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16. Kapitel

Schweigend saß Hannes der jungen Frau seines Bruders gegenüber. Ambros war nicht daheim; er war oft von Hause abwesend und kümmerte sich wenig um die Wirtschaft. Als Hannes heraufgekommen war, hatte ihn Stasi mit einem freudigen Aufleuchten ihres hübschen Gesichts begrüßt; aber das Licht in ihren Mienen war allmählich erloschen, während er, noch erregt von der Debatte mit dem Vikar – die freilich für beide Teile erfolglos geendet –, lebhafter als gewöhnlich erzählte. Stasi lächelte nur matt, während sie eifrig fortarbeitete. Er schaute ihr wie in früheren Tagen auf die fleißigen Finger, und nach einer Weile zog er mit einer gewissen Hast seine Horndose hervor. Dieses winzige Hemdlein, an dem Stasi nähte!

»Ja, ja, das ist der Lauf der Welt!« murmelte er. »Das Alter stirbt, und neues Leben wird geborn.«

Stasi beugte sich über ihre Arbeit; aber sie lächelte nicht. Im Gegenteil, ihre Mienen wurden trüber und trüber.

Ach, mein Gott, mein Gott! seufzte Hannes innerlich; dann begann sich in ihm der Zorn gegen seinen Bruder zu regen, und es fuhr ihm heraus: »Gesteh nur, der Ambros ist nit gut zu dir!«

»Ach nein, ach nein! Sie tun ihm unrecht!« rief sie rasch, indem sie den Kopf aufrichtete und ihn flehend anblickte.

Er glaubte ihr nicht; doch fühlte er, daß ihm selbst seine innige Freundschaft für sie kein Recht gäbe, den Schleier zu heben, in den die Keuschheit des Herzens ihren Kummer hüllte. Sie mochte seinen Zweifel in seinen Augen lesen; denn sie zwang sich, heiter zu scheinen, und begann von diesem und jenem zu reden. Aber er nährte das Gespräch nicht, und es ging aus wie ein mühsam aus der Asche geblasenes Flämmchen.

Es zerrte und riß in seiner Brust Stasi vermochte ihre Tränen nicht mehr zurückzuhalten und wandte den Kopf ab, um sie zu verbergen. Hannes schnellte von seinem Sitz auf. »Stasi!« rief er in schneidendem Schmerz. Sie schluchzte laut auf. Er entwich.

Es blieb ihm kein Zweifel mehr, daß sie sich unglücklich fühlte, und Schmerz und Reue peinigten ihn. Er hatte es ja im voraus gewußt, daß Ambros nicht der Mensch wäre, um Stasi glücklich zu machen, und dennoch hatte er sich der Verbindung der beiden nicht nur nicht widersetzt, wie es seine Freundespflicht erfordert hätte, sondern ihr selbst den Segen gegeben. Welche Gründe ihn dazu bewogen hatten, daran dachte er jetzt nicht; er fühlte nur den Stachel des Gewissens, daß er seine Überzeugung hatte schweigen lassen. Er war es, der Stasi unglücklich gemacht hatte, und nicht sie allein! Die Folgen jener unseligen Trauung drohten nun auch Lisei ins Elend zu stürzen, und er, er trug die Schuld an alledem! Was konnte er tun, um seine Schuld zu sühnen?

Unterdessen versuchte Vefa auf dem Klosterhof, ihre Nichte zur Vernunft zu bringen, wie sie es nannte. Nur Halsstarrigkeit sei es von Lisei, wenn sie sich weigere, Jerg zu heiraten. In der Halsstarrigkeit gleiche sie ihrem Vater; aber von dem Stolz, mit dem er auf die Ehre und das Ansehen seiner Familie bedacht sei, besitze sie nichts, sonst hätte sie sich überhaupt nicht an den hergelaufenen Schmied gehängt.

Lisei hatte sich um des Vaters willen in ihrem Leben so manches von Vefa gefallen lassen, und auch jetzt nahm sie deren Vorwürfe, soweit sie persönlich von ihnen betroffen wurde, geduldig hin. Aber die Verunglimpfung Wolfs duldete sie nicht, und sie erklärte dies mit einer so ruhigen Festigkeit, daß Vefa ganz kleinlaut wurde.

»Heilige Mutter Gottes! Ich will ja gegen den Schmied nix gesagt haben!« stotterte sie und machte sich mit ihrem Fürtuch zu schaffen. »Nein, gewiß nit, obgleich er mich immer über die Achseln angesehn hat. Aber einen Bayer kannst doch nit heiraten! Und da ist jetzt auch der Vikar; der schwört auf Napoleon und will von Österreich nix wissen und auch nix vom Papst und unserm heiligen Glauben. Für ein Linsengericht hat er Tirol verkauft, ja!« Mit einem Stoßseufzer fügte sie hinzu: »Ach, die Welt ist den Gottlosen überantwortet, wie mein geistlicher Herr immer sagt. Und du willst auch den Gottlosen zufalln? Aber ich bitt dich, bedenk doch dein Seelenheil! – Da kommt dein Vater!«

Sie wollte dem Klosterbauern, der aus Bruneck zurückkam, geschäftig helfen, seinen Mantel auszuziehen. Er aber stieß sie unwirsch zurück. Lisei beachtete er gar nicht.

Er hatte sein Testament, das Ambros zum Universalerben erklärte, umgestürzt. In dem neuen wurden seine beiden Söhne mit je fünfzig Gulden abgefunden. Lisei ganz an Ambros' Stelle zu setzen, dazu hatte er sich nicht entschließen können. Universalerbe sollte Liseis ältester Sohn aus ihrer Ehe mit Georg Arigaya sein, unter der Bedingung, daß er den Namen Falkner annähme. Bliebe die Ehe jedoch kinderlos oder entsprössen ihr nur Töchter, so sollte Lisei die Nutznießung bis zu ihrem Tode haben, worauf im ersteren Falle das gesamte Vermögen des Erblassers an die Pfarre von St. Vigil fiele, im zweiten Falle nur der Klosterhof, während das bewegliche Vermögen der ältesten Tochter zugesprochen würde. Stürbe der Klosterbauer, bevor Lisei und Jerg kirchlich verbunden wären, und weigerte sich Lisei nach seinem Tode, Jerg zu heiraten, so sollte sie, wie ihre Brüder, fünfzig Gulden erhalten und die Kirche von St. Vigil sofort Universalerbin werden. Die Zinsen sollten zur Hälfte zur Verbesserung des Pfarreinkommens, zur andern Hälfte zu einem Stipendium für einen aus St. Vigil gebürtigen Studenten der Theologie verwendet werden.

Die Beratungen mit dem Notar zu Bruneck über diese letztwilligen Bestimmungen hatten in dem Klosterbauern noch einmal die ganze Galle gegen Ambros erregt, und auch gegen Lisei, denn sie, ein Frauenzimmer, hatte er in die Erbfolge des Hofes einschieben müssen! Sein Gesicht war eine drohende Wetterwolke. Schwerfällig ließ er sich auf seinen Lehnstuhl nieder, und als ob Lisei, die ihn besorgt beobachtete, gar nicht in der Stube wäre, sagte er zu seiner Schwester:

»Es ist gut, daß du da bist! Du kannst der Lisei sagen, daß sie entweder den jungen Arigaya heiratet oder wie ihr Bruder ohne einen Kreuzer vom Hof geht. Darauf hab ich heut in Bruneck mein Testament gemacht Abgemacht! – Gibt's was Neues?«

Aber das Neue, das er soeben kundgetan, war für Vefa, obgleich es die Erfüllung ihrer Wünsche für Jerg enthielt, dennoch zu unerwartet, als daß sie seine Frage hätte beantworten können. Lisei erblaßte.

»Freilich, lieber Bruder«, begann Vefa endlich mit einem tieferen Aufatmen, und ihren Mund süßlich spitzend, hob sie nun von der Ankunft des Vikars Lacedelli zu erzählen an.

Lisei verließ geräuschlos die Stube. Ein tiefes Weh, daß der Vater nun doch seine Ehre wegwarf, erfüllte ihre Brust. Seine Drohung, daß sie den Hof verlassen müßte, wenn sie nicht gehorchte, erschreckte sie nicht; denn sie war ja von Kindheit auf an schwere Arbeit gewöhnt, und auch jetzt ging sie trotz ihrer tiefen Bekümmernis ihren häuslichen Geschäften wie immer nach. Ein anderes gesellte sich dazu: Wie oft hatte sie in ihrer Sehnsucht nach der Zuneigung des Vaters eine Gelegenheit herbeigewünscht, um ihm durch eine Tat ihre Liebe deutlich zu offenbaren! Nun bot sich eine solche Gelegenheit, und sie konnte sie nicht ergreifen, weil es sich nicht um ihr Glück allein handelte.

Vefa erschien, sooft sie in der Pfarre abkommen konnte, auf dem Klosterhof und tat, was in ihren Kräften stand, um Liseis Festigkeit zu untergraben, während der Vater die ganze Härte seines Wesens gegen sie herauskehrte. Die letzte Magd auf dem Hof hatte es besser als sie. Anderes als böse Blicke und Scheltworte bekam sie nicht mehr von ihm. Es war in ihm ein ewiges Grollen, das bei der geringsten Veranlassung ausbrach, und es fehlte nur noch, daß er sie tätlich mißhandelt hätte. Warum machte sie den peinlichen Tagen nicht ein Ende, indem sie entweder das edle Beispiel der Entsagung, das Hannes ihr gegeben, nachahmte oder in fremde Dienste ging?

Ja, warum tat sie es nicht? Sie hatte sich geweigert, von dem Recht ihrer Großjährigkeit Gebrauch zu machen, als die Katastrophe noch nicht hereingebrochen war. Konnte sie es jetzt tun, nachdem sie erfahren, wie schwer den Vater der Einsturz aller Hoffnungen, die er auf Ambros gesetzt, getroffen hatte? Nun, da er diese Hoffnungen wenigstens zum Teil auf sie übertragen hatte – sollte sie den Schlag gegen ihn wiederholen, sie, die ihn liebte? Mochte er immerhin in Ambros seinen Ehrgeiz geliebt haben, darum hatte er nicht minder schwer gelitten und Lisei wußte wohl, was sie alles getan hatte, um ihm die Wucht jenes Schlages weniger fühlbar zu machen. Wer würde sich seiner annehmen, wenn ihre Weigerung, Jerg zu heiraten, seinem Ehrgeiz auch den letzten Halt raubte?

Die Person des jungen Müllers war bisher bei ihren inneren Kämpfen gar nicht in Betracht gekommen. Sie war seit langen Jahren an den Verkehr mit Jerg gewöhnt, und wenn dessen zur Schau getragene stete Lustigkeit ihrem ernsten Sinn auch wenig zusagte und sie den lockeren Kameraden ihres Bruders auch nicht zu achten vermochte, so war er ihr doch gerade nicht widerwärtig oder verhaßt. Haß war ihr überhaupt bisher fremd geblieben, und ihre Aufrichtigkeit konnte einfach an keine Hinterlist glauben. Jerg aber hütete sich, ihr in dieser Krisis unliebsam zu begegnen. Vefa hatte ihm getreulich die Äußerung ihres Bruders über seine letztwillige Verfügung hinterbracht, und er überließ es nun ihr, die goldene Frucht für ihn vom Baume zu schütteln, während er seinerseits den Klosterbauern etwas in Geduld zu erhalten suchte, damit er Lisei zu keinem verzweifelten Entschluß triebe. Er selbst drängte Lisei nicht, redete in ihrer Gegenwart sogar für sie gegen den Klosterbauern, wenn dieser gar zu herb mit ihr war, und kam auch nicht allzu häufig auf den Hof. Lisei sollte erkennen, wie er sie zu schonen beflissen war. Die Enthaltsamkeit fiel ihm nicht eben schwer, da Liseis wortkarge Gemessenheit ihn hauptsächlich auf die Unterhaltung mit dem Klosterbauern anwies, was er nicht sonderlich vergnüglich fand. Daß er in den Gesprächen mit dem Alten sein Licht nicht unter den Scheffel stellte, verstand sich von selbst, und der Klosterbauer fühlte sich mehr und mehr zu ihm hingezogen; denn Jerg entwickelte einen bäuerlichen Geschäftsverstand, wie er jenem noch bei keinem andern so schneidig vorgekommen war.

Lisei fand indessen nicht gleich eine Gelegenheit, um mit ihm ungestört, ohne Zeugen zu reden. Nun fügte es sich, daß eines Nachmittags der Klosterbauer nach Tamers ging, um eine letzte Inspektion über seine dort befindlichen Rinder zu halten. Am nächsten Morgen sollte die gesamte Herde auf die Alpen getrieben werden. Jerg, der davon wußte, beschloß, sich die Abwesenheit des Klosterbauern zunutze zu machen, um Lisei endlich das Jawort abzudringen.

Sie war gerade in der Milchkammer, die im Erdgeschoß lag, beschäftigt, als Jerg sich einfand. Die Tür stand offen.

»Man mag kommen, wann man will: du bist immer fleißig!« begrüßte er sie.

»Es gibt auch immer zu tun«, versetzte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Stör ich?«

»Nein, es ist mir lieb, daß du gekommen bist«, erwiderte sie.

»Das gefällt mir; das hast mir noch niemals gesagt!« rief er.

Lisei beendete schweigend ihre Arbeit; dann forderte sie ihn auf, mit ihr hinaufzugehen.

In der Stube sagte sie: »Mir ist's lieb, daß du gekommen bist, weil ich mit dir zu reden hab. Setz dich doch hin.«

»Und ich mit dir«, versetzte er, indem er sich auf die Bank am Tisch niederließ. »Schau, wie gut das zusammentrifft!«

»So red!« sagte sie und lehnte sich erwartungsvoll mit der Hüfte gegen die Tischkante.

»Nein, das wär keine gute Art, wann ich den Anfang machen wollt!« scherzte er. »Die Gitsche muß man immer vorausgehn lassen. Und du weißt halt auch, was ich von dir möcht.«

»Was du verlangst, kann nit sein; und du weißt, weshalb's nit sein kann«, entgegnete sie mit einem flüchtigen Erröten. »Drum bitt ich dich: steh davon ab!«

»Nein, ich weiß nix!« erwiderte er mit frecher Stirn. »Wieso denn?«

»Ja, muß ich dich denn daran erinnern, daß ich schon längst mit dem Wolf Lechner versprochen bin?« fragte sie mit einem leichten Stirnrunzeln.

»Ach so! Darauf hatt ich ganz vergessen!« rief er gedehnt »Der Lechner ist ja auch fort und kommt schwerlich wieder, und dein Vater hat den Verspruch für aufgehoben erklärt. Sonst freilich – potztausend! Glaub's mir, es hat mir um deinetwillen recht weh getan, daß der Schmied von hier hat fortmüssen. Als ich von dem Rummel gehört hab, da hab ich zuerst an dich gedacht. Bei Gott! Aber zu ändern ist's doch nit mehr.«

»Ihr habt dem besten Menschen schweres Unrecht getan«, entgegnete sie mit traurigem Ernst, »und wer der Hetzer gewesen ist, dem wird's schon noch heimkommen. Aber ich will jetzt davon nit reden. Wann ich dir damals leid getan hab, so kannst du's jetzt beweisen; denn der Lechner wird wiederkommen, um mich heimzuführn, und ich werd auf ihn warten. Das haben wir einander versprochen und gelobt. Du mußt also einsehn, daß ich deine Frau nit werden kann.«

Jerg vermochte sich eines unbehaglichen Gefühls nicht zu erwehren. Es wäre doch fatal, wenn Wolf wiederkommen sollte! Allein, das hatte wohl gute Wege, und er ermutigte sich selbst in dem Ausruf, daß der Klosterbauer seine Einwilligung nie geben würde.

»Das mag schon sein; aber das ist doch nit deine Sach«, versetzte Lisei. »Jetzt, wo du weißt, wie's mit dem Lechner und mir steht, kannst du nit mehr darauf bestehn, mich heiraten zu wohn. Es ist ein Schimpf, den du mir damit antust.«

»Ein Schimpf?« wiederholte er, seine kleinen Augen weit aufreißend.

»Ja ein Schimpf!« wiederholte auch sie. »Gibst du mir dadurch nit zu verstehn, daß du mich für eine hältst, die einen wetterwendischen Sinn hat?«

Jerg fuhr sich langsam über Stirn und Augen, und als er die Hand sinken ließ, zeigte er ein betrübtes Gesicht. Kläglich sah er Lisei an, und kläglich sagte er: »Ach, das Unglück! Durchs Feuer ging ich für dich, bei Gott! Und ich soll dir einen Schimpf antun wolln! Ich hab gemeint, du hättet es mir längst angemerkt. Du kannst mich doch nit für so schlecht halten, daß ich dich von deinem Vater begehrt hätt, wann ich dir nit zugetan wär! O du blutiger Heiland, ich hab dich doch lieb, Lisei!«

»Das wär freilich ein Unglück für dich«, sagte sie kühl und ging zu einem Stuhl, der Jerg gegenüber an der Wand stand. »Aber es kann ja nit sein; ich bin ja meinen Jahrn nach ein altes Madl, und hübsch bin ich auch nit ...

»Ich bin ebenso alt wie du!« warf er ein.

»Aber als Mann bist viel jünger als ich«, fuhr sie fort »Du bist noch ein junger Bub und bist reich und kannst jeden Tag ein Madl haben, das jung und hübsch ist und dich wieder liebhat. Nein, Jerg, du redst dir bloß ein, daß du mich liebst. Du bist bloß seit vielen Jahrn an mich gewöhnt, weil ich die Schwester von deinem besten Freund bin. Du wirst auch schon einsehn, daß es so ist, wann du ein wenig drüber nachdenken willst.«

Er hatte sich von dem Geständnis seiner Liebe eine große Wirkung erhofft und war nun innerlich äußerst wütend, daß sein bester Fechterstreich nur die Luft verwundet hatte. Laut jedoch seufzte er: »Dennoch ist's so! Kann denn nit aus Gewohnheit und Freundschaft rechte Lieb werden? Wie ich das wüste Leben mit dem Ambros und den andern hab satt gehabt und zu Verstand gekommen bin, da hab ich erkannt, wie gut und brav und klug du bist; und das bleibt dem Menschen fürs Leben, wann das bißchen Hübscheit und die Jugend weg ist. Als ich dir in Tamers damals die Frau beschrieb, wie ich sie mir wünscht, da hab ich halt nur an dich gedacht.«

»Ach, bin ich denn noch nit unglücklich genug? Muß auch das noch kommen?« rief Lisei betrübt. »Aber ich kann dir nit helfen, wie leid du mir auch tust«, fuhr sie mit festerer Stimme fort. »Der Lechner hat mein Wort, und schlecht an ihm werd ich nit. Jetzt hat er mir aus Innsbruck geschrieben, daß er sich fest auf meine Treu verläßt«

»Wann's nur das ist!« bemerkte Jerg und haschte mit der hohlen Hand eine Fliege, die in seiner Nähe über den Tisch spazierte. »Wieviel Brautschaften sind in der Welt nit schon auseinandergegangen und gehn noch täglich auseinander!«

»Wann's nur das ist?« wiederholte sie und sah ihn mit großen Augen an. »Freilich, wann dir die Treu nix gilt …!«

»Wie du auch gleich alles wendest!« fiel er rasch ein, um seine Unvorsichtigkeit gutzumachen. »Ich hab nur gemeint, ein Wort, das man in Treuen gegeben hat, kann man auch in Treuen zurücknehmen. Du sollst nit schlecht an dem Lechner handeln, nein, nein, nein! Bei Gott nit! Wer hindert dich denn, dem Lechner ganz offen zu schreiben, wie die Sach hier steht? Er ist doch einmal ein Bayer, und kein Tiroler würd einem Bayer seine Tochter zur Frau geben. Jeder würd just so handeln wie der Klosterbauer. Ja, das würd er! Es hülf dir auch nix, wann ich dir mein Herz opfern tät. Tret ich heut zurück, so zwingt dich der Klosterbauer morgen, einen andern zu heiraten. Du vergißt, daß der Hof mit deiner Hand geht. Da würd's an Freiern nit fehln, und für den Klosterhof verlangt dein Vater einen Schwiegersohn. Was ist da zu machen?«

Lisei war bestürzt; denn sie mußte ihm recht geben.

Jerg beobachtete sie verstohlen, und wenn Lisei nicht mit nachdenklicher Stirn in ihren Schoß geschaut hätte, wäre ihr das triumphierende Aufblitzen in seinen Fuchsaugen nicht entgangen. »Mich kennst du«, fuhr er fort, »und wann du mich nimmst, dann weißt du wenigstens, was du kriegst. So bin ich von den Übeln, zwischen denen du zu wähln hast, noch das kleinste. Es ist lustig, daß ich das von mir sagen muß! Der Klosterhof zählt für mich nit, denn ich bin ja selbst reich genug. Ich will bloß dein Herz, und drum hab ich auch alles getan, was ich konnt, damit daß der Vater dir das Leben nit gar so schwer macht. Ein andrer würd sich nit so zwischen dich und ihn stelln. Und auch ich vermag's nimmer länger; denn deinem Vater reißt die Geduld. Er besteht drauf, daß nach der Sichelhenke, Sichelhenke – Erntefest wann das Korn herein ist und die Stoppeln untergepflügt sind, die Hochzeit sein soll.«

Lisei richtete mit einem halblauten Schrei den Kopf auf, und er beteuerte wie mit einem unterdrückten Seufzer: »Ja, das verlangt er. Du weißt, wann er sich einmal was vorgenommen hat, dann soll's auch gleich geschehn und fertig sein. Wir sind darüber auch in Streit geraten, weil ich dich nit drängen wollt und immer gehofft hab, daß ich noch dein Herz gewinnen würd. Es ist rechtschaffen von dir, daß du dem Schmied dein Wort halten willst; aber wann du ihm alles deutlich hinschreibst, wie ich's dir vorgestellt hab, dann wird er selbst drauf dringen, daß du euern Verspruch aufhebst. Von mir braucht dabei gar nit die Red zu sein; denn führ ich dich nit heim, so tut's ein andrer. Freilich würdest du's mit keinem andern, den dir der Vater aufzwingen wird, so gut haben wie mit mir; daraufhin kennst mich ja. Und schau, Lisei, es würd sich auch sonst wenig ändern für dich. Denn der Vater verlangt, daß wir hier auf dem Klosterhof bei ihm wohnen solln. Gefalln tut mir das freilich nit sehr – schau, ich bin ganz aufrichtig –, und lieber übernähm ich die Mühl, wo wir unsre eignen Herrn wärn, aber um deinetwilln hab ich auch dazu ja gesagt. Bei Gott!«

»Es geht nit!« rief Lisei aufgeregt. »Jetzt erkenn ich wohl, daß du wirklich ein gutes Herz hast; aber's geht nit. Hör mich nur ruhig an. Wann mir auch der Lechner mein Wort zurückgibt, drum bin ich nit frei. Ich hab wohl gemeint, daß ich dem Vater versprechen möcht, daß ich, solang er lebt, den Wolf nit heiraten will – wann er mich nur nit zwingt, dich zu nehmen. Verzeih mir doch ja, daß ich das sag; ich will dir damit nit weh tun. Jetzt müßt ich sagen: dich oder einen andern. Aber ich kann keinen andern heiraten, und wann du auf deinem Stück bestehst, dann muß ich vom Hof gehn. Glaub's mir, es wird mir gar schwer werden; aber ich muß. Ich kann dich nit lieben und werd dich nimmer lieben, wie ich's als deine Frau tun müßt – Nein, laß mich jetzt nur alles heraussagen, damit wir reinen Tisch zwischen uns machen. Ich soll dir vor dem Pfarrer Lieb und Treu geloben, und ich würd falsch schwörn. Denn ich könnt dir den Schwur nimmer halten, weil ich den Wolf Lechner immer im Herzen tragen werd, immer und immer. Ich müßt als deine Frau mit dir leben und würd den Wolf lieben! So schlecht kann ich nit sein! Es nützt nix, wann er mir auch sein Wort zurückgibt – ich würd doch nit aufhörn, ihn zu lieben. Ich würd ihn nur noch lieber haben, weil er mir ein so großes Opfer hat bringen und um meinetwilln auf sein eignes Glück hat verzichten können. Ja, Jerg, er würd mich freigeben, aber es nimmer verwinden; denn das weiß ich, daß er mich ebenso liebhat wie ich ihn. Mir würd's keine Ruh lassen, und es würd mich ganz elend machen, daß ich den Lechner unglücklich gemacht hab, den besten Menschen, den's auf der Welt gibt. Sag nit, daß ich mir das alles ausdenken tu! Nein, ich hab's ansehn müssen mit meinen eignen Augen und hab's mitgefühlt in meinem Herzen, was das für ein Elend ist und wie's den Menschen wie in einem Mörser zerstößt. Und wann du das Elend über mich brächtst, ich würd dich drum hassen, oh, ich würd dich so hassen! Und du könntst ja auch nit glücklich sein und würdst mich ebenso hassen wie ich dich. Drum kann ich deine Frau nit werden, und käm nach dir ein andrer, so würd ich ihm dasselbe sagen wie dir, offen und ehrlich.«

Ihr Gesicht glühte. Jerg hatte mit niedergeschlagenen Augen Lisei angehört; denn sie sollte nicht in ihnen lesen, daß ihn ihre Gründe völlig kaltließen. Ob Lisei ihn liebte oder nicht, daran lag ihm nichts. Mochte sie als seine Frau, soviel sie wollte, an den Schmied denken, wenn ihr Herz danach begehrte. Aber er war überzeugt, daß sie Wolf bald vergessen würde; die harte Lebensarbeit ließ keinen Raum für die Fortdauer solcher Gefühle, an die er selber überhaupt nicht glaubte, weil er sie nicht begriff.

»Ja, das ist recht traurig«, sagte er und hob langsam die Augen auf. »Aber ich dank dir, daß du mir das alles offen gesagt hast. Du hältst ebensowenig hinterm Berg wie ich. Mit der Aufrichtigkeit kommt einer am weitesten. Jetzt ist's doch ein Trost für mich, daß du mich ein bissl leiden magst. Es wär auch gar zu schrecklich für mich gewesen, wann du einen Haß auf mich gehabt hättst. Du wirst mir nit glauben, wann ich dir sag, daß du den Wolf vergessen wirst. Nein, vergessen wirst ihn nit. Ich mein, daß du eines Tags mit andern Gedanken an ihn denken wirst als heut. Der Mensch ist so wunderlich! Was er nit haben kann, just das verlangt er, und hinterher begreift er's meistens nit, weshalb er so versessen drauf gewesen ist. Wann er sein Stück durchgesetzt hat, nachher sieht er ein, daß es ihn gar nit so glücklich macht, wie er gehofft hat. Dem Ambros ist's auch so gegangen. Die Stasi hat durchaus sein werden müssen; auf keine Vernunft hat er nit gehört – was hab ich ihm nit alles vorgestellt! –, den Klosterhof hat er für sie weggeworfen, und jetzt?«

»Heilige Mutter Gottes, was sagst du da?« fiel Lisei ihm erschrocken in die Rede. »Der Brosi ist nit glücklich mit seiner Frau?«

Jerg überließ Lisei eine Weile ihrer Bekümmernis, dann begann er: »Ja, das ist gar traurig. Aber jetzt siehst, daß ich recht hatt! Es ist kein Verlaß auf die Lieb. Dein Bruder hat um der Lieb willn die Armut gewählt, und jetzt drückt sie ihn, und die Lieb tröstet ihn nit. Wer weiß, wie's dir ergeht, wann du wie er den Vater aufgibst und dein Erb dazu. Die Armut ist ein bittres Kraut, und von der Lieb kann der Mensch nit leben. Es ist was Ungewisses mit ihr, und kein Feuer brennt ewig! Ich sag dir das alles, weil du einen großen Verstand hast, Lisei. Du hast viel Schweres erfahrn im Leben, und darum kann einer schon anders mit dir reden als mit den übrigen Madeln. Du weißt, daß das Leben ein verdammt ernstes Ding ist, und hast auch gewiß schon manchen Herzenswunsch drangeben müssen. Hinterher tragt man's. Ja, du wirst mit andern Gedanken wie jetzt an den Schmied denken, wann du willst. Du mußt's nur wolln, und du wirst es.«

»Niemals!« schüttelte Lisei den Kopf. »Der Lechner und ich sind beide keine Kinder mehr gewesen, als wir uns einander verlobt haben. Und als der Lechner fortgegangen ist, da haben wir gewußt, was wir taten.« Sie stand auf.

Auf die schmalen Lippen Jergs, der noch sitzen blieb, trat ein Lächeln der Überlegenheit. »Du wirst schon wolln, sobald du ruhiger geworden bist«, sagte er. »Du wirst dir die Sach von alln Seiten betrachten, wie du sie jetzt kennst. Dann wirst einsehn, daß du nit nötig hast, dem Vater den Stuhl vor die Tür zu setzen. Eben weil du und der Lechner keine Kinder mehr seid, drum werdet ihr dem Verstand sein Recht geben. Ich weiß jetzt, wie's mit deinem Herzen beschaffen ist, Lisei, und ich lass' dir jede Zeit, daß du mit deinen Schmerzen fertig werden kannst. Ich mein, das ist auch eine echte Lieb, die ich dir damit erweisen tu. Ich biet dir die Hand, um dich vor größerm Unglück zu bewahrn, und ich lass' dir Zeit, damit du nachher ruhig an den Wolf wie an einen guten alten Freund zurückdenken kannst.«

»Es hilft alles nix«, versetzte Lisei und trat an den Tisch, auf den sie sich mit der flachen Hand leicht stützte. »Du hast ein gutes Herz, aber's hilft nix.«

»Gib mir jetzt keine Antwort!« rief er, indem er aufstand. »Überleg dir erst alles ordentlich und schreib's dem Wolf ganz genau, wie deine Lag hier ist. Was er dir dann zu tun anrät, dem will ich mich fügen, wann's auch gegen mich ausschlagen sollt. Aber das wird nit geschehn.«

Lisei schüttelte den Kopf.

»Behüt dich Gott, Lisei!« sagte er und gab ihr mit einem kräftigen Druck die Hand.

»Uff!« atmete er auf, als er im Freien war. »Ist das ein zähes Holz! Aber jetzt hat die Säg gefaßt, und durch geht sie!« Er steckte die Daumen in die Armausschnitte seines Brustlatzes und ging pfeifend seines Weges. Lustig klang es durch die beginnende Abendstille. Er hielt seine Sache für gewonnen und gab der Geschicklichkeit, mit der er die arme Lisei umgarnt hatte, alle möglichen Schmeichelnamen. Ein Kunststück ist's gewesen, daß dir keiner so bald nachmacht! lobte er sich selbst, und zum Lohn dafür beschloß er, sich im »Stern« eine halbe Spezial zu gönnen. Um nicht an der väterlichen Mühle vorüberzumüssen, schlug er den Pfad über den Spitzhörndlbach ein. Der Schnee, der noch auf dem Scheitel der Kalkfelsen lag, leuchtete wie rosige Glut, und nun schlug die Flamme zum Himmel empor und verwandelte die droben schwebenden Wölkchen in Feuerflocken. Jerg blickte nur einmal in die Höhe und stellte sich vor, was das für einen Brand im ganzen Tal geben würde, wenn es eines Tages hieße: Morgen macht der Jerg Arigaya mit der Lisei Falkner Hochzeit! Gute Nacht, Sägemüller! Grüß Gott, Klosterjerg! begrüßte er sich selbst, wobei er seinen breiten Mund zu einem Grinsen verzog. Und dann rechnete er. Die zur Mühle gehörige Landwirtschaft wollte er gleich bei seiner Verheiratung dem Vater abnehmen; die Felder lagen so, daß sie bequem mit dem Klosterhof vereinigt werden konnten, und der Vater war wohl zu alt, um neben der Mühle noch der äußeren Wirtschaft vorstehen zu können. Auch mußte hier wie auf dem Klosterhof ein anderer Schwung hineinkommen.

Als er über die Trift am Bach zum Kirchplatz heraufkam, bemerkte er vor dem Pfarrhaus viele Menschen; aber sie verhielten sich ganz still. Neugierig näherte er sich der Menge und erfuhr, daß der Pfarrer im Sterben liege. Der Dechant von Enneberg war geholt worden, um ihn mit den Sakramenten zu versehen. Jerg ging ruhig davon. Es beschwerte sein Gewissen nicht einen Augenblick, daß seine Hetzerei gegen Wolf Lechner die Schuld an der Krankheit und dem Tode des Pfarrers trüge. In der Haustür vom »Stern« stand Moideli und sah nach der Pfarre hinüber. Sie war allein daheim; auch Mutschleitner und seine Frau waren nach dem Sterbehaus gegangen. Jerg wollte mit ihr anbändeln; aber gehörte er schon überhaupt nicht zu denen, die bei ihr in Gunst standen, so stimmte sie das nahe Ende des Pfarrers viel zu ernst, um zu scherzen. Sie brachte Jerg den verlangten Wein in die leere Wirtsstube und überließ ihn sich selbst. Nun, Jerg war sich fidele Gesellschaft genug, und als er sich das erste Glas einschenkte, fiel ihm ein, wie ihm Ambros eines Abends an derselben Stelle gegenübergesessen und ihm angeboten hatte, um Stasis Rose an seinem Hut zu raufen. »Wann sie noch von Gold wär!« hatte er damals dem Übermütigen geantwortet. Jetzt hatte er sich eine goldene Rose gewonnen, und die des Ambros war verwelkt und entblättert. Das war lustig! Er tat einen tiefen Zug aus seinem Glas und schmatzte mit den Lippen.

Eben verließ der Dechant unter Vortritt des Mesners das Pfarrhaus. Das Erscheinen des Dechanten war das Zeichen, daß Herr Moltenbecher tot war; dennoch hörte man kein Klagen und Weinen. Die Leute standen wie eingewurzelt; sie schienen noch etwas zu erwarten. »Mit Gunst, Ehrwürden«, rief eine Stimme, die dem Blaufärber von St. Vigil gehörte, »aber wir hörn die Sterbeglocke nit!«

»Wißt ihr denn nicht, liebe Freunde, daß die Regierung das Läuten des Sterbeglöckleins verboten hat?« fragte der Dechant.

Die Bestürzung war allgemein. So weit also sei es unter der bayrischen Regierung gekommen, stellte man fest, daß mit einem Christenmenschen nicht mehr Umstände gemacht würden als mit einem Hunde. »Warum dulden wir's?« fragte Sampogna, das Gamsmanndl, und schob den Riemen seiner Büchse auf der Schulter zurecht. Er war nachmittags mit Ambros auf dem Paratscha gewesen, wo er den Horst eines Adlers vermutete, dem jüngst einige Ziegen zur Beute gefallen waren. Ein angefressenes Gamszicklein, das die beiden Jäger in einer Klamm Klamm – Felsenschlucht (mit Wasserlauf) des Paratscha gefunden, hatte den Verdacht verstärkt. Ihr Pirschen war indessen erfolglos geblieben, und während Ambros nach Hause gegangen, war das Gamsmanndl auf dem Rückweg bei der Pfarre stehengeblieben.

»Ja, warum dulden wir's?« fragte auch der Färber.

»Was können wir denn tun?« hieß es dagegen, und die Weiber klagten, daß sie jetzt ganz verlassen wären; denn den Vikar könne man nicht als einen rechten Priester gelten lassen, sonst hätte ja auch der Herr Pfarrer in seinem letzten Stündlein nicht nach dem Herrn Dechanten geschickt.

Nein, der Vikar Angelo Lacedelli galt den Vigilern nicht für einen rechten Priester. Als er zum erstenmal die Kanzel bestiegen hatte, da war die Kirche gedrängt voll gewesen; aber nicht die Andacht, sondern die Neugierde hatte die Menschen angelockt. Man wollte sich doch den Vikar ansehen, den nicht der Bischof von Brixen, sondern die bayrische Regierung berufen hatte. Wenn nun auch selbst das mißtrauischste Auge an den Bewegungen und Worten, mit denen er die Messe zelebriert, keine Neuerung zu erspähen vermocht und seine Predigt sich von jeder Ketzerei ferngehalten hatte, so hatte es ihm dennoch nichts genützt; er war ein vereidigter, das heißt von der Kirche abgefallener Priester! Seine Zuhörer hatten wohl empfunden, daß sie ein frischerer, feurigerer Geist aus seinem Munde anwehte, und der weibliche Teil hatte kaum einen Laut des Staunens unterdrücken können, als er vor den Altar getreten war – so schön hatte er ausgeschaut; aber er war kein Diener Gottes, sondern ein Diener der verhaßten Regierung. Der Bann, unter dem sie seine persönliche Erscheinung und seine herzergreifende Beredsamkeit gehalten hatte, war draußen auf dem Kirchhof geschwunden, nachdem die Leute eine Weile beieinander gestanden und sich angesehen hatten. Keiner hatte das verhängnisvolle Wort aussprechen mögen; aber in allen Augen war es zu lesen gewesen, und jedes bedächtige Kopfschütteln hatte es verkündet: Er ist ein Abtrünniger, ein Ketzer!

Vefa hatte den Unsinn herumgetragen, den sie aus dem belauschten Gespräch des Vikars mit ihrem Neffen herausgehört hatte. Wer konnte nun noch daran zweifeln, daß Angelo Lacedelli von den Bayern nach St. Vigil geschickt worden war, um die Seelen mit seinen Irrlehren zu verderben?

Um sich mit den Verhältnissen seiner Pfarreingesessenen bekannt zu machen und ihr Vertrauen zu gewinnen, ging der Vikar in die Hütten und Häuser der Leute. Zwar wurde er überall ehrerbietig aufgenommen – denn der Respekt vor dem geistlichen Rock steckte den Leuten zu tief im Blut, und die Ladiner sind überdies von Natur höflicher als ihre deutschen Landsleute –, allein, zutunlich wurden sie nicht, und es gelang ihm nicht, ihnen persönlich näherzukommen. Sie deckten sich mit ihrer Höflichkeit oder taten, als verständen sie nicht, was er wollte, und ein: »Ja, das wird schon so sein!« war alles, was er ihrer Zähigkeit abzupressen vermochte. Die Großbauern taten, als käme er zu einer Revision ihrer Keller und Speisekammern, und diese erschlossen sie ihm bereitwillig.

Der Klosterbauer, dem er um die Zeit der Jause seinen Antrittsbesuch machte, ließ auftragen, als wäre der liebe Gott bei ihm zu Gast. Vierhundert Gulden betrug die ganze Einnahme der Pfarre von St. Vigil; da sollte der Herr Vikar sehen, was so ein herrischer Bauer dagegen vermöge – trotz Steuerdruck und Kontinentalsperre! Der Herr Vikar solle nur nach Kräften zulangen, es mache nichts aus, wieviel er esse und trinke, nötigte der Klosterbauer fleißig und vereitelte damit jeden Versuch des jungen Geistlichen, das Gespräch von der Wirtschaft, den Kühen und Ziegen auf persönliche Zustände und Verhältnisse überzuleiten. Das ganze Benehmen des Klosterbauern sagte: Du kannst lange spionieren, ehe du von mir etwas herauslockst!

Das Mißtrauen stand zwischen Lacedelli und den Leuten wie eine unübersteigbare Mauer. Es ließ auch keinen näheren Umgang mit dem Landrichter und dem Oberförster zu. Als Beamte der bayrischen Krone hatten sie allerdings Rücksichten gegen den Vikar zu nehmen, und sie mußten ihm ihre Häuser offenhalten, wie sie in der Herrenstube des »Sterns« eine Unterhaltung oder eine Partie Boston mit ihm nicht ablehnen konnten. Hierbei machte der Steuereinnehmer, der nur zur Berechnung den Mund auftat, den Vierten; er war eine lebende Bostontabelle und schrieb die Bete Bete – Spieleinsatz bzw. Strafsatz für den Verlierer beim Kartenspiel. an. Herr Planta schmollte, und grollte innerhalb seiner vier Pfähle und fluchte auch wohl etwas als frommer Waidgesell, wenn er einen Abend in der Gesellschaft des Vikars hatte zubringen müssen. Der freisinnige Landrichter stimmte zwar in manchen Fragen mit dem Vikar überein, doch trennte sie der Haß, den er gegen Napoleon und seine Satrapen hegte, während der Vikar das Genie des Korsen bewunderte. Zudem war es Herrn Zengerl, der sich in seinen Manieren wie in seiner Kleidung gehenließ, nicht sehr behaglich in der Gesellschaft des geistesregen Vikars, der seine Worte schönrednerisch zu setzen wußte und sich mit jener Glätte benahm, die die Priester mit den Diplomaten gemein haben.

Als der Vikar eines Abends mit guter Miene zum bösen Spiel von dem Mißtrauen der Leute erzählte, das ihn fast zu einem Hexenmeister stempele, bemerkte der Landrichter, indem er sich sein strickartig gebundenes Halstuch noch mehr lockerte: »Ja, Herr Vikar, zur Zeit der Hexenprozesse hat auch mancher Pfarrer auf den Scheiterhaufen steigen müssen. Heut sind die wirklichen Scheiterhaufen nur noch für englische Waren im Gebrauch, aber die moralischen Hexenbrände dauern noch immer fort.«

Der Oberförster blies zustimmend dichte Rauchwolken aus seiner Meerschaumpfeife. Der Vikar meinte, daß es daher um so nötiger wäre, die Spinngewebe des Aberglaubens aus den Köpfen wegzufegen.

Herr Zengerl pflichtete ihm bei. »Aber es ist ein Augiasstall, Augiasstall – verwahrloster Stall, in dem Augias, der sagenhafte König von Elis, 3000 Rinder hielt und den Herkules in einem Tag ausmisten mußte. Bildlich für verrottete Zustände. den Sie reinigen wolln!« fügte er hinzu. »Und ich möcht Sie weniger mit einem Hexenmeister als mit Herkules vergleichen: Das Amt, das Ihnen die Regierung gegeben hat, ist ein Nessusgewand.« Nessusgewand – in der griechischen Sage vergiftetes, verderbenbringendes Gewand.

Der Vikar zuckte leicht zusammen. »So raten Sie mir«, bat er, »wie ich das Mißtrauen, dem ich überall begegne, entkräften kann.«

Herr Zengerl wühlte in seinen Haaren und zog dann die Schultern in die Höhe. Wenn es die Zeit nicht täte …, meinte er gedehnt und ließ den Satz unvollendet.

Aber die Zeit tat es nicht. Die Kirche wurde leerer und leerer. Die Leute gingen zur Andacht nach Hof und Enneberg und sogar nach Zwischenwasser. Nur ein paar Greise und Krüppel waren seine Zuhörer und kamen zu seinem Beichtstuhl. Die Kranken begehrten nicht seines Trostes, die Sterbenden nicht der letzten Ölung durch ihn. Und jetzt hatte selbst Herr Moltenbecher in seiner letzten Stunde nicht nach ihm verlangt, sondern den Dechanten holen lassen, obgleich sich sein Verhältnis zu dem alten Mann allmählich freundlicher gestaltet hatte.

Er hatte es für seine Menschenpflicht gehalten, dem Pfarrer seine Mußestunden zu widmen, um ihm die Langeweile zu vertreiben. Wohnte er doch unter seinem Dach, aß er doch von seinem Brot!

Er hatte mit ihm geplaudert, ihm vorgelesen und mit ihm Schach gespielt, geduldig wartend, daß der Kranke darüber einschliefe. Religiöse und politische Fragen waren unberührt geblieben, und der Pfarrer hatte mit der Selbstsucht des Kranken mehr und mehr auf ihn Beschlag gelegt. Er hatte sich gut unterhalten und über die Warnungen Vefas, die für sein Seelenheil fürchtete, nur gespöttelt. Sein Korn sei geschnitten, hatte er sie beruhigt, da könne der Wolf nicht mehr hinein; und er hatte sie geneckt, daß sie wohl fürchte, von dem Vikar aus seinem Testament verdrängt zu werden.

Vielleicht war sie auch in diesem Punkte nicht ohne Besorgnis; denn einem abtrünnigen Priester, so meinte sie, könne man in keiner Beziehung etwas Gutes zutrauen; und sie ließ es an kleinen Unaufmerksamkeiten und Vernachlässigungen nicht fehlen, die es einem Gast zu Gemüt führen, daß man seiner gern ledig wäre. Sie sehnte sich geradezu danach, daß der Vikar durch irgendeine Beschwerde darüber einen Anlaß böte, ihren inneren Groll gegen ihn offen herauszulassen. Er beklagte sich jedoch über nichts, und seine kühle Höflichkeit, mit der er auf ihre Stellung in der Pfarre Rücksicht nahm, nötigte sie, sich Zwang anzutun.

Er kostete den Schmerz eines Mannes, der sich der besten Absicht bewußt ist und überall verkannt und zurückgestoßen wird. Mußte er nicht jede Hoffnung fahren lassen, in seiner Gemeinde wohltätig zu wirken und die Menschen allmählich für den Geist der neuen Zeit zu gewinnen? Wand an Wand mit ihm ruhte der Tote, und entmutigt fragte er sich, ob die Zufriedenheit eines engbegrenzten Lebens, wie jener es geführt hatte, nicht jedes höhere Streben aufwöge. Wie heiter hatte der Greis dem Tode entgegengesehen, in welchem Frieden war er gestorben!

Durch das offene Fenster kamen allerhand Nachtinsekten herein, umkreisten das Licht, das auf dem Tisch brannte, und versengten sich. Der Vikar blickte auf die kleinen Leichen, die den Tisch bedeckten, und mit einem bitteren Gefühl verglich er sein Schicksal dem ihren. Hatte nicht auch er sich die Flügel an dem Licht verbrannt, dem er nachstrebte? Verblendet – so hatte Hannes ihn genannt. War es nicht vielleicht die Flamme eines Lichtstümpfchens, was er für die Sonne hielt? »Was ist Wahrheit?« seufzte er.

Doch nein, eine neue Zeit war angebrochen, und Entsagung wäre Verrat aus Feigheit gewesen! Der Gewaltige, der aus dieser Zeit hervorgegangen war, besaß auch die Macht, die Welt vor dem Rückfall in die alte Finsternis zu bewahren! Wenn je, so besaß er sie jetzt! Lag doch nun auch Spanien zu seinen Füßen! Ein Aufstand, der in Araniuez ausgebrochen, war rasch niedergeschlagen worden, und die jüngsten Zeitungen hatten gemeldet, daß Ferdinand VII Ferdinand VII – (1784-1833), Sohn Karls IV. von Spanien; wurde am 19. März 1808, als in Aranjuez die Empörung des Volkes gegen das verhaßte Regime zum Ausbruch kam, jubelnd als König begrüßt, mußte seinem Vater jedoch kurze Zeit später auf Veranlassung Napoleons die Krone zurückgeben und stellte sich unter den Schutz Bonapartes, der ihm erst Ende 1813 den spanischen Thron wieder anbot. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich ließ er in Spanien eine blutige kirchliche und politische Reaktion mit Inquisition einsetzen und sah sich erst durch den Januaraufstand 1820 genötigt, die Konstitution von 1812 wiederherzustellen. aufgehört hatte zu regieren. Joseph Napoleon, Joseph Napoleon – Joseph Bonaparte (1768-1844), ältester Bruder Napoleons I.; wurde nach dessen Thronbesteigung zum kaiserlichen Prinzen, 1806 zum König von Neapel und im Juni 1808 zum König von Spanien ernannt, wo er sich nur unter dem Schutz der französischen Waffen behaupten konnte. Nach der Niederlage der Franzosen bei Vittoria (21. 6. 1813) floh er aus Spanien., der Bruder des Kaisers, war zum König von Spanien ernannt worden. Von den Wogen der Ostsee bis zum Kap Spartivento, Kap Spartivento – Südspitze des italienischen Festlandes im Ionischen Meer. von der Weichsel bis zu den Küsten des Atlantischen Ozeans herrschte der Frankenkaiser. Wer wollte gegen die Macht sich stemmen wer sie erschüttern? Das war der Fels, auf dem sich die neue Kirche aufbaute – eine Kirche, frei von dem Despotismus der Priesterkaste, ein Glauben, neugeboren durch Einkehr in das Gewissen! – Teilzunehmen an diesem Bau, bist auch du berufen! ermannte sich Lacedelli. Das Geschrei der Menge und ihre Feindschaft sollten ihn nicht beirren! Ausharren im Kampf war das Losungswort!

Als ob es der Bach ihnen zugetragen hätte, so ging die Kunde, daß der Pfarrer von St. Vigil das Zeitliche gesegnet habe, von Ort zu Ort, von Hütte zu Hütte, und überall sprach man davon, daß er die Sterbesakramente nicht von seinem Vikar habe empfangen wollen und daß die Totenglocke nicht geläutet worden sei. Die ganze Talschaft strömte zu dem Begräbnis in St. Vigil zusammen. Der tote Pfarrer wurde zu einer Standarte, um die sie sich sammelten.

Lacedelli seinerseits war sich dessen klar bewußt. Sein letzter Zweifel daran mußte an dem Verhalten des Dechanten und seiner beiden Adjunkten, des Pfarrers von Zwischenwasser und des Kuraten von St. Martin, schwinden. Der Dechant hatte die geistlichen Herren ausdrücklich zu dem Begräbnis eingeladen und ihnen nicht das Pfarrhaus, sondern den »Stern« zum Versammlungsort bestimmt. Sie kamen auch nicht in die Kirche, wo Lacedelli über dem vor dem Hochaltar stehenden Sarg die üblichen Totengebete las, sondern hatten sich nach dem Friedhof begeben und sich an der offenen Grube aufgestellt. Kampf war also die Losung, und deshalb tönte die Stimme des Vikars nicht murmelnd durch das Gotteshaus, sondern klang wie Metall. Stolz war seine Haltung, und stolz trug er den schönen Kopf, der sich wie bronziert von dem weißen Meßgewand abhob.

Die Menge aber fühlte sich durch das Wegbleiben der Geistlichen beunruhigt, und der Vikar sah die Köpfe zu seinen Füßen wie die Ähren eines Kornfelds im Winde wogen. Was konnte ihre Abwesenheit anders bedeuten, als daß sie mit dem abtrünnigen Priester keine Gemeinschaft halten durften? Die Leute schwankten, ob sie bleiben oder sich ebenfalls entfernen sollten, und von denen, die dem Portal am nächsten waren, schlichen sich viele hinaus. Die Unruhe wuchs. Was würde es am Grabe geben? Es mußte sich etwas ereignen, und als der Sarg hinausgetragen wurde, drängten sich ihm die einen hastig voraus, während die anderen sich ihm in einem ungeordneten Haufen nachschoben. Aller Augen hingen in höchster Spannung an den schwarzen Gestalten der Geistlichen und ließen nicht von ihnen ab. Es geschah indessen nichts Ungewöhnliches, denn der Herr Dechant war viel zu klug, als daß er dem Feinde durch eine ungesetzliche Handlung einen Vorteil gewährt hätte, und die Zeremonien nahmen ohne Störung ihren Verlauf. Der Vikar vollzog sie mit Würde, im Blick die gleiche Festigkeit, mit der ihm das Auge des Dechanten begegnete. Hannes war vielleicht unter all den Menschen der einzige, der der Bestattung mit aufrichtiger Betrübnis beiwohnte. Er hatte den Verstorbenen seit seiner Begegnung mit Lacedelli nicht wiedergesehen. Erst die Stimme des Dechanten gemahnte ihn wieder an die besonderen Umstände, unter denen die Beerdigung stattfand.

Die Grube war zugeschaufelt, der Vikar hatte das letzte Amen gesprochen und stand im Begriff, sich zurückzuziehen – da rief der Dechant, daß es weithin vernehmbar war: »Laßt uns von dem Grabe nicht scheiden, liebe Freunde, ohne noch ein besonderes Gebet für die Seelenruhe des teuren Verstorbenen gesprochen zu haben. Wir alle haben ihn ja gekannt und geliebt und hochgehalten, weil er feststand in dem Glauben unserer heiligen Kirche!«

Mit einer unverkennbar frohen Hast kam man der Aufforderung nach. Lacedelli preßte die Lippen zusammen; denn er verstand sehr gut, was der Dechant mit diesem Gebet bezweckte und weshalb er die kirchliche Glaubenstreue des Verstorbenen betont hatte. Da aber nichts Gesetzwidriges darin lag, konnte er nichts dagegen tun und schloß sich selbst dem Gebet an, das gleichsam ein Triumphgesang über ihn war.

Hannes sah ihm mitleidig nach, als er sich in die Kirche zurückzog, und einige Sekunden später folgte er ihm. Er fand ihn in der kleinen Sakristei aufgeregt hin und her gehend. Noch hatte er das Meßgewand nicht abgelegt.

»Ach!« rief er Hannes mit glühenden Augen entgegen. »Ist Ihr Herr Dechant jetzt zufrieden? Nicht genug, daß er durch sein Fortbleiben aus der Kirche diese meine Gemeinde als durch mich entweiht hinstellt – er muß ihr auch noch deutlich machen, daß die Ruhestätte des Toten erst durch sein Gebet die echte und rechte Weihe erhalte. Sagen Sie ihm, daß er zu früh triumphiert! Ich fürchte ihn nicht – nicht ihn, Sie alle nicht!«

Hannes hob beschwichtigend seine Hände und versicherte, daß ihm nichts ferner liege, als sich an der Demütigung seines ehemaligen Studiengefährten zu weiden. Er sei gekommen, um eine inständige Bitte an ihn zu richten, doch er wolle sich gern auf eine gelegenere Zeit bescheiden.

Lacedelli blickte ihn durchdringend an. »Ihre Bitte muß in der Tat wichtig sein«, sagte er mit einem Anflug von Ironie, »da Sie ihretwegen die Gemeinschaft mit mir nicht scheuen.«

»Sie ist wichtig um Ihretwillen«, versetzte Hannes. »Die Worte, mit denen Sie mich empfingen, haben Ihre Lage hier genau bezeichnet. Wie wolln Sie wirken, wann Ihre Gemeind vor Ihnen zurückweicht, Sie allein läßt? Die schönen Gaben, die Ihnen verliehen sind, müssen auf diese Weis nutzlos rosten. Es gibt nur ein Mittel, das Vertraun der Menschen zu gewinnen: Verfolgen Sie die Bahn, die Sie eingeschlagen haben, nit weiter! Ich bitt Sie herzlich drum.«

Das Gesicht des Vikars färbte sich dunkelrot »Ah!« rief er, mit seinem Zorn ringend. »Ich weiß, daß Sie es redlich meinen, und darum will ich Ihnen antworten. Sie verwechseln die katholische Kirche mit Ihrer Hierarchie. Was Sie von mir verlangen, heißt unter das Joch der Priesterherrschaft zurückkehren. Denn dahin hat es Rom ja längst gebracht, daß der Priester die Stelle der Kirche einnimmt. Habe ich unrecht, Herr Kurat? Was ist denn der Glaube dieser armen Menschen, die auf die Aufforderung des Herrn Dechanten fast jauchzend auf die Knie fielen? Der Priester! Statt die Menschheit zur Freiheit zu erziehen, hat die Geistlichkeit sie zur bedingungslosen Unterwürfigkeit unter Rom erzogen; statt die Gemüter zum Glauben zu erwecken, hat sie den Glauben mehr und mehr veräußerlicht und an die Stelle des Gewissens und der Überzeugung den Priester gesetzt. Ohne ihn gibt es keinerlei Beziehungen des Laien zu Gott. Der Priester allein hat die göttliche Wahrheit in Besitz und Verschluß und teilt davon dem Laien mit nach eigenem Ermessen. Hat er sie etwa durch ein besonderes geistiges Ringen erworben, durch eine besondere Heiligung, die er in sich vollzogen hat? Ach, Herr Collega, wir beide wissen es ja, daß wir durch nichts dergleichen zu ihr gelangt sind, sondern lediglich durch Handauflegung und Ordination! Ordination – Einsetzung eines Geistlichen in sein Amt; in der katholischen Kirche die Weihe zur Vornahme heiliger Handlungen. Und so geht es aufwärts von Stufe zu Stufe bis zu dem Heiligen Stuhl. Nicht gute Taten, nicht Gebet, keine Lauterkeit des Herzens und keine Reue führen den Menschen zu Gott – der Priester allein leitet ihn dorthin. Der Priester besorgt alles. Der Priester betet, absolviert, erteilt Indulgenz, Indulgenz – Ablaß; nach der katholischen Lehre Erlaß »zeitlicher« Strafen. Gnade, Heil und öffnet und schließt die Pforten des Paradieses. Was Wunder, wenn der Katholizismus bei dieser Allmacht und Unfehlbarkeit der Priesterkaste zu äußerem Formwesen, zum geistlosen Buchstaben geworden ist? – Nun wohl, ich will aus dem Felsen, zu dem die katholische Kirche versteinert ist, den lebendigen Quell schlagen; ich will die Gemüter zum Glauben zurückführen, das religiöse Gewissen von den Toten auferwecken. Und jetzt kommen Sie und ermahnen mich, davon abzustehen, mich dem Despotismus der Hierarchie zu unterwerfen, die all das Übel verschuldet hat, an dem unsere Kirche bis in die tiefsten Wurzeln krankt! Hat es denn in Ihrem Leben nie eine Stunde gegeben, in der Sie den Druck dieser Sklaverei empfunden haben? Hat sich Ihr Gewissen, Ihre Überzeugung nie dagegen empört?«

Hannes, der ihm mit pochendem Herzen zugehört hatte, den Hut unter den linken Arm geklemmt und in den Händen seine ungeöffnete Horndose, fühlte, wie ihm bei diesem Appell das Blut in die Wangen stieg, und er vermied es, dem feurigen Auge des Vikars zu begegnen. Er schwieg, und es entstand eine kleine Pause.

»Sie haben entsagt und sich gefügt«, sagte der Vikar, der ihn verstanden hatte. »Ich vermag Ihrem Beispiel nicht zu folgen. Mich ruft die Stimme der Menschheit, und ich werde kämpfen!«

»Mich ruft die Stimme meines Nächsten«, äußerte Hannes leise und blickte ihn traurig an. »O daß eine Kraft wie die Ihre dem Vaterland in seiner Not verlorn ist! Ich bin nit zum Reformator berufen und fühl, daß ich nit die Gabe besitz, Ihre Überzeugung zu erschüttern. Nur bedenken Sie, daß die Freiheit, für die Sie schwärmen, aus dem Boden des Vaterlands herauswachsen muß wie das Edelweiß auf unsern Alpen. Ihren Ideen fehlt das Erdreich, in dem sie Wurzeln schlagen könnten. Ihre Saat fällt hier auf unfruchtbarn Acker.«

»So werde ich ihn düngen, und wenn es sein muß, mit meinem Herzblut«, lächelte der Vikar.

Sie schieden, jeder mit einem tiefen Blick in des andern Auge.

Unterdessen wogten die Menschen auf dem Friedhof und dem Anger durcheinander. In den Gruppen, die sich bildeten, fielen schadenfrohe und harte Äußerungen über den Vikar. Man erörterte die Frage, was anzufangen wäre, wenn der Vikar der Nachfolger Moltenbechers würde. Es sei doch unmöglich, die Kinder von dem abtrünnigen Priester unterrichten zu lassen. Just darauf habe es die Regierung abgesehen, hieß es. Wenn es so stände, meinten andere, dann täte man am besten, mit dem Vikar so wie seinerzeit mit dem Schmied Lechner zu verfahren. Vefa gehörte zu den Aufgeregtesten und Erbittertsten. Es hatte sie schon gereizt, daß sich die geistlichen Herren nicht wie üblich vor der Beerdigung im Trauerhause versammelt hatten, wo sie einen Imbiß bereitgestellt hatte. Nun lud sie die Herren dazu ein; der Dechant aber dankte für alle: man setze sich nicht mit einem Ischariot Ischariot – Judas Ischariot, Gestalt aus dem Neuen Testament; verrät Christus für 30 Silberlinge zu Tisch und teile nicht das Brot mit ihm.

Die Geistlichen verließen den Kirchhof. Vefa wiederholte zu jedermann, daß der Vikar ein Ischariot sei, und das Wort schlug ein. Einzelne Stimmen riefen nach einem Strick, damit er sich hängen könnte. Vefa schwor, daß sie keine Stunde länger mit ihm unter einem Dache bliebe; am morgigen Tag wolle sie die Pfarre ausräumen. Der Ischariot solle zusehen, wer ihm in den vier nackten Wänden wirtschafte.

»Da tät die Muhm doch unrecht«, spottete eine Stimme neben ihr; »denn ist der Vikar ein Ischariot, so verkuppelt sie ihr eignes Fleisch und Blut. Einen bessern Herrn kann sie also nit finden?«

Vefa zuckte zusammen, als wäre sie mit nacktem Fuß in Dornen getreten, und dann schoß sie davon, ohne sich nach dem Sprecher umzusehen. Sie hatte gleich an der Stimme erkannt, daß es ihr Neffe Ambros war, der sie verhöhnte.

»Ach, Brosi, das hättst nit sagen solln!« flüsterte Lisei, die sich ihm in demselben Augenblick mit Afra genähert hatte.

»Ist's etwa nit wahr?« fragte Ambros heftig.

Afra, die von Frische und Schönheit strahlte, legte den Finger auf die Lippen. »Kommt beiseit, wann ihr davon reden wollt«, sagte sie leise und lenkte die Schritte den Geschwistern voraus nach einer einsameren Stelle.

Lisei erkundigte sich unterdessen nach Stasi, und Ambros antwortete kurz und ungeduldig, daß sie zu Hause geblieben sei.

Sie hatte in ihrem Zustand das Gedränge in der Kirche und auf dem Friedhof gescheut; über die Schlehdornhecke droben, die mit weißen Blüten wie überschneit war, hatte sie dem Begräbnis zugeschaut

Lisei gedachte mit einem stillen Seufzer der Bemerkungen Jergs über ihren Bruder, und ihrem weiblichen Scharfblick entging es auch nicht, daß Ambros, obgleich er wie alle Welt zu dem Begräbnis sein bestes Zeug angelegt hatte, durchaus nicht sonntäglich oder stattlich wie sonst aussah. Es lag ein Anflug von Vernachlässigung über seiner Erscheinung.

»Ich bin's gewesen, die deinem Bruder erzählt hat, daß der Jerg Arigaya um dich freit«, nahm jetzt Afra das Wort. »Er hat's mir immer nit recht glauben mögen.«

»Ich hätt den Jerg selbst schon drum gefragt, wann er mir nit immer aus dem Weg ging«, sagte Ambros. »Auf eine Reiche hat er's freilich immer abgesehn gehabt, das weiß ich. Aber für so ungescheit hätt ich ihn nit gehalten, daß er die Hand nach dem Klosterhof ausstrecken würd!«

»Bloß um eine Reiche soll's ihm zu tun sein?« fragte Lisei stockend. »Natürlich hat er dir's nit von der Seit vorgestellt«, schaltete sich Afra ein. »Denn das wirft einer der Gitsche doch nit ins Gesicht, daß ihm bloß an ihrem Geld gelegen ist. Gegen seinen Vater hat er kein Hehl draus gemacht.«

Lisei machte ein trauriges Gesicht. Nicht ihre Eitelkeit war verletzt, sondern ihr redliches Gemüt. Mit einem tiefen Atemzuge sagte sie: »In dem, was mir der Jerg vorgestellt hat, weshalb ich ihn heiraten sollt, war manches so uneben nit. Ob er mich bloß wegen dem Klosterhof begehrt oder nit, das macht jetzt nix aus. Ich kann mich nit zu ihm zwingen, und wann mich auch der Vater aus dem Haus stößt, wie er mir gedroht hat.«

»Jerg als Klosterbauer – das ist lustig!« rief ihr Bruder mit höhnischem Auflachen. Drohend fuhr er fort: »Laß dir nit bang machen, Lisei! Der Jerg soll dich schon fein in Ruh lassen. Ich werd ein Wörtlein mit ihm reden, daß ihm die Lust auf den Klosterhof ein für allemal vergehn soll.«

Aber Lisei wurde durch diese Versicherung nichts weniger als beruhigt, und sie beschwor Ambros, sich nicht einzumischen. Sie würde schon allein mit Jerg ins reine kommen.

»Dein Bruder meint, weil wir Fraun nit gleich mit der Faust parat sind, drum richten wir gegen die Mannsleut nix aus«, scherzte Afra. »Aber still! Wann man an den Wolf denkt, ist er nit weit«

Ambros drehte lebhaft den Kopf nach der Richtung hin, in die die Augen der schönen Müllerin deuteten, und richtig: nicht weit von ihnen stand Jerg, halb verdeckt durch das prunkvolle Grabkreuz, das der Klosterbauer seiner Frau hatte setzen lassen. Ambros sah nur noch seinen Rücken; denn als sich Jerg von seiner Stiefmutter entdeckt fand, verlor er sich rasch unter den Menschen, die sich eben vor dem Kirchenportal zusammenzudrängen begannen. Immer mehr Leute strömten dorthin, und auch Ambros folgte mit Lisei und Afra dem Zuge. Die lange und hagere Gestalt des Kuraten von St. Martin ragte aus dem Menschenknäuel hervor.

Als Hannes aus der Kirche gekommen war, hatte der Blaufärber von St. Vigil, der mit anderen in der Nähe des Portals gestanden, laut gerufen: »Da kommt unser künftiger Herr Pfarrer!« Die anderen griffen das Wort lebhaft auf. Ja, Hannes sollte ihr Pfarrer werden, riefen auch sie. Und von Mund zu Mund ging der Ruf weiter. Hannes solle gleich dableiben und von der Pfarre Besitz ergreifen, schlug der Färber vor. »Nach der Pfarre! Nach der Pfarre!« riefen unzählige Stimmen. Nur mit Mühe gelang es Hannes, sich Gehör zu verschaffen. Wurden aber die Nächsten still, so dauerte der Lärm unter den Fernerstehenden fort, indem sie fragten, was es gebe, was Hannes sage, und in Beifall ausbrachen, als sie erfuhren, um was es sich handelte. Hannes versuchte den Leuten begreiflich zu machen, daß sie nicht das Recht hätten, sich ihren Pfarrer zu wählen, und es nicht bei ihm stehe, eine solche Wahl anzunehmen. Neues Geschrei unterbrach ihn: Der Pfarrer sei um der Gemeinde willen da, und folglich müßten sie auch das Recht haben, ihn zu wählen. »Freilich!« – »Jawohl!« – »Ruhe!« – «Stille!« – »Laßt den Herrn Falkner reden!« – so rief es durcheinander. Hannes gab es auf, sich verständlich zu machen, und wandte sich nur an seine nächste Umgebung. Auch Herr Moltenbecher habe seine Nachfolge gewünscht, sagte er ihnen. Der Herr Dechant habe es ihm mitgeteilt und es auch nach dem Wunsch des Verstorbenen an den hochwürdigsten Herrn Bischof in Brixen berichtet Die Bischöfe hätten jedoch nun das Recht des Vorschlages; die Ernennungen gingen von der Regierung aus. Man müsse daher die Entscheidung der Regierung abwarten, und er mahnte, es in Ruhe zu tun. Er selbst würde mit Freuden einem Ruf nach St. Vigil folgen, denn ihm könnte ja nichts lieber sein.

Diese Versicherung wurde mit großem Jubel aufgenommen, und man gab Hannes allmählich Raum, damit er sich entfernen konnte. Dabei mußte er unzählige Hände schütteln. Er selbst hatte keinen Glauben an seine Berufung.


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