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Die Helden vor Theben angekommen

»Da habt ihr ein Vorzeichen, wie der Feldzug sich enden wird«, sprach der Seher Amphiaraos finster, als das Gebein des Knaben Opheltes entdeckt war. Aber die anderen alle dachten mehr an die Erlegung der Schlange und priesen diese als eine glückliche Vorbedeutung. Und weil sich das Heer eben von einer großen Bedrängnis erholt hatte, so war alles guter Dinge; der schwere Seufzer des Unglückspropheten wurde überhört, und der Zug ging lustig weiter. Es währte nicht viele Tage mehr, so war das Heer der Argiver unter den Mauern von Theben angekommen.

In dieser Stadt hatte Eteokles mit seinem Oheim Kreon alles zu einer hartnäckigen Verteidigung vorbereitet und sprach zu den versammelten Bürgern: »Bedenket jetzt, ihr Mitbürger, was ihr eurer Vaterstadt schuldig seid, die euch in ihrem milden Schoße aufgezogen und zu wackeren Kriegern gebildet hat. Ihr alle, vom Jünglinge, der noch nicht Mann ist, bis zum Manne, dessen Locke schon grau wird, wehret euch für sie, für die Altäre der heimischen Götter, für Väter, Weiber und Kinder und für euren freien Boden! Mir meldet der Vogelschauer, daß in der nächsten Nacht das Argiverheer sich zusammenziehen und einen Angriff auf die Stadt machen wird. Darum, ihr alle, auf die Mauerzinnen, an die Tore geeilt! Brecht vor mit allen Waffen! Besetzt die Schanzen, stellt euch in die Türme mit euren Geschossen, bewahret jeden Ausgang sorgfältig und fürchtet euch nicht vor der Menge der Feinde! Draußen schleichen meine Kundschafter umher, und ich bin gewiß, daß sie mir genaue Kunde bringen. Nach ihren Meldungen werde ich handeln.«

Während Eteokles so zu seinen Reitern sprach, stand auf der höchsten Zinne des Palastes mit einem greisen Waffenträger ihres Großvaters Laïos die Jungfrau Antigone. Sie war nach ihres Vaters Tode nicht lange unter dem liebevollen Schutze des Königes Theseus zu Athen geblieben, sondern hatte mit ihrer Schwester Ismene in ihre Heimat zurückverlangt, wohin eine unbestimmte Hoffnung, ihrem Bruder Polyneikes nützlich werden zu können, und auch die Liebe zu ihrer Vaterstadt sie trieb, deren Belagerung durch den Bruder sie nicht billigen konnte und deren Schicksal sie teilen wollte. Dort war sie von dem Fürsten Kreon und ihrem Bruder Eteokles mit offenen Armen aufgenommen worden; denn sie betrachteten die Jungfrau als einen freiwilligen Geisel und eine willkommene Vermittlerin. Diese war jetzt die alte Zedertreppe des Palastes emporgestiegen und stand auf der Plattform, wo ihr der Greis die Stellung der Feinde erklärte. Ringsum auf den Fluren um die Stadt, die Ufer des Ismenos entlang und um die von alters berühmte Quelle Dirke her war das mächtige Feindesheer gelagert. Es hatte sich eben in Bewegung gesetzt, und Truppenschar sonderte sich von Truppenschar. Das ganze Gefilde schimmerte von Erzglanz wie ein wogendes Meer. Massen von Fußvolk und Reiterei schwärmten brausend um die Tore der belagerten Stadt. Die Jungfrau erschrak bei diesem Anblicke; der Greis jedoch sprach ihr Trost ein: »Unsere Mauern sind hoch und fest, unsere Eichentore liegen in schweren eisernen Riegeln. Von innen bietet die Stadt alle Sicherheit und ist voll mutiger, den Kampf nicht scheuender Krieger.« Darauf fing er an, die Fragen des Mädchens nach einzelnen hervorragenden Führern zu beantworten: »Der, welcher dort, im leuchtenden Helme, seinen blanken Erzschild mit Leichtigkeit schwingend, einer Heerschar voranzieht, das ist der Fürst Hippomedon, der um das Gewässer Lernas in Mykene wohnt; hoch ragt sein Wuchs empor wie eines erdentsprossenen Giganten! – Weiter rechts dort, der sein Roß über den Dirkebach setzt, in fremder Waffentracht wie ein Halbbarbar, das ist deines Bruders Schwager, Tydeus, des Öneus Sohn; er und seine Ätoler tragen schwere Schilde und sind die besten Lanzenwerfer, ich kenne ihn an seinem Wappenschilde; denn ich bin schon als Unterhändler in das feindliche Lager abgeschickt worden.« »Wer ist denn«, fragte jetzt das Mägdlein, »der jugendliche Held dort, im unjugendlichen Haare, der mit wildem Blicke an jenem Helden-Grabmal vorüberschreitet und dem völlig gerüstetes Volk langsam nachfolgt?« »Das ist Parthenopaios«, belehrte sie der Alte, »der Sohn Atalantes, der Freundin der Artemis. Aber siehst du dort die zwei Helden, am Grabe der Niobetöchter? Der ältere ist Adrastos, der Führer des ganzen Zuges; den jüngeren, kennst du den?« »Ich sehe«, rief Antigone schmerzlich bewegt, »nur die Brust und den Umriß seines Leibes, und doch erkenne ich ihn; es ist mein Bruder Polyneikes! O könnte ich mit den Wolken fliegen und bei ihm sein und meinen Arm um den Hals des lieben Flüchtlings schlagen! Wie funkelt seine goldene Rüstung gleich der Sonne Morgenstrahl! Doch wer ist jener dort, der, mit fester Hand die Rosse zügelnd, einen weißen Wagen lenkt und die Geißel so ruhig und besonnen schwingt?« »Das ist«, sprach der Greis, »der Seher Amphiaraos, meine Herrin!« »Aber siehest du dort den, der an den Mauern auf und ab geht und sie mißt und sorglich die Stellen erkundet, an welchen die Basteien dem Sturme zugänglich wären?« »Das ist der übermütige Kapaneus, der unserer Stadt so schrecklich hohnspricht, der euch zarte Jungfrauen an Lernas Gewässer in die Knechtschaft führen will!« – Antigone erblaßte und verlangte umzukehren; der Greis reichte ihr die Hand und geleitete sie hinunter in die Mädchenzelle.


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