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Die Messe in dem Kirchlein auf der Fronwiese von St. Lorenzen war zu Ende.
An der Stelle, wo das Kirchlein stand, war vor Jahren ein Christusbild gefunden worden, das bei dem frommen Tiroler Landvolk in einem besonderen Ansehen stand, seit Österreich nach langen, stets erneuerten Kämpfen zu Füßen Napoleons lag und Tirol durch den Frieden von Preßburg Friede von Preßburg – Nach der Schlacht bei Austerlitz (2. Dezember 1805), in der die verbündeten Russen und Österreicher geschlagen wurden, sah sich Kaiser Franz II. (1768-1835) gezwungen, auf die Bedingungen Napoleons einzugehen und am 26. Dezember 1805 den Frieden zu Preßburg zu unterzeichnen. Österreich mußte u. a. Venetien an Italien, Tirol und Vorarlberg an das unter Napoleons Botmäßigkeit stehende Bayern abtreten. in das neugeschaffene Königreich Bayern eingefügt worden war. Hatte der neue Herrscher auch alle geschlossenen Wallfahrten und Prozessionen verboten, so konnten seine Beamten doch nicht verhindern, daß an Sonn- und Feiertagen viele Leute aus dem Pustertal und den Nebentälern nach St. Lorenzen kamen, um in dem Kirchlein auf der Fronwiese die Messe zu hören.
Auch an diesem Sonntag des Jahres 1807 war die Menge sehr zahlreich, und während nach Beendigung der heiligen Handlung ein Teil den Weg nach dem nahen Bruneck einschlug, auf dessen hochthronendem Schloßturm das blauweiße Banner Bayerns in der klaren Sommerluft flatterte, bewegte sich ein anderer, größerer Teil über die Fronwiese nach dem Dorfe St. Lorenzen. Verstreut in der dunklen Masse bemerkte man manche hellblaue Soldatenjacke und manchen Tschako neben den breitkrempigen Spitzhüten. Die Träger jener blauen Jacken aber waren weit davon entfernt, die fromme Sammlung der Landleute zu teilen. Sie hatten sich nur eingefunden, um ihren Spaß zu haben, und die finsteren Mienen der Tiroler steigerten ihre Ausgelassenheit nur noch, statt sie zu dämpfen. Besonders hatten es die Soldaten auf die Frauen abgesehen, unter denen sich manch hübsches Gesichtchen fand, sowohl unter den kräftigen, blonden Töchtern des bajuvarischen Stammes, der im Pustertal selbst und in dessen nördlichen Abzweigungen seinen Sitz hatte, wie auch unter den bräunlichen, zierlichen Ladinerinnen Ladinerinnen – Ladiner; Bezeichnung der in Südtirol (im Enneberger und Grödner Tal sowie in einigen Nebentälern) wohnenden rätoromanischen Bevölkerung. Ihre Umgangssprache ist das Ladinische, ein Dialekt des Rätoromanischen. des Gader- und Vigiltales im Süden.
Dem vielfach mit deutschem Blut gemischten romanischen Stamm gehörte wohl das junge Mädchen an, das, achtlos dessen, was um sie her vorging, an der Seite eines schon ältlichen Mannes seinen Weg verfolgte. Es war ein liebliches, fast noch kindliches Gesicht, das der flache schwarze Hut mit seinem breiten Rand beschattete. Auf ihren runden Wangen waren noch die Spuren von Tränen erkennbar, und ihre braunen Augen leuchteten unter den langen Wimpern in frommer Verklärung. Ihr Anzug war ärmlich, aber das blaue Fürtuch Fürtuch – Schürze, Brusttuch über dem kurzen schwarzen Rock, dessen unzählige Falten um rote Strümpfe spielten, schien eben erst aus der Wäsche gekommen. Und die mit Zwirnspitzen besetzten Hemdärmel, die bis zu den Ellbogen reichten, waren zwar von grobem Leinen, doch weiß wie frisch gefallener Schnee. Das Mieder aus schillerndem Stoff schloß sich eng an den bräunlichen Hals an. Das schwarzbraune Haar war sorgfältig geglättet und zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die frei über den Rücken herabfielen. Die derbsohligen Schnürstiefelchen des Mädchens waren bestaubt. Sie trug einen verdeckten Korb am Arm, und ihre Hände waren über einem Rosenkranz verschlungen. Ihr Begleiter, dessen Haar bereits stark mit Grau gemischt war, hielt sich gebückt, als ob er die Sünden der ganzen Welt auf seinen breiten Schultern trüge, und sein Schritt war unsicher und schleppend. Sein rundliches Gesicht blühte von Gesundheit. Es war glatt rasiert und trug an der linken Wange und am Kinn die frischen Spuren des ungeschickt gehandhabten Schermessers. Eine fleischige Stumpfnase stand zwischen wasserblauen Augen, die apathisch vor sich hin dämmerten. Sein Schlapphut, seine Joppe und die kurzen Lederhosen waren ziemlich abgetragen. Auch er hielt in den braungebrannten Händen einen Rosenkranz.
Plötzlich schrie das Mädchen erschrocken auf. Ein Arm hatte ihren Leib umfaßt, und ein schnurrbärtiges Gesicht beugte sich zu dem ihren, um es zu küssen. Bevor der Zudringliche jedoch seine Absicht ausführen konnte, wurde er mit einem kräftigen Ruck zurückgerissen, und eine Stimme rief: »Lasset's gut sein, Herr Soldat! Für die Bayern sind unsere Gitschen Gitsche – junges Mädchen nit gewachsen.«
Der Soldat, seinem Rangabzeichen nach ein Korporal, wandte sich zornig um und fand sich einem jungen, kräftigen Burschen gegenüber, der ihn aus glänzend schwarzen Augen herausfordernd und zugleich geringschätzig betrachtete. Auch das Mädchen hatte sich nach dem Burschen umgedreht und starrte ihn mit halbgeöffnetem Mund fast bestürzt an. Ihr Begleiter ergriff sie am Arm und zog sie hastig mit sich fort durch die Menge, die sich um ihren Retter zu stauen begann. »Wie kann sich der Bauernlümmel unterstehen, mich anzurühren?« schnob der Korporal den Burschen an.
Dieser sah sich wie suchend nach allen Seiten um, wobei sein Auge eine Sekunde lang auf dem davoneilenden Mädchen haftete, und fragte dann gedehnt: »Hat der Herr Soldat etwa mit mir gered't?«
»Bombenelement, will der Tölpel mich foppen?« rief der Bayer, kirschrot vor Zorn. »Jetzt marsch, auf die Wache mit dir! Du sollst schon noch lernen, dich an des Königs Rock zu vergreifen!«
Ein Murren erhob sich unter den Zuschauern.
Der schwarzäugige Bursche aber machte keine Miene, dem Befehl nachzukommen; er steckte vielmehr beide Hände in seinen Leibgürtel und sagte: »Schau, wir Tiroler tragen unsere eigenen Röck. Wer die Hand nach unsern Gitschen ausstreckt, der greift in die Nesseln. Nach Lümmeln und Tölpeln mußt du dich bei dir daheim umsehen; bei uns gibt's keine. Das merk dir, und jetzt mach dich fort.«
»Fort mit ihm!« erscholl es ringsum.
Der Korporal rollte die Augen wild, und ungeschreckt durch die drohenden Gesichter, rief er, indem er die Hand nach dem Burschen ausstreckte: »Im Namen des Königs, du bist mein Arrestant!«
Eine Flamme schoß aus den schwarzen Augen des Burschen, und seine Faust traf den Korporal so gewaltig vor die Brust, daß er zurücktaumelte, wobei ihm der Tschako vom Kopfe fiel. Der Bursche war wie verwandelt; die schlanke Gestalt hoch aufgerichtet, mit blitzenden Augen, jeden Muskel gespannt, stand er da. Der Bayer griff nach seinem Seitengewehr. Gleichzeitig aber wurde er von den Fäusten der Nächststehenden gepackt, herumgewirbelt und fortgestoßen. Ein letzter Ruck schleuderte ihn aus dem Menschenknäuel weit auf die Wiese hinaus. Ein schallendes Gelächter begleitete seinen Fall, und ihm nach flog in hohem Bogen sein kübelartiger Tschako.
Das junge Mädchen, das die unschuldige Veranlassung des Streites gewesen, hatte mittlerweile St. Lorenzen erreicht, wo ihr Begleiter bei den ersten Häusern links in eine schmale Gasse einbog, die zur Brücke über die Rienz und in das offene Land führte, »Es ist besser, Stasi, wann wir uns gleich heimmachen«, meinte der Alte, nachdem er sich an der Ecke ängstlich umgesehen hatte.
Auch Stasi hatte sich umgeschaut, und hoch aufatmend sagte sie:
»Aber wir können langsamer gehen, Ohm. Es kommt uns keiner nach.«
»Ach, diese schrecklichen Soldaten!« seufzte der Alte, und als sie die Brücke überschritten hatten, fügte er hinzu: »Laß uns weiterbeten, Kind.«
Beide griffen zu ihren Rosenkränzen. Der Ohm, der die Füße nicht vom Boden heben zu können schien, schlurfte mitten auf der Landstraße, die sich in weitem Bogen allmählich aufwärts krümmte und sich an einzelnen Gehöften und kleinen Weilern vorüber, zuletzt an den Ruinen der Michaelsburg entlang in das Gader- oder Enneberger Tal hineinzog. Während der Alte ganz in seinen Rosenkranz vertieft war, schien seine Nichte, die, um den Staub, den der Ohm aufwirbelte, zu vermeiden, auf dem festeren Wegrand hinschritt, ihre Gedanken nicht zum Gebet sammeln zu können. Nur selten sonderten ihre Finger ein Kügelchen an der Schnur ab, und nach einer Weile fragte sie:
»Onkel David, ist er's denn wirklich gewesen?«
Dieser antwortete: »Ja, ich weiß nit; wen meinst du?«
»Den auf der Fronwiesen. War das der Ambros vom Klosterhof?«
»Ja freilich«, versetzte Onkel David. »Du mußt ihn doch kennen.«
»Was kümmern mich denn die Buben?« fragte sie mit einem Anflug von Verwunderung. »Ich hab noch nimmer nach ihnen ausgeschaut. Und gar nach dem vom Klosterhof!« setzte sie mit einem Erröten hinzu.
»Freilich, was kümmern dich die Buben, und gar der«, wiederholte der Alte. »Du kommst ja auch nirgend hin als in die Kirchen, wo er wohl nit oft zu finden ist.«
Stasi führte in der Tat ein sehr zurückgezogenes Leben, und dies war ihr erster Ausflug aus dem heimatlichen Vigiltal. Den Vater hatte sie schon vor mehreren Jahren verloren, und die Mutter war krank. Da hatte sie denn als einziges Kind hart zu schaffen. Die Freuden und Vergnügungen, die andere Mädchen ihres Alters genossen, kannte sie nur aus den Erzählungen ihrer Freundinnen, und diese seltenen Plauderstündchen brachten die einzige Abwechslung in ihr eintöniges Dasein, das ihr die Grämlichkeit der kranken Mutter wahrlich nicht erleichterte. Sie selbst besaß mehr den stillen Charakter des Vaters mit der Neigung zum Sinnen und Träumen, und so überkam sie denn oft, wenn sie mit einer Handarbeit bei der Mutter saß, eine tiefe Traurigkeit und Schwermut und ein Sehnen nach irgend etwas, was sie nicht zu nennen wußte.
David Fenchler, der Bruder ihrer Mutter, betete wieder mit halb-lauter, singender Stimme, da die Nichte auf seine letzte Äußerung still geblieben war.
Stasi hatte den hübschen Kopf auf die Brust sinken lassen, und ihre weich gewölbten Lippen zuckten mitunter ein wenig. Es beunruhigte sie, daß es gerade Ambros Falkner gewesen war, der sie gegen den zudringlichen Soldaten in Schutz genommen hatte. So hübsch er war, so übel war der Ruf, in dem er stand. Er galt für den gottlosesten und wildesten Burschen im ganzen Vigiltal. Ein Seufzer schwellte Stasis Brust, und sie griff zu ihrem Rosenkranz, um sich der Gedanken an den wilden Brosi, wie er genannt wurde, zu entschlagen; allein es wollte ihr nicht gelingen, und nach einer Weile sagte sie: »Es ist doch verwunderlich, Ohm, daß er dem Herrn Hannes so gar nit ähnlich ausschaut, und sie sind doch Brüder!«
Der Ohm richtete zwar seine öden wasserblauen Augen auf sie, aber er blieb die Antwort schuldig. Verführerischer als die Worte seiner Nichte war in sein Ohr das Plätschern eines Quells gedrungen, der im Schatten einiger Kirschbäume aus einem gemauerten Bildstock Bildstock – die einfachste Form der in katholischen Gegenden meist auf Hügeln, an großen Heerstraßen und Kreuzwegen aufgestellten Betsäulen, die Wanderern zur Verrichtung der Andacht dienen. Der Bildstock besteht aus einem freistehenden hölzernen Pfeiler mit einem Weihwasserbecken und einer Nische, in der ein Kruzifix oder Heiligenbild angebracht ist. rieselte. Zu ihm lenkte er seine Schritte.
Nachdem er aus der Röhre getrunken, sagte er: »Laß mich ein bissl verschnaufen, hier ist gut sein.«
Er ließ sich in dem dürftigen Schatten auf einem roh zum Sitz behauenen Stein nieder, und während er ausruhte, wendete Stasi ihre Blicke über die Felder und verstreuten Gehöfte auf das Tal zurück. Der Knopf des Kirchturms von St. Lorenzen, der schlank zwischen den weißen Häusern aufstieg, glitzerte in der Sonne, und die Leidensstationen, Leidensstationen – bildliche Darstellungen der 14 Abschnitte des Leidensweges Jesu, die für die katholische Andacht meist auf bergan führenden Wegen aufgestellt sind. die sich von der Kirche bis zur Kapelle hinzogen, schimmerten wie Perlen auf dem grünen Grunde der Fronwiese, die jetzt völlig verlassen dalag. Links von dem Dorf, wo die vorstrebenden Berge das Pustertal verengten, erhoben sich auf steil abfallendem Schieferfels, an dem die Rienz aufblitzend vorüberglitt, die weitläufigen, zum Teil bereits verfallenen Gebäude des ehemaligen Klosters Sonnenburg. Rechts, im Nordosten, schwebte eine weißliche Wolke über den bewaldeten Bergen, die das Städtchen Bruneck mit seinem Schloß, das einst die Sommerresidenz der Bischöfe von Brixen gewesen, dem Auge entzogen. Es waren die Schneefelder und Gletscher des Rieserferners. Sonntägliche Stille ruhte auf der freundlichen Landschaft, und der würzige Geruch von frischem Heu erfüllte die flimmernde Luft.
»Was er für glanzige Augen hat«, kam es unbewußt über die Lippen des Mädchens.
»Meinst du den Ambros?« fragte der Ohm und trieb damit der erschrockenen Stasi das Blut in die Stirn. »Freilich, der hat so rechte, echte Teufelsaugen.«
»Komm, Ohm«, rief Stasi hastig. »Es ist Zeit, daß wir weitergehen.« Sie wartete auch nicht, bis der Alte aufgestanden war, sondern setzte sich gleich in Bewegung.
Onkel David hatte einige Mühe, sie einzuholen; dann mahnte sie dauernd zur Eile. Damit erreichte sie jedoch nichts, und sie mußte ihren Schritt mäßigen.
»Ja, ich weiß nit«, spann er den Gedanken weiter, den ihre vorherige Äußerung in ihm angeregt hatte, »wir hatten in unserm Refektorium Refektorium – der gemeinschaftliche Speisesaal in Klöstern. ein Bild Das stellte die Versuchung des Heilands dar, wie ihm der Teufel alle Herrlichkeiten der Welt weist. Der hatt just solche große schwarze Feueraugen.«
»Ach, Onkel David, ich mein, der Soldat«, stotterte seine Nichte. »Freilich, wo die hinkommen!« sagte er. »Ach ja, ach ja! Und wir sollten bei dem Bild immer daran denken, daß wir unsre unsterbliche Seel nit in Gefahr bringen durch Schlemmen in Essen, und Trinken. Du lieber Gott, es gab Fastentag genug. Zuweilen aber hatten wir's gar gut!« Er wiegte seinen dicken Kopf, seufzte und versank in Erinnerungen an sein Klosterleben, dem die Einverleibung Tirols in Bayern ein Ende gemacht hatte. Er hatte dem Orden der Kapuziner angehört, und die braune Kutte schien ihm noch immer beim Gehen um die Beine zu schlenkern.
Sie schritten am Fuß der Höhe hin, auf der die aus verschiedenen Jahrhunderten stammende Michaelsburg thronte. Es mußte einst ein großer, wuchtiger Bau gewesen sein; gegenwärtig waren die Gebäude und Ringmauern, von denen mehrere hintereinander aufstiegen, mit Ausnahme eines viereckigen Turmes nur noch Ruinen und Trümmer. »Grüß Gott!« rief eine frische Stimme hinter Onkel und Nichte.
Stasi widmete sich eifrig ihrem Rosenkranz; ihre Finger aber zitterten. Sie hatte die Stimme sofort erkannt, obgleich sie sie erst einmal in ihrem Leben gehört hatte. Es war jedoch für sie nicht schwer, die Stimme wiederzuerkennen, denn während David neben dem Brunnen ausruhte, hatte sie ihren Beschützer von der Fronwiese her auf der Landstraße näher kommen sehen. Ohne den Ohm wäre sie bei seinem Anblick davongelaufen. Beklommen hatte sie den Augenblick erwartet, da sie von Ambros eingeholt würden, und nun, da es geschehen war, traf sie seine Stimme wie ein Schlag aufs Herz.
»Wir haben ja den gleichen Weg«, fuhr der Bursche fort, indem er an Stasis Seite kam. »Es ist langweilig, so allein seine Straßen zu stapfen.«
Stasi beugte den Kopf ganz tief, als wolle sie ihr Gesicht besser gegen die Sonnenstrahlen schützen. Onkel David richtete seine Augen mit einem Schimmer von Verwunderung auf den stattlichen Burschen und murmelte: »Ja, ich weiß nit, die Landstraß ist halt für jeden.«
»Natürlich!« lachte Ambros auf die versteckte Abweisung. »Also gehen wir zusammen.«
David griff wieder zu seinem Rosenkranz. Stasi ging mit gesenktem Kopf weiter. Ambros betrachtete die beiden abwechselnd, und ein übermütiges, doch lautloses Lächeln spielte um seine bärtigen Lippen.
Ein Waldstück nahm die drei Wanderer auf. Mächtige Tannenzweige breiteten ihren grünen Schirm, durch den nur hin und wieder ein Sonnenstrahl drang, über ihnen aus. Die Vögel zwitscherten in der erquickenden Dämmerung, und am Halse einer scheckigen Kuh, die zwischen dem buschigen Unterholz weidete, erklang dann und wann das Glöckchen.
Ambros stieß ein wohliges »Ah!« aus und streckte sich. Stasi, die nun keinen Vorwand mehr hatte, ihren Kopf zu neigen, schaute seitwärts in den Wald. Sie fühlte, daß sie sich eigentlich recht kindisch betrug und daß ihr Benehmen unartig war. Sie war Ambros doch Dank schuldig! Als sie aber zu ihm hinblickte, begegnete sie seinem feurigen Auge, und ihr Blut begann in den Ohren zu sieden und zu brausen, so daß sie kein Wort von dem verstand, was er gerade zu ihr sagte. Dann hörte sie den Oheim antworten:
»Wir haben eine Bittfahrt nach St. Lorenzen getan von wegen meiner armen Schwester.«
Bei der Erwähnung ihrer Mutter faßte sich Stasi ein Herz. »Ach ja, die Mutter ist gar so krank«, sagte sie. Tränen traten ihr in die Augen, und sie brach ab.
»Aber dann hättet Ihr zum Doktor nach Bruneck gehen sollen«, entgegnete Ambros. »Was kann das Beten helfen? Davon wird keiner gesund.«
Stasi machte entsetzte Augen, und David seufzte. Etwas minder rücksichtslos fragte Ambros, ob sie denn nie einen Arzt zu Rate gezogen hätten.
Mit Zagen in Ton und Blick versetzte das Mädchen: »Die Krankheit ist ja eine, wo sich keiner auskennt. Was kann da ein Doktor helfen? Alles hat meine Mutter gebraucht, was ihr weit und breit geraten worden ist. Es hat aber alles nix geholfen. Zuletzt, im heurigen Frühjahr, ist der Ohm bei dem Gamsmanndl gewesen.«
»Was, bei dem alten Gamsmanndl, dem Hexenmeister in Monthan?« fragte Ambros, offenbar belustigt. »Ich hab gemeint, der verständ sieh nur auf Freikugeln.«
»Er hat auch nix gewußt«, fuhr Stasi fort. »Aber der Herr Hannes Falkner, der hat meiner Mutter einen Kräutertrank geraten, daß sie wenigstens nit gar so arge Schmerzen in der Brust hat beim Husten.«
Ambros lachte laut auf, und als sich das Mädchen, dadurch verletzt, von ihm abwendete, sagte er: »Ich hab bloß über das Kräuterweibl gelacht. Ja, ja, der Herr Bruder kennt alles, was unter dem Himmel wächst.«
»Ja, ich weiß nit, ein Kräuterweibl ist doch der Herr Kurat Kurat – in der katholischen Kirche der Priester, dem die Seelsorge über einen bestimmten Sprengel obliegt. nit«, raffte sich David zu einer ungewöhnlichen Energie auf.
»Aber wie ist's denn gekommen, daß deine Mutter so krank geworden ist?« fragte Ambros, den Vorwurf des ehemaligen Mönchs unbeachtet lassend.
»Wer's nur wüßt!« seufzte Stasi, ohne ihn anzusehen. »Es war an einem heißen Tag mitten in der Kornernt, und die Mutter half die Garben hinauftragen nach unserm Gehöft. Das ist schwere Arbeit, denn das Feld ist steil. Die Mutter war dazumalen noch stark und kräftig, wie's mancher Mann nit ist. Und wie sie eben wieder mit einem Garbenbündel auf dem Kopf heraufgestiegen ist und sich in der Scheuer ein wenig verruht, da ist's auf einmal über sie gekommen. Wie ein Eisstrom ist's gewesen, hat sie oft erzählt, daß sie zusammengeschaudert ist in der Hitz. Und nachher ist sie den Husten nit mehr losgeworden, der ihr alle Kräft genommen hat.«
»Das ist freilich eine traurige Geschicht«, murmelte der Bursche.
»Es kann ja gar nit mit rechten Dingen zugegangen sein – das meinen auch alle Leut«, ergänzte Stasi.
»Natürlich nit; eine Hex hat deine Mutter angeblasen, das ist gewiß,« konnte sich Ambros nicht enthalten, hierauf wieder zu spotten.
Stasi blickte ihn aus ihren klaren braunen Augen vorwurfsvoll an und entfernte sich so weit wie möglich von ihm.
Ärgerlich über sich selbst, rief er: »Kreuz, Stern, Hagel! Wie kann einer so was Ungescheites glauben! Da ist ja kein Verstand drinnen. Es gibt keine Hexen. Alte Weiber freilich, die einem Böses wünschen, die gibt's schon die Menge, und kommt mir eins in die Quer, wann ich meinen Stutzen auf dem Rücken hab, dann ist's mit dem Glück auch richtig nix. Kommt mir aber zuerst eine saubere Gitsche über den Weg, nachher hat alles verspielt, was fliegt oder auf vier Läufen geht.«
Er hatte im Sprechen seinen Schritt beschleunigt und war jetzt wieder an Stasis Seite. Mit einem ausdrucksvollen Blick auf sie drehte er seinen schwarzen Schnurrbart. Sie aber verfolgte stumm ihren Weg, die Blicke auf den Rosenkranz geheftet.
Nach einer Weile fragte er sie fast ungeduldig, ob sie böse auf ihn sei. Und als er hierauf keine Antwort erhielt, rief er mit hochmütigem Trotz: »Schau, ich sag's heraus, was ich denk, und wem's nit gefallt, der mag's bleibenlassen. Zum Teixel«, Teixel – Teufel fuhr er fort, »sei doch lustig! Der Mensch lebt nur einmal, und zum Beten hast noch Zeit genug, wann du ein altes Weibl sein wirst. Jedes Ding hat seine Zeit. Gelt, Vater David, Ihr habt in Eurem Kloster auch nit bloß gebetet! Woher kämen sonst die lustigen Stücklein, die man sich just von den Kapuzinern erzählt?« Der Alte seufzte, und Ambros scherzte weiter:
»Jetzt, da steht eine Kapelle, wo alle Sünden vergeben werden im Wein. Auch der Durst hat seine Zeit, und ich hab nie einen so schönen gehabt wie just in diesem Augenblick. Kommt, ich zahl eine Rote.« Er wies auf das Wirtshaus von Salen, das rechts an der hier etwas breiteren Bergstraße vor ihnen lag.
Den Wald hatten sie bereits seit einiger Zeit hinter sich gelassen. Stasi erhob Einspruch gegen Ambros' Vorschlag und forderte den Ohm durch Augenwinke auf, ihr beizustehen. Ehe sich aber der Ohm zum Widerstand gegen die Versuchung aufzuraffen vermochte, hatte Ambros dessen Nichte bei der Hand gefaßt und zog die Widerstrebende zum Wirtshaus hin. David folgte ihnen mit einem Anflug von Schmunzeln.
In der Wirtsstube befanden sich nur zwei Gäste, Bauern aus dem an der Gader liegenden Kirchdorf Salen, die gerade ihre Zeche bezahlten und dann fortgingen. Ambros bestellte Wein, setzte sich auf die Fensterbank und forderte Stasi auf, neben ihm Platz zu nehmen. Sie aber rückte sich einen Stuhl ihm gegenüber an den Tisch. Als die Wirtin Wein und Brot gebracht hatte, schenkte Ambros ein und sagte, mit seinen Gästen anstoßend: »Dies bring ich euch auf gute Freundschaft!« Seine Blicke aber erklärten, daß er damit nur das Mädchen meinte, und ihr reichte er auch über den Tisch hin die Hand, nachdem er sein Glas auf einen Zug geleert hatte. Zögernd legte sie ihre Hand in die seine, und er drückte sie so stark, daß Stasi aufschrie. Er lachte. Der Ohm, der unterdessen sein Einschlagemesser hervorgezogen hatte, sagte: »Jetzt laß uns essen, Stasi!« Sie nahm aus ihrem Korb, den sie auf den Boden gestellt hatte, geräuchertes Fleisch und Ziegenkäse und lud Ambros ein mitzuhalten. Er dankte. David wurde durch die Speisen an die Ursache der Verzögerung ihrer Mahlzeit erinnert, und er fragte, indem er sich ein tüchtiges Stück von dem Fleisch abschnitt, welchen Ausgang der Handel auf der Fronwiese genommen habe. Stasi wurde rot.
»Der Soldat wurde von unseren Männern fortgeschoben, so daß wir nit rechtschaffen aneinanderkommen konnten.«
»Gott sei gelobt«, atmete Stasi auf.
»Blitz und Hagel!« grollte Ambros. »Dir erbarmt der Lump noch? Jetzt spring einer den Madln bei!«
»Ach, ich dank dir ja sehr«, antwortete sie verschüchtert. »Aber es wär doch schrecklich gewesen, wann's ein Unglück um meinetwillen gegeben hätt.«
Ambros warf seinen Spitzhut unmutig neben sich auf die Bank, und David verbesserte seine Stimmung nicht, als er, mit vollen Backen kauend, bemerkte: »Ja, ich weiß nit; es ist doch gut, daß du dich gleich nachher fortgemacht hast. O diese Soldaten!«
Ambros wurde feuerrot vor Zorn und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten. »Heiliges Sakrament!« rief er. »Die weiße Feder hätt ich gezeigt? Ich, der Ambros Falkner?«
Stasi starrte ihn erschrocken an, und der Ohm ließ für einen Augenblick die Hände mit dem Fleisch, dem Brot und dem Messer auf den Tisch sinken. Dann wiegte er seinen schweren Kopf und sagte: »Du kennst die Bayern nit, aber ich hab's erfahren, wie sie mit einem umspringen. Heilige Mutter Gottes, wann ich an die Nacht denk, wo sie in unser Kloster zu Klausen eingebrochen sind! Ich werd's mein Lebtag nit vergessen.« Wieder schüttelte er den Kopf.
Ambros murrte, während er sich mit gespreizten Fingern durch die schwarzen Locken fuhr: »So was von mir zu glauben!« Das Mädchen schaute ihn bittend an; er schenkte sich ein, stürzte das volle Glas hinunter und rief dann: »Eigentlich ist's lustig, daß ich davongelaufen sein soll!« Er lachte laut und ungezwungen auf. »Jetzt, Vater David, erzähl selber mal, wie's in jener Nacht gewesen ist.«
»Ja, ich weiß nit«, begann dieser in seiner verschwommenen Weise. »Wir lagen schon alle in unsern Betten, als die Soldaten hereinbrachen. Wie der böse Feind tobten sie durch die Kreuzgänge und durch alle Zellen – kaum daß sie uns Zeit ließen, unsere Kutten überzuwerfen. Sie schlugen alles kurz und klein, und mit Kolbenstößen trieben sie uns alle in den Hof. Unserm gnädigen Herrn Abt und dem Rotbart hatten sie die Händ mit Stricken gebunden. Von dem Rotbart wirst wohl schon gehört haben?« Ambros verneinte, und David fuhr fort:
»Wir nannten ihn immer den Rotbart; er selbst schreibt sich aber Jochem Haspinger, und zu St. Martin im Gsiesertal ist er daheim. Wie er noch ein Bürschlein war, so neunzehn oder zwanzig Jahre alt, ist er aus der Priesterlehr weggelaufen, um sich mit den Franzosen zu schlagen. Geistlicher hat er werden sollen, aber es hat ihn nimmer gelitten, und er ist mit dem Stutzen ausgezogen. Wie nachher alles in Italien zu End gewesen ist, da ist er in unser Kloster gekommen. Aber den Grimm gegen die Franzosen hat er nit abgetan, und wie wir haben bayrisch werden müssen« Er warf einen spähenden Blick auf die offenstehende Tür und setzte mit gedämpfter Stimme hinzu: »Wie Feuer geht ihm das Wort aus dem Munde.«
»Wie er in die Kutte hat kriechen können, nachdem er Pulver gerochen hat, das will mir nit eingehen«, äußerte Ambros mit einem Anstrich von Verachtung. »Aber was haben die sakrischen Bayern nachher mit ihm angestellt?«
»Ja, ich weiß nit«, versetzte der ehemalige Kapuziner. »Fortgeschleppt haben sie ihn und den Herrn Abt. Uns andern wurde gesagt, daß wir gehen könnten, wohin wir wollten; unsere Ordenskleider aber sollten wir abtun. Und dann haben sie uns zum Hoftor hinausgestoßen auf die Gassen und haben dabei ihr Gespött getrieben. Da bin ich denn nach St. Vigil zu meiner Schwester gegangen, die mit dem Kaspar Larseit ist verheiratet gewesen. Wohin hätt ich auch gehen sollen? Ich hatte niemand auf der Welt mehr.« Er seufzte und trank.
Stasi, die ihm mit Rührung zugehört hatte, obgleich sie seine Geschichte sicherlich schon längst kannte, streichelte voller Mitleid seinen Oberarm. Er wiegte wieder seinen Kopf hin und her und schob dann ein großes Stück Käse in den Mund.
Ambros hatte unterdessen seine Pfeife hervorgezogen und mit Stahl und Stein Feuer geschlagen. Den brennenden Schwamm auf den Tabak drückend, fragte er: »Und deine Kutten, Ohm, was ist aus der geworden?«
Stasi warf dem unverbesserlichen Spötter einen vorwurfsvollen Blick zu. David Fenchler aber flüsterte, während er sich über den Tisch vorbeugte: »Ja, ich weiß nit, glaubst du nit auch, daß unser Ordenshaus in Klausen und die andern wieder Klöster werden?« »Brr!« machte Ambros, und David seufzte resigniert: »Wie Gott will. Die Kutten liegt in meinem Kasten daheim, und in ihr will ich begraben werden.«
»Amen!« sagte Ambros und stützte sich mit dem rechten Ellenbogen auf den Tisch, wobei er die Finger in seinem Haar vergrub. Durch die Rauchwölkchen betrachtete er Stasi und verfolgte die Brocken, die sie von dem Brot abbrach, bis zu ihrem roten Mund und den weißen Zähnen. Sie wurde darüber verlegen und hörte auf zu essen.
Eine Gesellschaft von Landleuten, Männer und Frauen, die ebenfalls von St. Lorenzen kamen, traten in die Wirtsstube. Einer unter ihnen erkannte in Ambros den Helden von der Fronwiese; er begrüßte ihn als solchen und pries sein mannhaftes Auftreten, worauf die anderen in sein Lob einstimmten. Er habe es dem Bayern gut gezeigt, wie er sich gegen Frauen zu betragen habe, versicherten sie, und dabei traf Stasi mancher neugierige Streifblick aus den weiblichen Augen. Ambros machten die Lobsprüche ungeduldig, und als jetzt an Stelle der Wirtin der Wirt hereinkam, um sich nach den Wünschen der neuen Gäste zu erkundigen, rief er: »Zahlen!«
»Eins nach dem andern!« versetzte bedächtig der Wirt, ein Mann, kräftig und knorrig wie eine Eiche.
Geduld war jedoch nicht die Sache des Kloster-Ambros, und so warf er den Betrag seiner Zeche auf den Tisch, stülpte seinen Hut auf und befahl: »Kommt!« Damit schritt er zur Tür hinaus, und Stasi, die inzwischen die kleinen Fleisch- und Käsereste, die der Appetit des Ohms verschont, in ihren Korb gepackt hatte, gehorchte nebst David, als verstünde sich das von selbst. »Potztausend, seht mir den Prinzen!« spöttelte der Wirt; aber Ambros hörte es nicht mehr.
Der Weg zog sich unmerklich und mit kurzen Unterbrechungen stetig am rechten Ufer der Gader in die Höhe, immer dem Lauf des Flusses entgegen, wobei er den Aus- und Einbiegungen des östlichen Talrandes folgte. Ein quer vorgelagerter Berg in der Gestalt einer grünen Riesenglocke verbarg das Pustertal im Rücken der Wanderer. Die schmale Sohle des Enneberger Tales füllte ganz die muntere Gader aus. Die stark abschüssigen Hänge bekleideten grüne Matten, blühender Flachs und reifendes Korn. Die Höhen beherrschte dichter Wald, aus dessen schwärzlichem Nadelgewirr hier und dort nacktes, wunderlich geformtes Gestein gen Himmel ragte. Zuweilen neigte sich der Wald auch bis zur Gader hinunter, und der Schatten, den die mächtigen Rottannen boten, war den Wanderern sehr willkommen. Verstreut zwischen den steilen Matten und Feldern lagen die rotbraunen Holzhäuser der Älpler auf steinernem Unterbau, dessen Kalkbewurf sich blendend von dem grünen Grunde abhob. Wo es der Raum gestattete, drängten sich die Hütten auch zu einem Dörflein zusammen, mitunter um ein kleines Kirchlein mit zwiebelartigem, grünem Turmdach, oder es grüßte ein solches einsam von einem Vorsprung des westlichen Talrandes herüber. Jede Wendung der schmalen Straße, die zuweilen den Boden unter sich verlor und als Brücke an steiler Felswand hing, zeigte den drei Wanderern ein neues liebliches Landschaftsbild in sonnig blauem Duft.
Stasi, die ihr heimatliches Tal bisher noch nie verlassen hatte, ließ ihre braunen Augen froh umherschweifen, während David Fenchler zur Verdauung den Rosenkranz betete. Ambros mußte dem Mädchen die Namen der einzelnen Ortschaften nennen.
»Ach, du lieber Gott, wie ist es doch so schön auf der Welt!« rief sie einmal und hob die Augen mit einem Leuchten zu dem Burschen auf. »Blitz, was du für Gamslichterl hast!« murmelte er, und es wurde ihm ganz warm ums Herz.
»Bist wohl auch ein Jager?« fragte sie.
»Freilich!«
»Ich begreif's nit, wie einer die unschuldigen Tierlein schießen kann«, bemerkte Stasi. »Tut es dir denn nimmer leid, wann so ein hübsches Tierl, das noch eben so lustig umhergesprungen ist, von deiner Kugel das Leben lassen muß?«
Ambros lachte. »Nein, das hat mir noch nimmer leid getan.«
»Oh!« sagte sie leise.
Sie waren auf eine Brücke gelangt, die über einen Wildbach führte. Links stieg der Fels senkrecht auf. Es sickerte nur wenig Wasser herunter; aber die mächtigen Blöcke, die das Bett füllten, zeugten von der Gewalt des Elements im Frühjahr und Herbst. Einige entwurzelte Tannen lagen quer über dem Bett des Baches, das eine kurze Strecke unterhalb der Brücke einen zweiten Absturz bildete. Jenseits der Brücke drangen die Felsen in scharfem Winkel vor. Die ganze Partie lag in dichtem Waldschatten. Unterholz und Blattpflanzen gediehen üppig in der feuchten Atmosphäre. War es die kühle, feuchte Luft, die Stasi erschauern ließ? Sie sah sich nach dem Ohm um und ging dann mit beschleunigten Schritten weiter. David war eine Strecke zurückgeblieben. An einigen Stellen verkündeten Votivtafeln durch Bild und Schrift, daß sich dort ein Unglücklicher in der Dunkelheit, während eines Schneesturmes oder im Rausch zu Tode gestürzt hatte. Der ehemalige Mönch betete bei einer jeden Tafel »für die Erlösung der armen Seele aus dem Fegefeuer«. Stasi rief ihm über den Bach hinüber zu, er möge sich beeilen. Als sie um die Felsenecke gebogen war, gewahrte sie ein wenig oberhalb des Weges im Schatten einer alten Birke, die einsam unter den Tannen stand, einen bemoosten Stein, der wie eine Rasenbank zum Sitzen einlud. Stasi lief hinauf und setzte sich nieder, um hier den Ohm zu erwarten. Der Stein bot Raum für zwei, und so nahm Ambros neben Stasi Platz.
»Hier ist gut sein«, sagte Ambros und legte den Arm um die Hüften seiner Nachbarin. Sie aber schob seinen Arm leise zurück.
»Bist du so scheu?« fragte er.
Sie bückte sich, ohne zu antworten, und rupfte einige Grashalme aus dem Boden. Und das Bücken war es wohl, was ihr das Blut in die Wangen trieb.
Fünf Halme hatte sie gepflückt, und nun bat sie Ambros, diese in der Mitte zwischen Daumen und Zeigefinger zu halten.
»Was soll's denn?« fragte er.
Sie wollte einen Kranz knüpfen, um zu erfahren, ob ihr Bittgang der Mutter helfen würde.
Das Orakel kam jedoch nicht zustande. Es ließ sich das Rollen eines Wagens vernehmen, und kaum hatte Stasi die entgegengesetzten Enden von zwei Halmen verknüpft, als ein Einspänner mit drei Personen um die Ecke bog. Ein junger Mann, der kutschierte, und zwei Frauen waren die Insassen des Gefährts. Stasi bemerkte den Wagen zuerst und rief: »Da kommt deine Schwester Lisei.«
»So laß sie kommen«, versetzte Ambros gleichmütig, ohne den Kopf nach dem Fuhrwerk hinzuwenden.
Stasi blickte ihn erstaunt an. »Die schöne Müllerin, die Afra Arigaya, sitzt neben ihr«, fügte sie hinzu.
»Meinetwegen«, erwiderte er in demselben Ton wie vorher.
Nur der kutschierende Bursche bemerkte das Paar. Er winkte verschmitzt mit den Augen hinauf und trieb das Pferd an. Da die Straße hier eine Strecke ohne Steigung hinlief, rollte das Gefährt rasch vorüber. Stasi vergaß ihren Kranz und folgte dem Wagen mit den Augen, und während sie diese dann wieder Ambros zuwendete, fragte sie, ob er denn nicht mit seiner Schwester zusammen in St. Lorenzen gewesen sei.
»Es wird wohl so gewesen sein«, gab er zu. »Aber ich mußt doch nachschauen, ob der verdammte Korporal der Stasi nit nachgeschlichen war.« Er lachte.
Stasi erhob sich und ging auf die Landstraße, wo nun auch die gebeugte, breitschultrige Gestalt des Ohms auftauchte. Scham und Verdruß darüber, daß Ambros ihr absichtlich nachgegangen war, trieben ihr fast die Tränen in die Augen.
»Jetzt hab ich halt gemeint, daß du mitgefahren wärst«, äußerte David Fenchler zu dem langsam herabsteigenden Burschen. »Es war noch Platz auf dem Wagen.«
»Neben der schönen Müllerin, freilich!« spottete Ambros.
»Nein, da war kein Platz mehr«, versetzte der Alte naiv. »Aber neben ihrem Stiefsohn, dem Jerg.«
Ambros hatte sich wieder an des Mädchens Seite gemacht. »Gelt, du nähmst keinen alten Mann, wie die Afra?« fragte er.
»Ach du, mein Herrgott, ich weiß auch gar nit, wie sie es hat tun können«, antwortete Stasi zögernd; denn sie wollte eigentlich überhaupt nicht mehr mit ihm reden. »Wenn eine so bildsauber ist, so blitzsauber wie sie ...«
»Bah!« unterbrach Ambros sie geringschätzig.
»Nein, das ist doch gewißlich wahr!« geriet sie in Eifer. »Und ich kann sie in der Kirchen nimmer genug anschauen.«
»Aber ich weiß eine, die tausendmal schöner ist als sie«, versetzte er mit gedämpfter Stimme, und als sie ihn darauf fragend anblickte, fuhr er fort: »In deiner Kammer, da hängt ein Spiegel an der Wand; wann du den fragst, der wird dir sagen, wie sie geheißen ist«
»Jetzt gar!« rief sie verwundert.
»Wann's die Stasi Larseit dem Spiegel nit glauben will, dann sag ihr: ich hab's gesagt. Und der Ambros Falkner lügt nit!« flüsterte er, sich zu ihr beugend.
»Geh doch!« stotterte sie weinerlich. »Es ist schlecht von dir, daß du mich narrst. Ich hab dir nix zuleid getan.«
»Ja, ein Narrl bist, und ein liebes«, sagte er zärtlich. »Ist's denn ein Schimpf für eine Gitsche, wann sie hübsch ist? Mir gefallt keine so wie du.«
Er legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich, und sie ließ es im ersten Augenblick geschehen. Sie war wie betäubt. Dann aber drängte sie ihn mit dem Ellenbogen entschieden von sich, ließ den hübschen Kopf noch tiefer auf die Brust sinken und begann zu weinen. Sie war überzeugt, daß er seinen Spott mit ihr treibe, sonst hätte er ein so unbedeutendes Ding wie sie nicht mit der schönen Afra vergleichen können! Sie war lediglich um einige Jahre jünger als die Mühlerin.
Ärgerlich über ihre Tränen, deren Ursache er durchaus mißdeutete, drehte Ambros an seinem Schnurrbart. Noch hatte es ihm keine Dirne übelgenommen, wenn er sie einmal umgefaßt. Sie hatten ihm vielleicht mit lachendem Munde ein scharfes Wort an den Kopf geworfen. Aber Tränen!
»Was weinst denn?« rief er. »Der Bub und das Madl, die gehören zusammen, das hat unser Herrgott schon selber so gefügt. Schau, wie sich dort die Gitsche an den Jagerbub anschmiegt!« Er deutete auf den Peitlerkofl, der sich vor ihnen, im Süden, mächtig emporzuheben begann. Der nackte Kalkfelsen glich in der Nachmittagsbeleuchtung wirklich einem bärtigen Männerkopf, an dessen linke Wange sich ein kleineres, bartloses Gesicht lehnte. Stasi schaute hin und lächelte.
»Die haben einander schon so lang lieb, als die Welt steht, und werden's nimmer müd«, sagte Ambros. »Im Regen und Sonnenschein, ob's donnert und blitzt oder schneit oder ob die Rosen blühen, er hält sie an sein Herz gedrückt und laßt sie nimmer aus!«
Wieder legte er seinen Arm um Stasi, und sie murmelte beklommen:
»Oh, ich bitt dich!«
»Ja, und mir ist's, als hört ich ihn jauchzen vor Lust«, rief er und stieß selbst einen so lauten Jauchzer aus, daß es von den Bergen widerhallte.
Ein nicht minder kräftiges »Juch! Juch!« antwortete, und das Paar prallte betroffen auseinander. Der Ruf erscholl wie vom Peitlerkofl her; jedoch mußte der Rufer ganz nahe sein und nur die Windung der Straße ihn den Blicken entziehen.
»Das kann doch der Jerg nit sein! Der muß ja jetzt schon über Palfrad hinaus sein«, äußerte Ambros und beschleunigte seinen Schritt.
Stasi blieb stehen und wartete auf den Ohm.
Der Rufer entpuppte sich wirklich als der junge Arigaya, und als Stasi und David die Straße vor sich überblicken konnten, gewahrten sie ihn sowie Lisei und Afra, die neben dem auf der Straße haltenden Wagen standen und Ambros entgegenschauten.
Jetzt wird's lustig! sagte dieser zu sich selbst, und die Stimme erhebend, fragte er, was es gebe.
Das Pferd hatte sich einen Stein zwischen Eisen und Huf des rechten Vorderfußes eingetreten, wo er so fest stak, daß er ohne Werkzeug nicht entfernt werden konnte. Der Unfall war schon vor einiger Zeit geschehen, und da das Pferd infolgedessen lahmte, waren die Passagiere aus dem Wagen gestiegen und zu Fuß weitergegangen. In dem kleinen, einsamen Wirtshaus von Palfrad, das fast auf der Scheitelhöhe der nun steiler ansteigenden Straße in geringer Entfernung vor ihnen lag, hoffte Jerg ein Stemmeisen und einen Hammer zu bekommen. Auf Ambros' Jauchzer hatte die Gesellschaft haltgemacht. Lisei schlug bei dem Erscheinen ihres Bruders verwundert die Hände zusammen, und auch Afra öffnete ihre schönen schwarzen Augen vor Erstaunen weit. Als sie jedoch hinter Ambros dessen beide Wandergefährten erblickte, wandte sie sich ab und preßte ihre dunkelroten Lippen unmutig zusammen. Jerg, ihr Stiefsohn, strich sich mit heimlichem Lachen das etwas langer spitze Kinn.
Ambros grüßte unbefangen und ließ sich von Jerg den Schaden zeigen.
»Also doch ins Garn gegangen!« flüsterte Jerg mit einem Zwinkern seiner kleinen Augen, während er den Vorderfuß des Pferdes in die Höhe hob.
Ambros untersuchte das blessierte Glied aufmerksam. »Da ist vorläufig nix zu machen«, sagte er laut, und Jerg lachte über die zweideutige Antwort.
»Aber wo kommst denn jetzt erst her?« fragte Lisei. »Wir hatten gemeint, daß du längst voraus wärst. Wir haben in St. Lorenzen auf dich gewartet und gewartet.«
»Und jetzt bin ich halt da«, entgegnete er kurz.
Lisei sah nach Stasi und warf dann ihrem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu.
Stasi hatte die Augen gesenkt und ihren Schritt verlangsamt. Was mußten Lisei und die junge Müllerin von ihr denken?
Und Ambros und Lisei standen noch immer auf der Straße, während sich Jerg mit dem lahmen Pferd bereits in Bewegung gesetzt hatte und seine Stiefmutter ihm folgte.
»Warum gehst denn nit?« fragte Ambros ungeduldig seine Schwester, die gleich ihm von hoher, schlanker Gestalt war, ihm sonst aber nicht ähnlich sah. Sie war blond und eigentlich nicht hübsch und war auch älter als ihr Bruder.
»Ich warte auf die Stasi Larseit«, antwortete sie gelassen. »Aber ich bitt dich, Brosi, du hast der Frau Arigaya kein Wörtlein gesagt, und sie hat uns doch beide eingeladen, mit ihr nach St. Lorenzen zu fahren. Was muß sie bloß von dir denken!«
Damit ging sie Stasi ein paar Schritte entgegen, und Ambros schlenderte verdrießlich der schönen Müllerin nach. Diesen Beinamen verdiente Afra mit vollem Recht, und sie mochte sich dessen bewußt sein. Sie trug ihre jugendlich volle Gestalt mit viel Stolz. Als Ambros, der sich keineswegs beeilte, sie eingeholt hatte, nahm sie keinerlei Notiz von ihm, und eine Strecke gingen beide stumm nebeneinander her. Ambros machte keine Anstalten, sie anzureden.
Da maß ihn die junge Frau mit einem Blick von oben bis unten und sagte: »Das muß man gestehen: der Ambros Falkner hat Lebensart! Wann's nach der Lisei gegangen wär, säßen wir noch beim Sonnenwirt in St. Lorenzen und warteten auf ihn.« Der Blick, selbst aus so schönen Glühaugen, war mehr, als Ambros zu ertragen vermochte. Statt sich zu entschuldigen, zog er die Schultern in die Höhe, und Afra fuhr gereizt fort: »Und er bittet wegen seiner Grobheit nit einmal um Entschuldigung.«
»Wann die Frau Arigaya meint, daß ich mir die Bitt abdringen lass', da kennt sie mich schlecht!« trotzte Ambros.
»Oh, es ist nit so schwer, wie er sich einbildet, den Herrn Falkner zu kennen«, antwortete sie kalt. »Ich hab's der Lisei auch gleich gesagt, als wir beide wie die Narren im Wirtshaus saßen «
»Was?« unterbrach er sie rauh.
»Daß du dem einfältigen Ding, der Stasi, nachgelaufen bist«, schoß es ihr über die bebenden Lippen. »Oder ist's etwa nit wahr?«
»Und warum sollt ich nit, wenn's mir gefiel?« fragte er herausfordernd. Ein dunkles Feuer überglitt Afras Gesicht. Schweigend wandte sie sich von ihm ab.
»Zankt ihr euch wieder mal?« rief Jerg, der, den lahmen Gaul am Zügel führend, nur wenige Schritte vorausging. »Sie hat recht, Frau Mutter, daß sie ihm den Kopf wäscht. Den ganzen Spaß, den wir uns von der Fahrt versprochen haben, hat uns der ungezogene Mensch verdorben.«
Afra richtete stolz den Kopf auf.
»Wie lustig war's auf der Hinfahrt!« fuhr Jerg in treuherzigem Ton fort. »Selbst der Schweißfuchs hat vergnügt die Ohren gespitzt. Der verdammte Bayer! Aber brav war's von dir, Ambros, daß du dich der Larseit angenommen hast. Ist eine saubre Gitsche, die einem schon gefallen kann.«
Er sagte das hin, ohne den Kopf umzuwenden. Hätte ihm Afra ins Gesicht sehen können, so wäre ihr das hämische Zucken um seinen breiten Mund nicht entgangen. Aber es bedurfte dessen nicht; sie fühlte die Spitzen aus seiner treuherzigen Redeweise heraus und drückte die Hand aufs Herz.
»Na, allemal kann man nit lustig sein!« fing er wieder an. »Hil, Fuchs!« Dann sang er mit gequetschter Stimme:
»A schöns Dirndl liebn
Is a Freud auf der Welt,
Aber der Neid ist dabei
Wie der Teixl beim Geld.«
»Und wann dich der Teixel singen hört, da kriegt er Krämpf!« rief Ambros.
»So fein wie du kann ich's freilich nit«, versetzte Jerg. »Ich hab aber ein so gutes Gehör, daß ich jeden Vogel gleich am Pfeifen erkenn.«
»Wie andere den Esel an den langen Ohren«, rief Ambros.
»Oder den Pfarrer am Predigen«, gab Jerg ruhig zurück. »Denn der Rock allein tut's nit.«
»Nein«, entgegnete Ambros mit einem gewaltsamen Lachen, »denn sonst würde mancher den Pfau für 'ne Nachtigall halten.«
Afra zuckte zusammen. Sie blieb ein paar Sekunden stehen und blickte mit starren Augen in das Tal hinunter. Als sie weiterging, blinkte etwas an ihren schwarzen Wimpern.
Jerg blieb Ambros nicht die Antwort schuldig; beide überboten sich in einem stachligen Humor. Der des jungen Klosterbauern aber hatte etwas Hastiges und Gezwungenes, als wollte er Afra zeigen, daß er sich aus ihrer Ungnade nichts mache.
Lisei und Stasi folgten harmlos plaudernd. Stasi war noch verlegener geworden, als Lisei sie angeredet Doch in deren Ton und Wesen lag so viel Freundliches, Mütterliches, daß Stasi ihre Schüchternheit schnell überwand. Sie hätte Lisei gern überzeugt, daß sie an der Begleitung ihres Bruders unschuldig war, aber sie vermochte es nicht, Ambros zu erwähnen. Lisei wußte es übrigens durch eine Bemerkung aus David Fenchler herauszulocken, wie sie zu der Gesellschaft ihres Bruders gekommen waren. Stasi atmete sichtlich erleichtert auf, und fortan war es ihr, als sei Lisei ihre Schwester.
Als sie mit den Vorausgegangenen vor dem kleinen Wirtshaus von Palfrad zusammentrafen, lud Ambros alle zu einem Trunk Wein ein, während Jerg seinen Schweißfuchs wieder zu Gang brachte. Stasi wehrte hastig ab: »Ach nein, wir müssen nach Hause!« Und sie zupfte den Ohm an der Joppe. Lisei kam ihr zu Hilfe, indem sie ihr die Hand reichte und sagte: »Du hast recht, Kind! Die Nachbarin, die deine Mutter in Obhut genommen hat, wird wohl schon sehnlichst auf dich warten. Komm gut nach Haus!«
»Unsinn! Hat sie so lange gewartet, kann sie auch noch länger warten!« rief Ambros mit zusammengezogenen Brauen.
Stasi aber zog den Ohm mit sich fort. Sie beschleunigte ihren Schritt so, daß es aussah, als fliehe sie. Erst nachdem sie den Höhepunkt des Weges erreicht hatte und Palfrad hinter ihr versunken war, nahm sie wieder auf den schlurfenden Gang Davids Rücksicht. Nun schwang sich die Straße nach Osten herum, und zu Füßen der beiden Wanderer breitete sich das Vigiltal, zu dessen Sohle der Weg mit mancher Kehre hinabstieg. Frei schweifte der Blick über das anfangs schmal eingeschnittene Tal bis zu den Dolomiten, die sich im fernen Osten kulissenartig in den Bannwald hineinzuschieben schienen. Von dorther kam der Vigilbach an Mühlen und kleinen Weilern, über deren graue Dächer Obstbäume und einzelne Ulmen ihr Gezweig breiteten, vorübergetänzelt, entlang dem mit prächtigen Tannen bestandenen Bergrücken, der das Vigiltal im Süden von dem Gadertal scheidet. Links blickten das feste Haus von Asch, die stattliche Dechanei mit der schönen Kirche von Enneberg und weiter hinten das halb unter Laub begrabene Kirchlein von Hof auf das Tal hinunter, dessen grüne Abhänge mit einzelnen Gehöften und braunen Hüttengruppen überstreut waren. Heckengänge durchzogen die abschüssigen Felder, und von dem Bannwald her grüßte der Kirchturm von St. Vigil. Von dem Sanften und Lieblichen wurde der Blick allmählich zum Großartigen übergeleitet, und Stasis braune Augen leuchteten über die Hütten, Dörfer, Felder und Kirchen, über die Höhen mit ihren Tannen- und Lärchenwäldern und blieben an den mächtigen Felsen im Hintergrunde haften, die die Nachmittagssonne in durchsichtigen Alabaster mit weichen blauen Schatten verwandelte. Wunderliche Gestalten waren es, die das Spiel der Einbildungskraft herausforderten. Da schimmerte die mächtige, nackte Schädeldecke des Kreuzkofls, dessen Fuß im Gadertal wurzelt, neben der Doppelwölbung des Piz-Peres, und dahinter stemmte die Eisengabel ihre braunen Klippen der grünen Brandung des Waldes entgegen. Gegenüber streckten sich drei steinerne Riesenfinger, die in der Sonne golden glänzten, zum blauen Himmel, und der Piz-Peres daneben mit seinem langherabwallenden Tannenbart hätte Stasi an Michelangelos Moses erinnert, wenn ihr dieses Bildwerk bekannt gewesen wäre. Neben dem sinnenden Moses trat stolz wie ein König der Paratscha hervor, und zwischen ihnen schien sich schäumend ein Sturzbach in den Bannwald zu ergießen. Es war eine Mur, Mur – Schlamm- und Schuttmassen, die sich nach starken Niederschlägen oder plötzlicher Schneeschmelze an Gebirgshängen abgelagert haben. deren so viele von den Felsen niedergegangen waren und den Wald in der Tiefe durchrissen hatten. Weiter hin, bis zu dem im bläulichen Duft verdämmernden Col de Rü, erstreckte sich die steile Wand des Monte Sella, dessen Gipfel wuchtigen Burgen und ummauerten Städten glichen, und der rötliche Stein, von der Sonne durchglüht, ließ sie in brennende Abendröte getaucht erscheinen.
David hatte sich auf einem Stein am Wege niedergelassen und harrte geduldig, bis sich seine Nichte an ihrem Heimattal satt gesehen. Sie stand, ganz in den Anblick versunken, mit gefalteten Händen da, bis das Rasseln eines Wagens sie aufschreckte. Sie warf einen scheuen Blick auf das Fuhrwerk. Ambros war nicht darauf. Wer vermochte auch dessen Sinn zu beugen? Als er dem Wagen folgte, fand er David allein am Wege sitzend.
»Ja, ich weiß nit«, erklärte der Alte, indem er sich mühsam erhob, »deine Schwester hat die Stasi mitgenommen. Sie war freilich auch müd genug.«
Ambros biß die Zähne zusammen.
»Das arme Ding!« fuhr David fort, während er sich neben dem Burschen weiterschob. »Schon um drei Uhr in der Früh sind wir von Haus aufgebrochen, um zur Messe in St. Lorenzen nit zu spät zu kommen.«
Ambros zerrte stumm an seinem Schnurrbart, und David begann wieder an seinem Rosenkranz zu fingern.
»So laß doch, zum Teixel, das ewige Beten!« fuhr ihn der Bursche wütend an.
Entsetzt öffnete der Alte seine wasserblauen Augen so weit wie möglich. Aber er unterließ das Beten. Die Wanderschaft wurde dadurch nicht unterhaltsamer, denn David Fenchler war in dem Kloster stumpf geworden und wußte nichts zu reden, und Ambros mochte in seinem Verdruß nicht den Mund auftun.