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Sechstes Buch.
Die Sieben gegen Theben

Polyneikes und Tydeus bei Adrast

Adrastos, der Sohn des Talaos, König von Argos, hatte fünf Kinder, darunter zwei schöne Töchter, Argia und Deïpyle. Über diese war ihm ein seltsamer Orakelspruch geworden: er werde dieselben dereinst einem Löwen und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens besann sich der König, welchen Sinn dieses dunkle Wort haben könnte, und als die Mägdlein herangewachsen waren, gedachte er sie so zu vermählen, daß die ängstliche Wahrsagung auf keine Weise erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort sollte nicht zuschanden werden. Von zweierlei Seiten kamen zwei Flüchtlinge durch Argos' Tore. Aus Theben war Polyneikes von seinem Bruder Eteokles verjagt worden; Tydeus, des Öneus Sohn, war aus Kalydon geflohen, wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht absichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen sich vor dem Königspalaste von Argos. In der Dunkelheit der Nacht hielten sie sich für Feinde und gerieten miteinander ins Handgemenge. Adrastos hörte das Waffengetümmel unter seiner Burg, stieg bei Fackelschein von ihr herab und trennte die Streitenden. Als ihm nun zur Rechten und zur Linken je einer der Helden stand, die noch eben miteinander gekämpft hatten, so erstaunte der König wie vor einem plötzlichen Gesichte, denn von dem Schilde des Polyneikes blickte ihm ein Löwenhaupt, von dem des Tydeus starrte ihm ein Eberkopf entgegen. Der erstere trug solches Abzeichen auf dem Schilde zu Ehren des Herakles, der andere hatte sich das Wappen zum Andenken an die Jagd des Kalydonischen Ebers und Meleagers gewählt. Adrastos sah jetzt die Deutung jenes dunkeln Orakelwortes vor sich, und aus den Flüchtlingen wurden ihm Schwiegersöhne.

Polyneikes erhielt die Hand der älteren Tochter, Argia; die jüngere Tochter, Deïpyle, wurde dem Tydeus zuteil. Beiden gab er zugleich das Versprechen, sie in ihre väterlichen Reiche, aus denen sie vertrieben waren, wieder einzuführen.

Zuerst wurde der Feldzug gegen Theben beschlossen, und Adrastos sammelte seine Helden, sieben Fürsten, ihn selbst einbegriffen, mit sieben Scharen um sich. Ihre Namen waren Adratos, Polyneikes, Tydeus; Amphiaraos und Kapaneus, der erste der Schwestergemahl Adrasts, der andere ein Schwestersohn; endlich seine zwei Brüder, Hippomedon und Parthenopaios. Aber Amphiaraos, der Schwager des Königs, der früher lange sein Feind gewesen, war ein Prophet, und als solcher sah er den unglückseligen Ausgang des ganzen Feldzuges voraus. Nachdem er nun sich vergebens bemüht hatte, den Adrastos und die übrigen Helden von ihrem Vorhaben abwendig zu machen, suchte er einen Schlupfwinkel auf, den nur seine Gemahlin, Eriphyle, die Schwester des Königes, kannte, und verbarg sich dort aufs sorgfältigste. Lange suchten ihn die Helden vergebens, und ohne ihn, den er das Auge seines Heeres zu nennen pflegte, wagte Adrast den Feldzug nicht zu unternehmen. Nun hatte Polyneikes, als er aus Theben flüchtig werden mußte, das Halsband und den Schleier mitgenommen, die unglückbringenden Geschenke, die einst Aphrodite der Harmonia zu ihrem Beilager mit Kadmos, dem Gründer Thebens, verehrt hatte und die jedem, der sie trug, das Verderben brachten. Diese Gaben hatten auch wirklich schon der Harmonia selbst, der Semele, der Mutter des Bakchos, und der Iokaste den Untergang gebracht. Zuletzt hatte sie Argia, die Gemahlin des Polyneikes, die auch unglücklich werden sollte, besessen, und jetzt beschloß ihr Gemahl, mit einem derselben, dem Halsbande, die Eriphyle zu bestechen, daß sie ihm und seinen Kampfgenossen den Aufenthalt ihres Gatten verriete. Als das Weib, das längst die Nichte um den herrlichen Schmuck, den ihr der Fremdling zugebracht, beneidet hatte, die funkelnden Edelsteine und Goldspangen an dem Halsbande sah, konnte sie der Lockung nicht widerstehen, hieß den Polyneikes folgen und zog den Amphiaraos aus seiner Zufluchtsstätte hervor. Jetzt konnte dieser der Anschließung an den Feldzug um so weniger entgehen, als er schon früher, da er sich mit dem Adrastos ausgesöhnt und von ihm die Schwester zur Ehe erhalten hatte, das Versprechen gegeben, bei jeder künftigen Streitigkeit mit dem Schwager die Entscheidung seiner Gattin zu überlassen. Er tat seine Rüstung an und sammelte seine Krieger. Bevor er jedoch auszog, rief er seinen Sohn Alkmaion zu sich und verpflichtete diesen mit einem heiligen Schwure, ihn nach seinem Tode, sobald derselbe kundbar würde, an der treulosen Mutter zu rächen.


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