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Spießbürger im Spiegel der Zeiten

Worte Schopenhauers: Schon durch den Abfall vom Papste hat die Reformation das europäische Staatengebäude erschüttert, besonders aber durch Aufhebung der Glaubensgemeinschaft die wahre Einheit Deutschlands aufgelöst, die später, da sie faktisch auseinander gefallen war, durch künstliche, bloß politische Mittel wiederhergestellt werden mußte.

 

Für ihre Urheber eine blamable Tatsache: die deutsche Revolution hat es nicht fertig gebracht, das Reich zur völligen Einheit zu erheben und auszugestalten. Ämter und Pfründen zu erhaschen, lag jenen kurzsichtigen Umstürzlern mehr am Herzen. Im November 1918 wäre es leichtes Spiel gewesen, einen wirklichen Einheitsstaat fest zu begründen.

 

Zeigner, der sächsische Robespierre, der keinem Parteigenossen etwas abschlug, es sei denn, der Bittsteller vergaß, seinem Gesuche die obligate zwölfpfündige Gans beizufügen, hatte eine eigentümliche fanatische Leidenschaft. Wo er eine Königskrone erblickte, an Staatsgebäuden, Denkmälern, Wegesäulen und sonstwo, ließ er sie schleunigst abschlagen, auskratzen, vernichten, wozu ein besonderes Vollzugs-Kommando aufgestellt worden war. Eintausendundzwei Königssymbole, zumeist aus vergoldetem Sandstein oder aus Erz, sind ihm allein in Dresden zum Opfer gefallen. Schon war der amtliche Befehl erteilt, auch am Zwinger, dem Prachtbau Augusts des Starken, die Kronen über den Pavillons zu guillotinieren, da rückten die Preußen in die alte Königsstadt, und die Sowjethelden verschwanden schleunigst in der Versenkung. Zu den Tausendunddrei hat es der Gänsefreund gottlob nicht gebracht.

 

Bismarck hatte Anlaß, im Reichstage vom 10. März 1873 zu erklären: Es handelt sich nicht, wie unsern katholischen Mitbürgern eingeredet wird, um den Kampf einer evangelischen Dynastie gegen die katholische Kirche; es handelt sich nicht um den Kampf zwischen Glauben und Unglauben. Es handelt sich um den uralten Machtstreit, der so alt ist wie das Menschengeschlecht, um den Machtstreit zwischen Königtum und Priesterschaft, den Machtstreit, der viel älter ist als die Erscheinung unsers Erlösers auf dieser Welt, den Machtstreit, in dem Agamemnon in Aulis mit seinen Sehern lag, der ihm dort die Tochter kostete und die Griechen am Auslaufen hinderte, den Machtstreit, der die deutsche Geschichte des Mittelalters bis zur Zersetzung des Deutschen Reichs erfüllt hat, unter dem Namen der Kämpfe der Päpste mit dem Kaiser, der im Mittelalter seinen Abschluß damit fand, daß der letzte Vertreter des erlauchten schwäbischen Kaiserhauses unter dem Beil eines französischen Eroberers auf dem Schaffot starb, eines Franzosen, der im Bündnisse mit dem damaligen Papste stand.

 

Schon Marat spricht davon, man müsse dem Sonderstaate des Geistes den Krieg erklären.

Was wollte er damit?

Alle Bürger einer Stadt, einer Nation, eines Kontinents, der ganzen Welt einander geistig gleichmachen.

Was dabei herauskommt, sieht man an den Bürgern der U.S.A. Die hundertundzehn Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten verzichten auf jede Einzelmeinung, sowie das Sternenbanner hochgezogen wird, der Anlaß dazu mag noch so töricht sein.

 

Der Verfasser des Wahlspruches: Noblesse oblige! – der Marschall Pierre Herzog von Lévis – hat einmal gesagt: Wer einer berühmten alten Familie angehört, muß seinem Sohne vor allem beibringen, daß die Nation, auch wenn sie geneigt ist, Verdienste Einzelner durch Jahrhunderte zu ehren, immerhin erwartet, in den Enkeln und Urenkeln großer Männer deren charakteristisches Urbild deutlich zu erkennen.

Der gute Deutsche, den das ruhmsüchtige Gebaren gewisser Akrobaten anwidert, darf sich zum Glücke seiner Treue zur Tradition am vornehmen, zurückhaltenden, zielbewußten Wesen des Dr. Eckener und der Kapitäne seines neuen Schiffes Graf Zeppelin trösten. Sie wahren Huttens ersten Wahlspruch (sein zweiter und letzter lautete: Ich hab's gewagt!): Sinceriter citra pompam! Deutsch: Lauter und lautlos!

 

Der Generaloberst von Seeckt, unser Turenne, schreibt in seinen Gedanken eines Soldaten (1928): Der erfahrene, wissende Soldat fürchtet den Krieg weit mehr als der Phantast, der, ohne den Krieg zu kennen, nur vom Frieden spricht. Will man diese Einstellung Pazifismus nennen, so mag man es tun. Es ist dies ein Pazifismus, auf Wissen aufgebaut und aus Verantwortungsgefühl geboren; aber es ist kein Pazifismus nationaler Würdelosigkeit. Gerade der Soldat wird alle Bestrebungen begrüßen, die auf Verminderung der Kriegsmöglichkeit zielt. Der Soldat zieht nicht auf die Gasse unter dem Schlagworte: Nie-wieder-Krieg!, weil er weiß, daß über Krieg und Frieden höhere Gewalten entscheiden als Fürsten, Staatsmänner, Parlamente, Demagogen, Verträge und Bündnisse; nämlich die ewigen Gesetze des Werdens und Vergehens der Völker.

Der Pazifist gehört an die Laterne, und wenn es auch nur eine moralische ist!

 

Ich lese das soeben erschienene, erschütternde Buch: Giftgas-Krieg vom Major Franz Karl Endres (Zürich 1928). Der deutsche Spießbürger hat niemals eine richtige Vorstellung vom Kriege gehabt; vom Kriege der Zukunft ahnt er aus Angst und Dummheit absolut nichts.

Nehme er auf drei Minuten die ererbte Nachtmütze ab und höre er diesen ernsten Gewährsmann:

Man kann heute vom militärischen Standpunkte aus leichter Krieg führen als 1914. Man braucht die Zustimmung und Mithilfe des ganzen Volkes nicht mehr so sehr wie im Weltkriege.

Man massakriert die Masse durch Gas, das man aus Flugzeugen herabwirft, zu Hunderttausenden, und schließt den gewollten Frieden auf dem Leichenfelde des feindlichen Volkes.

Immer gefährlicher wird der Raubtierstand gewisser Gruppen innerhalb der Kulturvölker.

Überlegenheit an Kraft wird nicht mehr durch Überlegenheit an Zahl, sondern durch Überlegenheit an maschineller Wirkung zu erreichen versucht.

Der waffentechnischen Entwicklung wird die Krone aufgesetzt durch Erfindung eines neuen Kampfstoffes, der die Atemluft in weitem Umkreise der Wirkungsstelle vergiftet: des Gases.

Der Krieg ist dreidimensional geworden. Die Folge ist, daß die ganze Heimat zum Schlachtfelde wird.

Wir können am Faktum nicht mehr vorübergehen, daß es einem Dutzend Flugzeuge möglich ist, eine Großstadt in Trümmer zu legen.

Das erste Objekt der dreidimensionalen Kriegsführung ist der Nichtkämpfer. Er wird zu Millionen hingemetzelt.

Wenn es nur einem einzigen feindlichen Gasgeschwader gelingt, überraschend Berlin zu überfliegen und nur eine halbe Stunde planmäßig darüber zu wirken, so lebt im Raume von Groß-Berlin niemand mehr.

Der Angriff mit konzentrierter Kraft ist stets der Verteidigung überlegen. Man wird nach den ersten schlechten Erfahrungen überhaupt auf Luftverteidigung verzichten und versuchen, seinerseits die feindliche Heimat (das weite ungeschützte Land hinter der feindlichen Front) anzugreifen.

 

Hierzu sagt der erste Sachverständige Deutschlands (Seeckt): Die Technik arbeitet auf beiden Seiten. Es ist falsch, vom Siege des Materials über den Menschen zu sprechen. Das Material hat über die Menschenmasse, nicht über den Menschen selber gesiegt. Als neues Erfordernis gegen die neue Kriegsgefahr entsteht die Vorsorge für die passive Sicherheit der Lebenszentralen eines Landes, die kostspielig und unbequem ist. Daß bei uns in Deutschland, wo uns die aktive Luftverteidigung versagt ist, für den passiven Schutz nichts, aber auch gar nichts geschieht, ist schwer zu verstehen und schwerer zu verantworten.

 

Kein Volk will den neuen Krieg, und doch kennt man die hundert Staatsmänner in Europa, die alles tun, ihn zu entflammen. Dagegen gibt es nur ein einziges Mittel, würde Macchiavell sagen: Man unterhalte einen Leonidas und dreihundert Spartaner, die diese hundert Verbrecher schon im Frieden auf Schritt und Tritt bewachen und im Falle einer Krise keine Minute zögern, Bestien in Menschengestalt niederzudolchen.

 

Der 1927 verstorbene amerikanisch-deutsche Schriftsteller Georg Scheffauer schreibt in seinem letzten Buche:

Den subalternen, provinzlerischen Deutschen fehlte (in der wilhelminischen Zeit) der persönliche Stolz, das tiefe aufbauende Bewußtsein, einem großen Herrenvolk anzugehören, die trotzige belebende Empfindung des Freiseins, das angeborene Gefühl eines wirklichen oder eingebildeten Vorranges vor andern Völkern. Der Deutsche war es zufrieden, der loyale Untertan, der gehorsame, philiströse Bürger zu sein, eingelullt durch das Opiat einer dumpfen, bequemen, seelenmordenden Behaglichkeit. Fettleibigkeit ward zum Fluche der Rasse und Nation, und die übrige Welt fand dies beinahe gleichbedeutend mit dem Begriff Deutsch. Das Ideal einer volklichen und rassenhaften Schönheit erstickte in einer allgemeinen Wurstigkeit, die das Alltägliche und Unansehnliche großzog.

Die Deutschen in den Tagen eines Goethe und Schiller, eines Fichte und Stein, zur Zeit der Burschenschaft, in der Biedermeier-Ära, im Zeitalter eines Lassalle, eines E. Th. Hoffmann trugen den Stempel feinerer Geister und die äußeren Merkmale größerer persönlicher Vornehmheit und eines stärker ausgesprochenen Charakters. Die Züge des Adels, des Bürgertums, der Handwerker und der Bauern waren in klareren Umrissen, in besseren Proportionen gemeißelt. Die Gelehrten, Soldaten, Musiker und Träumer jener Tage waren wirklich Niederschlag des Volks der Dichter und Denker, des Volks einer soldatischen Heldentradition. Sie waren größer, schlanker; ihre Köpfe von edler Form; ihr Haar voll und weich; ihre Haltung aufrecht und voller Würde. Dieser Typ ist so gut wie verschwunden. Er hätte sich dem Begriff germanischer Mannesschönheit verwandt erklären dürfen: der hehren vergeistigten gotischen Schöne des berühmten gekrönten Reiters im Dom zu Bamberg, des Königs Konrad.

Der deutsche Dichter und Denker Werner von der Schulenburg sagt in seinem schönen Essay: Deutscher Adel und deutsche Kultur (in den Süddeutschen Monatsheften, Februar 1926):

Was der Adel in früheren Zeiten, bis zu den Schicksalsjahren 1866 bis 1870 geleistet hat, ist so groß, daß man sich die deutsche Kultur ohne ihn nicht vorstellen kann. Vom Jahre 870 bis zum Jahre 1870 ist die Zahl der kulturell wirksamen deutschen Adligen Legion. Die Minnesänger, Mystiker, Humanisten, die Geister der Reformation und Gegenreformation, die Aufklärer, die adligen und fürstlichen Mäzene, das ist eine gewaltige Reihe, die man freilich nicht immer ohne Bitternis durchfliegen wird. Auch die Adligen sind an den hochwertigsten Standesgenossen vorbeigegangen.

Die entscheidende Rolle des Adels in der Romantik war sein letzter Versuch. Das so vorbereitete Volk war noch im Stande, das Reich aufzubauen. Schon 1918, nach nur achtundvierzig Jahren, kam die Katastrophe. Sie war begründet im Wohlstand und der darauffolgenden geistigen Faulheit der führenden Kreise. Nach den politischen Erfolgen von 1870–71. kam man von der großen Linie ab. Seit der Reichsgründung begnügten sich die zur kulturellen Führung Berufenen mit äußeren Erfolgen. Das Reich versank.

Vor vielen Jahren stand in einer großen demokratischen Zeitung, es sei so recht, daß Fremdstämmige den Deutschen die kulturelle Führung entrissen hätten, daß Theater, Musik, Literatur und Zeitungen in die Hände von Fremden übergeglitten seien, denn die eigentlichen Deutschen hätten sich längst nicht mehr darum gekümmert.

Seien wir offen: Es geschah den Deutschen recht; sie büßen es bitter. Es geschah insbesondere dem Adel recht. Noch heute ist er ohne Verständnis für die dringende Notwendigkeit, Volksbildungs-, nicht Propaganda-Institute zu schaffen, ohne Verständnis für die Notwendigkeit, zunächst kulturell, nicht aber politisch zu wirken. Adel und Bürgertum glauben, die Kultur mit dem bedenklichsten Instrument wieder erwischen zu können: mit der Zeitung. Die Zeitung ist nur kulturfördernd, wenn eine große gefestigte Kultur dahintersteht. Sonst ist sie wieder nur ein politisches Instrument – und es ist nichts gewonnen.

Erst wenn wieder eine größere Anzahl von jungen gebildeten Edelleuten vorhanden ist, wird der Adel in kurzer Zeit von neuem eine führende Rolle im geistigen Leben der Nation haben. Die so Durchgearbeiteten (wissenschaftlich Erzogenen) können nicht exklusiv, dummstolz, fanatisch, bigott oder lebensfremd werden. Sie müssen mit dem Volke Fühlung nehmen. Sie werden automatisch die Gegner derer, die das deutsche Kulturleben untergraben. Sie wollen nicht nord- oder süddeutsche, sondern deutsche Kultur.

Die größte Groteske unsrer so freudelosen Zeit ist für den resignierten Vaterlandsfreund die Unterzeichnung des sogenannten Kelloggpaktes in Paris, die der Welt tags darauf, an Goethens Geburtstage, durch die Presse kundgegeben worden ist, am 28. August 1928. Unbezahlbar wäre es gewesen, hätte man in der Tarnkappe der Unterredung der Herren Poincaré und Stresemann beiwohnen können. Ich weiß nicht, ob der große Fuchs der Franzosen die deutsche Sprache einigermaßen spricht und ob der Erkorene Germaniens die Sprache der Hauptstadt der europäischen Intelligenz beherrscht, aber köstlich müßte dies Erlebnis gewesen sein. Fünf Viertelstunden haben sich die beiden Don Quichotte einander gegenüber gesessen!

Der Spießer, der davon in seinem Leibblatte las, war tief ergriffen.

Acht Tage zuvor war Frankreichs Große Armee der künftige Landsknecht Englands geworden.

Und nochmals der Generaloberst; er beginnt sein genanntes Buch mit dem Satze: Drei Dinge gibt es, gegen die der menschliche Geist vergebens ankämpft: die Dummheit, die Bürokratie und das Schlagwort.

Hoffen wir, daß Seeckts Buch der Jugend Deutschlands mehr bedeutet als Gerhart Hauptmanns sämtliche Werke, von denen soeben ein Berliner Literarhistoriker (Engel) allen Ernstes schreibt, alle Gestalten darin wären derart, daß im Leben jedermann einen Bogen um sie machen würde, um mit diesem schlappen Gesindel nicht in persönliche Berührung zu geraten.

Nicht auf die Bücher kommt es schließlich an, die einer schreibt, sondern auf den wirkenden Geist, der sie diktiert.


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