klosterbauer, sagte er, sei der junge Eckschlager, und man müsse es ihm lassen, daß er den Hof gut bewirtschafte. Er heiße Falkner und habe wohl Ursache, auf diesen Namen stolz zu sein. Auch fürchtete er nicht dessen Aussterben, denn ein kräftigeres Bübchen als den Enkel, den er eines Tages aus der Taufe hob, konnte es nicht geben. Ein echter Falkner wäre es, schmeichelte Vefa. Nun, ein echter Falkner war auch der Großvater geblieben, obgleich sein Sinn gegen die Seinen mild geworden war. Scharf und bestimmt in Handel und Wandel zeigte er sich nach wie vor, und er war nicht wenig stolz darauf, daß die Sägemühle einen beachtlichen Aufschwung nahm. – »Ja, ja, an was ein Falkner die Hand legt, das muß vorwärts!« pflegte er hin und wieder zu sagen.
Auch Ambros war auf seinem Hofe fleißig. Er mußte hart schaffen; denn der Ohm war seit seiner Krankheit kaum noch arbeitsfähig. Aber er ließ es sich gern sauer werden – floß doch sein Schweiß für Stasi und die Zukunft, für die Zukunft, die ihm von den Armen Stasis entgegenlachte, wenn er müde vom Felde heimkam. Nun war der alte Ohm, der sich nicht mehr über die Rücksichtslosigkeiten seines Neffen zu beklagen brauchte, doch wieder recht nütze. Eine geduldigere Kinderfrau als ihn konnten sich die Eltern nicht wünschen, und der Alte hatte an dem Büblein wieder einen Despoten.
Dennoch war es, als ob über Ambros' Glück ein leichter Flor läge. Das war der Gedanke an das Vaterland. Wenn er einmal mit seinen früheren Waffengefährten im »Stern« saß, dann sprachen sie von Tirol und von Hofer und tranken auf das Gedächtnis derer, die für das Vaterland gelitten und ihr Leben hingegeben hatten. Sollte es für sie keinen Ostermorgen geben? Die Hoffnung darauf mochte wohl das Gerücht erzeugt haben, von dem Meister Hartwanger eines Tages flüsternd berichtete: Hofer sei gar nicht von den Franzosen erschossen worden, sondern halte sich im Ausland verborgen und würde wiederkommen, wenn es Zeit wäre, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. So habe er auf seinen Wanderungen die Leute erzählen hören. Das Gerücht fand auch im Enneberger Tal allgemein Glauben und erwärmte die Herzen.
Wenn sich die Leute in den Heimgärten Heimgarten (heimgarten gehen) – Plauderei sonst vom Orco und von den Gannes, dem Rübezahl und den Gnomen des Vigiltals erzählt hatten, so wurden jetzt beim Surren der Spinnräder Geschichten von der Rettung und Wiederkehr des bärtigen Andrä und seiner treuen Gefährten erzählt. Ebenso hatten die Ahnen, als das Kreuz im Tale die Herrschaft angetreten, von der Rückkehr ihrer verborgenen Götter erzählt und auf sie gehofft.
Es fehlte auch nicht an Anzeichen für eine baldige Erfüllung ihrer Wünsche, besonders als jetzt ein Winter von solcher Strenge kam, wie ihn noch niemand erlebt hatte. Die Vögel fielen tot aus der Luft, und das Wild kam am hellichten Tage aus dem Bannwald und von den Bergen zu den Wohnungen der Menschen, um seinen Hunger an den Abfällen und dem ihm hingestreuten Futter zu stillen. Der Schnee war steinhart gefroren, so daß ihn die armen Tiere nicht wegzuscharren vermochten. Die Fichtenstämme in der Bruscia barsten nachts mit lauten Knallen gleich Kanonenschüssen. Es war wie ein Schießen in der Schlacht anzuhören, und die Geisterschlacht verkündete die Freiheitsschlacht.
Da kamen eines Tages zwei Wanderer das Tal herauf. Der eine trug einen verschlissenen bayrischen Soldatenmantel, der andere einen zerlumpten Bauernmantel, und ein hageres, wachsgelbes Gesicht mit schwarzen Augen und einem schwarzen Schnurrbart schaute unter dem wollenen Frauentuch hervor, das ihm als Kopfbedeckung diente. Mühsam schleppte er sich an einem Stock weiter, und dann und wann griff ihm sein rüstigerer Kamerad hilfreich unter den Arm. So kamen sie zum »Stern«, und es war Mutschleitner nicht zu verargen, daß er die Gäste, die ihn um ein Nachtlager baten, mit Mißtrauen betrachtete. »Zahln können wir beide freilich nit«, sagte der im Soldatenmantel, der den Sprecher machte, »aber Ihr werdet zwei Landsleut nit unter freiem Himmel erfriern lassen. Ich hatt gehofft, meine Schwester im Ort zu finden, aber ich hab schon in Palfrad gehört, daß sie nit mehr hier ist und daß ihr Mann tot ist. Ich bin der Schwager vom Arigaya, der Vigo, den die Bayern unter die Soldaten gesteckt haben. Hab in Spanien fechten müssen, und jetzt kommen wir beide aus Rußland.«
»Heilige Mutter Gottes, aus Rußland!« riefen Frau Mutschleitner und Moideli, die dazugekommen waren, wie aus einem Munde.
»Ja, von dem ungeheuern Kirchhof«, erwiderte Afras Bruder. »Aber helft mir meinen Kameraden in ein Bett bringen; derweilen erzähl ich euch, wer er ist.«
Er rief das Mitleid Mutschleitners und der Frauen nicht vergebens an, und nachdem sein völlig erschöpfter Leidensgefährte zur Ruhe gebracht worden war, warf sich Frau Mutschleitner ein Tuch um die Schultern und lief nach der Pfarre. Der Unglückliche war der seit langem verschollene Sohn der Frau Carlotta Tyfona.
Die stille Hoffnung der Bona Uschina war nun zwar erfüllt, doch mußte sie sich bald gestehen, daß sich der Verlorene nimmermehr erholen würde. Zu Schreckliches hatte er auf dem Rückzuge aus Rußland erdulden müssen, als daß selbst die sorgsamste Pflege der Mutter dem erschöpften Organismus frische Kräfte hätte einflößen können. Er war der Mutter nur wiedergegeben, um in ihren Armen zu sterben.
Trug nicht jeder Soldat Napoleons in seinem Tornister den Marschallstab, und war nicht ein Müllerbursche wirklich Feldmarschall geworden? war nicht ein Müllerbursche wirklich Marschall geworden – Der berühmte französische Marschall Lefebvre (s. Anm. 122) war der Sohn eines elsässischen Müllers. Das war es, was auch ihn verlockt hatte, die Nadel mit dem Bajonett zu vertauschen, ohne allerdings daran zu denken, daß er in die Lage kommen könnte, seine Waffen gegen das eigene Vaterland und die eigenen Landsleute kehren zu müssen. Und es war nicht Lieblosigkeit gewesen, wenn er all die Jahre hindurch nichts von sich hatte hören lassen; auf seinem Sterbebette vergalt er seiner Ummella, seiner kleinen Mutter, wie er sie zu nennen pflegte, ihre Zärtlichkeit mit voller Herzenswärme. Nein, er hatte immer daran gedacht, wie freudig sie überrascht sein würde, wenn er eines Tages mindestens als General nach St. Martin käme, um sie für den Rest ihres Lebens zu sich in seinen Palast zu nehmen. Und er hatte es auch wirklich bis zum Korporal und zu dem Kreuz der Ehrenlegion gebracht. Aber das Kreuz und die ersparten Beutegelder in seinem Tornister waren den Kosaken in die Hände gefallen.
Der Zufall hatte ihn auf der Flucht aus den russischen Eissteppen mit Vigo zusammengeführt, und ihm hatte er es zu verdanken, daß sein letzter Wunsch erfüllt wurde und er noch einmal seine kleine Mutter wiedersah.
Während diese, von Freude und Schmerz überwältigt, den Sohn in ihre Arme schloß, erzählte Vigo, nachdem er sich erwärmt und durch Speise und Trank gestärkt hatte, unten in der Schenkstube dem Wirt und seinen Gästen, von denen die Neugierde immer mehr herbeilockte, von der furchtbaren Vergeltung, die den stolzen Alexanderzug Alexanderzug – Gemeint ist hier vergleichsweise der Eroberungszug Alexanders des Großen, des Königs von Makedonien (356-323 v. u. Z.), nach Babylon. Napoleons in Rußland ereilt und sein ungeheures, aus allen Völkerschaften des Festlandes zusammengewürfeltes Heer vernichtet hatte.
Die Tage der Schmach waren vorüber, und eines Tages brachte Mutschleitner aus Bruneck ein neues Lied mit. Hei, wie brauste da zu den Klängen der Zither der Männerchor:
»Das Volk steht auf, der Sturm bricht los:
Wer legt noch die Hände feig in den Schoß?
Pfui über dich Buben hinter dem Ofen,
Unter den Schranzen und unter den Zofen!
Bist doch ein ehrlos erbärmlicher Wicht;
Ein deutsches Mädchen küßt dich nicht,
Ein deutsches Lied erfreut dich nicht,
Und deutscher Wein erquickt dich nicht
Stoßt mit an,
Mann für Mann,
Wer den Flamberg
Flamberg – Name der am Anfang des 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden aufgekommenen langen Schlagschwerter mit wellenförmig geflammter Klinge, die besonders den Landsknechten als Waffe dienten. Von Dichtern, so hier von Körner, wurde der Name gern für Schwert überhaupt gebraucht. schwingen kann«
Das Volk steht auf – erste Strophe des Liedes »Männer und Buben« aus der während des Befreiungskrieges entstandenen Gedichtsammlung »Leier und Schwert« von Theodor Körner (1791-1813), in der sich auch ein Gedicht auf Andreas Hofers Tod findet.
Da schloß Ambros sein Weib in die Arme und sagte: »Herzliebster Schatz, jetzt muß ich Abschied nehmen. Der Hofer ruft!«
Stasi blickte ihn mit ihren braunen Augen erschrocken an und klagte: »Du willst wieder in den Krieg? Willst mich und die Kinder verlassen?«
»Fürs Vaterland muß ich in den Kampf ziehn«, entgegnete er mit sanftem Ernst. »Der ewige Ruhstörer muß vom Thron herunter!«
Stasi klagte nicht länger; sie unterdrückte ihren Schmerz, und er küßte sie, seinen Buben und das Kleine, das noch an der Mutter Brust lag, mit zärtlicher Liebe, nahm seinen Stutzen von der Wand und zog davon.
Herr Zengerl las fleißiger denn je die Zeitungen, und in dem Herrenstübl wurde lebhaft politisiert. Der Vikar mußte oft Öl auf die hochgehenden Wogen gießen. Er war ein allseitig vermittelnder Herr, der zwischen Tür und Angel stand und den Korsen erst endgültig fallenließ, als auch Bayern auf die Seite Deutschlands trat.
Für Lisei waren es immer schöne Augenblicke, wenn sie vom Vater die jüngsten Ereignisse erfuhr. Er borgte sich die Zeitungen von dem Landrichter und las daheim seiner Tochter und Stasi die Siegesnachrichten und Kriegsberichte vor. Stasi sah das stille Glück aus den grauen Augen ihrer Schwägerin leuchten und küßte sie. Ihr nach innen gerichtetes Gemüt hatte Lisei längst durchschaut, und wenn Ambros gelegentlich geäußert, daß Lisei wohl wieder heiraten werde, denn an Freiern könne es ihr jetzt nicht fehlen, dann hatte sie ihn am Ohrläppchen gezupft und einen »ganz dummen Brosi« gescholten.
Frieden! Die siegreichen Heere zogen heimwärts.
Eines Tages hatte Lisei wieder einmal das Gamsmanndl besucht, das schon seit längerer Zeit an rheumatischen Schmerzen einsam und hilflos zu Bett lag. Sie sah oft nach ihm und erquickte sein altes Herz mit den Siegesnachrichten von den Verbündeten. Als sie jetzt von ihm kam und den Weg zur Laufbrücke einschlug, wurde sie von einem leichten Gefährt überholt. Sie trat beiseite, um es vorüber zu lassen. Auf dem Sitz hinter dem Kutscher saßen zwei Männer. Der eine trug die Offiziersuniform der österreichischen Scharfschützen, der andere einen bürgerlichen Anzug. Lisei blickte auf, und da zog es ihr wie ein Nebel vor die Augen.
Aber schon war der Offizier aus dem haltenden Wagen gesprungen und drückte sie an seine Brust, küßte sie und lachte: »Freilich bin ich der Ambros! – Aber hier ist noch ein Bekannter – ein Kriegskamerad. Schau ihn dir nur recht an, Lisei!« Wieder lachte er.
Lisei hatte nicht nötig, seinen Begleiter noch anzuschauen, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. Sie hatte ihn eher erkannt als den Bruder, und der Sturm in ihrem Herzen hatte sie stumm gemacht bei dessen Begrüßung. Jetzt wandte sie sich mit glühenden Wangen jenem Manne zu. Sie konnte nicht sprechen, und auch er konnte es nicht. Aber sie blickten sich in die Augen, stumm und zagend, und im nächsten Augenblick streckten sie sich die Hände entgegen, lagen einander in den Armen, und Lisei weinte laut auf.
Ambros strich sich den Schnurrbart in die Höhe, unter dem es leise zuckte. Dann rief er: »Kinder, ich fahr heim. Auf der Mühl sehn wir uns wieder!« Er sprang in den Wagen und eilte fort. Doch hinter der Spitzhörndlbrücke ließ er den Kutscher allein weiterfahren und stürmte den Pfad zu seinem Gehöft hinauf.
Schon vor der Tür rief er: »Stasi, Stasi, wo steckst du? Den Leutnant Ambros ist da!«
Seinem Ruf folgte ein Aufschrei. Schneller als die Mutter war das Büblein, das Ambros geradewegs in die Arme stürzte. Mit einem Jauchzer schwang er es in die Luft. Dadurch hatte er allerdings nur einen Arm frei, um die glückliche Stasi unter zahllosen Küssen an sich zu pressen und festzuhalten.
Auf dem Arm den kleinen Sepp – denn so hieß der Knabe nach dem Großvater –, seine Stasi an der Hand, so trat er in die Stube, wo der Ohm David das Schwesterchen Sepps auf den Knien schaukelte. Stasi nahm es ihm ab und sagte freudestrahlend: »Schau, Lisei, das ist der Papa!« Klein Lisei versteckte ihr Köpfchen an der Wange der Mutter, lugte dann hervor und streckte die Ärmchen nach Ambros aus. Aber das kleine Ding verlangte nicht, vom Vater auf den Arm genommen zu werden, sondern griff mit den zierlichen Händchen nach der silbernen Tapferkeitsmedaille, die seine Brust schmückte. Dem Buben, den Ambros inzwischen wieder auf die Erde gesetzt hatte, stach dessen Säbel gewaltig in die Augen. Er hielt die blinkende Scheide umfaßt und ließ sie nicht wieder los.
»Mit dem Fechten ist's für alle Zeit zu End«, sagte Ambros, nachdem er den Ohm begrüßt hatte, und legte seine Hand auf Sepps Flachskopf. »Jetzt sind wir wieder österreichisch. – Aber mach dich sauber, Frau Leutnant Falkner, wir müssen zum Vater auf die Mühl. Hab dort schon Quartier für uns bestelln lassen durch einen alten Bekannten. Rat, wer's ist!«
»Sag's schon!« bat Stasi, während sie sich zum Ausgang fertigmachte. »Wie soll ich jetzt raten? Ich weiß doch gar nit, wo mir der Kopf steht!«
Der Ohm, auf dessen Gesicht ein Glanz lag, stieß einen Ton aus, wie ihn Ambros noch nie von ihm gehört hatte. Er lachte.
»Am Rhein hab ich ihn getroffen, wie wir den Polion rübergejagt haben«, antwortete Ambros und schaukelte sein Töchterchen auf den Armen. »Wie der Bayer dem die Freundschaft aufgekündigt hat, hat er seinen Schmiedhammer in den Winkel geworfen und ist auch Soldat geworden.«
»Der Wolf Lechner?« rief Stasi froh, doch noch zweifelnd, und als Ambros bestätigend nickte, sagte sie leise, während ihr ganzes Gesicht vor Freude erglühte: »Ach, du lieber Gott!«
»Er hat aber nit in der bayrischen Uniform ins Land kommen mögen«, nahm Ambros wieder das Wort, »und darum haben wir unsern Weg über Garmisch genommen. Er hat dort ein hübsches Haus mit einem großen Obstgarten, auch ein Stück Land, und Berge gibt's auch ringsherum. Als wir die Bayern das erstemal aus Innsbruck hinausgeschmissen haben, da ist er heimgewandert und hat in der Schmied in Garmisch anfangs als Gesell gearbeitet, bis der Meister, der sich hat zur Ruh setzen wolln und nachher zu seiner verheirateten Tochter nach Murnau gezogen ist, ihm sein ganzes Anwesen übergeben hat. Und jetzt steht er mit der Lisei auf der Landstraß bei Monthan.«
Dort standen die beiden jedoch längst nicht mehr. Langsam waren sie Hand in Hand über die Laufbrücke nach der Schneidemühle gewandert, sehr langsam, immer wieder stehenbleibend und einander mit tiefen Blicken der Liebe in die Augen schauend.
In der Waldecke sprachen sie sich über das Wichtigste aus. Hätte sie ihm schreiben sollen, daß Jerg tot war? Nein, und er hatte auch nicht erwartet, daß sie es tun würde. Pescol, der Schmied, hatte es gelegentlich, als er Geld geschickt, einfließen lassen, daß Jerg erschossen worden sei. Aber wie hätte er, der Bayer Lechner, hoffen dürfen, sie zu einer Zeit heimzuführen, da Tirol aus unzähligen Wunden blutete, die seine Landsleute ihm geschlagen hatten, da jeder, der sein Vaterland liebte, die Bayern verfluchte?
»Hast du geglaubt, daß ich dem gerechten Haß der Deinigen Trotz bieten würd, und wärst du mir gefolgt?« fragte er, und sie schüttelte leise den Kopf. »Und jetzt, wo wir einander wiederhaben in alter Lieb«, fuhr er fort, indem er sie an seine mächtige Brust zog, »jetzt, wo's verwunden ist, da will ich's dir nur gestehn: Es hat mich mehr als geschmerzt, daß du mir hast entsagen können. Ich hab's mir erst alles zurechtlegen müssen. Und schau, ich hab's nimmer glauben können, du goldnes Herz, daß dein Opfer viel nützen würd. Ich weiß von deinem Bruder Ambros alles, und da hab ich zuweilen, wann ich nachts auf Posten vor dem Feind stand, denken müssen, daß es dir ergangen ist wie deinem Vaterland. Deine Aufopferung ist auch nit ästimiert worden von denen, für die du alles hingegeben hast, und es hat erst Grausiges geschehn müssen, bis du ans Ziel gelangt bist.«
»Es hat doch genützt«, lächelte Lisei mit einem Erröten, und er küßte sie. Hand in Hand traten sie zu dem Klosterbauern in die Stube.
Der Alte war nicht wenig erstaunt; aber seine Verblüffung währte nur einen Augenblick. Dann reichte er Wolf die Hand und sagte: »Ich hab längst gemeint, daß du dir die Lisei holn würdst; hab aber zu ihr nit davon reden mögen, weil ich nix dazu tun konnt. Laß es zwischen uns gleich sein!«
»Es ist gleich«, erwiderte Wolf und schüttelte die dargebotene Hand. Endlich fanden sich auch Ambros und Stasi ein. Sie waren unterwegs fortwährend aufgehalten worden. Überall waren die Leute aus den Häusern gekommen, um Ambros zu begrüßen, und er hatte ihnen immer wieder Rede stehen müssen.
»Hab auch einen Gruß an sie alle und an ganz Tirol auszurichten gehabt«, erzählte er, während Lisei und Stasi einander innig umarmten und auch Wolf seine künftige Schwägerin küßte. »Den Gruß, den hat mir der Speckbacher aufgetragen. Ja, der ist mein Major gewesen, und in seinem Bataillon hab ich gestanden. Da mögt ihr euch wohl vorstelln, wie wir Scharfschützen unter ihm draufgegangen sind und dem Franzos die Höll heiß gemacht haben, hurra!«
Am folgenden Morgen holte der Klosterbauer seine Papiere hervor und bewies Wolf daraus, daß er nun, da es wirklich Friede geworden, sehr gut imstande wäre, die Schneidemühle zu kaufen, vorausgesetzt, daß Wolf nicht Sägemüller werden wolle. Wolf dachte nicht daran, sich von seinem Amboß zu trennen, und Lisei war selbstverständlich mit allen Kaufbedingungen, die der Vater stellte, zufrieden.
Wolf reiste nach einigen glücklichen Tagen wieder nach Garmisch, um sein Haus auf den Empfang Liseis einzurichten.
Der Tag, an dem beide vor dem Altar standen, war ein denkwürdiges Datum, denn an ihm feierte ganz Tirol das Friedensfest. Hannes, der inzwischen aus der Verbannung zurückgekehrt und wieder in seine Pfarre eingesetzt war, vollzog die Trauung, der die ganze Gemeinde mit herzlicher Teilnahme beiwohnte – gab es doch im Enneberger Tal kein weibliches Wesen, das allgemein so hoch geachtet wurde wie Lisei. Und was Wolf betraf, so dachte niemand mehr daran, daß er ein Bayer war, sondern erinnerte sich nur noch an seine Ehrenhaftigkeit. Alle hatten ihre Freude an den beiden stattlichen Menschen. Und mit welch anderen Empfindungen als einst den Bund seines Bruders mit Stasi segnete Hannes die Ehe Wolfs und Liseis!
Nach der Trauung wurde auf dem Kirchplatz eine Friedenslinde gepflanzt. Hannes hatte am Altar aus dem Herzen heraus von der Treue geredet, die nach schweren Prüfungen endlich ihren Lohn gefunden; jetzt brachte er denselben Gedanken mit begeisterten Worten auf das Vaterland in Anwendung.
Die Böller krachten in das Hoch auf Tirol, mit dem er seine Rede schloß, die Stutzen knallten, und weithin sandte die Glocke ihr Geläut durch das grüne, sonnige Tal.
Ein bescheidenes Mahl vereinigte die Hochzeitsgäste im »Stern«, und während hier mancher Trinkspruch auf die Neuvermählten ausgebracht wurde, begann auf dem Kirchplatz um die Linde der Tanz. Später beteiligten sich auch das junge Paar, und die Gäste daran.
Stasi faßte sich ein Herz und folgte Ambros, der zum letztenmal seine Offiziersuniform trug, in den Reigen, und siehe, es ging vortrefflich! Ihr liebliches Gesicht strahlte vor Glück. Das wiederhergestellte Gamsmanndl und der Ohm David sahen von der Bank an der Kirchhofsmauer aus zu, und auch auf den Gesichtern der beiden Alten lag ein Schimmer der allgemeinen Freude.
Nur Herr Zengerl blickte nachdenklich auf das muntere Treiben. Der Oberförster kam zu ihm und fragte, woran er denke.
Der Landrichter deutete auf die Linde und antwortete: »So viel Blut hat fließen müssen, um den Baum pflanzen zu können, und ich frag mich, ob in seinem Schatten auch die Saat aufgehn wird, die Deutschlands große Geister ausgestreut haben. Werden die Ideen der Freiheit und Humanität auch in unserm Volk Wurzel fassen und emporwachsen zum Licht?«
Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Da leuchtete auf dem Spitzhörndl ein Feuer auf, und wie von dem Spitzhörndl, so leuchteten zur selben Zeit die Freudenfeuer von allen Bergen Tirols.