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Der Philister lehnt jedes Kunstwerk ab, das ihn in eine höhere, ja nur in eine ihm fremde Welt führen will.
Die schlimmste Sorte unter den Feinden der Enthusiasten ist die Gilde der Bildungsphilister. Von ihnen sagt Friedrich Nietzsche: Wie ist es nur möglich, daß ein solcher Typ entstehen und zur Macht eines obersten Richters über alle deutschen Kulturprobleme heranwachsen konnte?
Spaßig: nichts nimmt der Spießer dir mehr übel als wenn du ihm andeutest, daß er von Musik, Malerei, Plastik, Literatur und Kritik absolut nichts versteht. Er versteht tatsächlich nichts von dem allem; aber er will musikalisch sein, er setzt sich in die Sinfonie-Konzerte, er urteilt laut über ausgestellte Gemälde, er findet sentimentalen Kitsch immer wieder himmlisch, er kauft sich nie ein Buch, außer wenn es alle Welt lobpreist, und dem Theaterkritiker seines Leibblattes schwatzt er unentwegt das Dümmste nach.
Im Gegensatz zu solchen Kunstheuchlern ist es ergötzlich zu lesen, daß Bismarck gelegentlich eingestanden hat, eine italienische Drehorgel mache die ihm angenehmste Musik. Opernhaus und Konzertsaal seien ihm unbekannte Aufenthaltsorte. Von Instrumenten liebe er höchstens das Cello, weil es der Menschensprache ähnle. Unbegreiflich aber wäre es ihm, wie man die Verkörperung der Don-Juan-Gestalt auf der Bühne durch fette Tenöre hinnehmen könne.
Im Umgange mit Spießern, die über die Kunst schwatzen, ist es genußreich, ihre Ästhetik zu erkennen und sich ihrer ihnen gegenüber ironisch zu bedienen.
Es gibt ein entzückendes kleines Buch zur Einführung in die Kunstanschauung des Philisters, die: Satiren von Johann Hermann Detmold; beste Ausgabe die von Hanns Martin Elster (1920). Die Humoreske darin: Die schwierige Aufgabe, entstanden um 1842, gehört zu den Meisterstücken des deutschen Humors.
Wenn du endgültig feststellen willst, ob der oder jener in deinem Lebenskreise Spießer sei oder nicht, so gib ihm den unsterblichen Schelmuffsky (von Christian Reuter, 1696) zu lesen. Lehnt er dieses urwüchsige Buch ab, so ist ihm nicht zu helfen; dann ist er ein Stockphilister.
Der Spießer weiß, daß der universelle, wahrhaft freie, seiner selbst sichere Mann in der Kunst und Literatur nichts anerkennt, was ihm mißfällt, und daß er seine ureigene Meinung unbedenklich äußert, wo er sie äußern zu müssen glaubt. Trotz guter Beispiele wagt es kein Philister, selber nun auch ehrlich zu bekennen, was er liebt; er wagt es nicht aus Furcht, einen Bildungsgrad zu verraten, der jenem höheren Manne vielleicht inferior erscheinen könnte.
Wilhelm His, jetzt (1928) Rektor der Berliner Universität, einer unsrer ersten Ärzte, hat kürzlich in der Literarischen Welt auf die Frage: Was empfinden Sie als fremd in der neuen Literatur? – erklärt:
Sowohl die Form der Gestaltung wie die Form des Denkens. Schon Stefan George sagt mir nicht viel. Noch weniger seine Nachfolger. Unter der Hülle einer verschwimmenden Form, unter gebauschten, sprunghaften Gedanken findet sich – nichts. Aber es will mir scheinen, als ob sich hierin die Ratlosigkeit unsrer Zeit spiegle, jener Mangel eines letzten Zieles. ... Ich sehe in der neuen deutschen Literatur keine Probleme. Nur kleine und kleinste Problemchen. Probleme, das was wirklich diesen Namen verdient, trifft man viel eher noch in der fremden Literatur an. Mir scheint, daß dies alles, Form und Problem, damit zusammenhängt, daß die Neueren nicht erkannt oder vielleicht nur vergessen haben, daß das wahrhaft Große das Einfache ist.
Hundert Jahre zuvor meint Goethe einmal: Betrachtet man genau, was der deutschen Literatur gefehlt hat und immer wieder fehlt: ein Gehalt und zwar ein nationaler Gehalt. An Talenten war niemals Mangel.
Deutsche Charaktere, deutsche Probleme, deutsches Tun und Denken, deutsche Siege und deutsche Niederlagen, derart gestaltet, daß jeder ehrliche ausländische Leser sagen muß: Respekt vor diesen Männern und Frauen! Wenn ihre Urbilder wirklich in Deutschland zu finden sind, so bin ich fortan Freund dieser Nation.
Man prüfe die Helden in den angeblich besten Romanen und Dramen der deutschen Literatur seit 1898!
Wenn kluge und gelehrte Männer wie His unsre heutige Literatur ablehnen, dürfen wir da dem Spießer einen Vorwurf daraus machen, daß er sie gar nicht kennt?
Merkwürdig, in den drei letzten Jahrzehnten ist in Deutschland keine Dichtung erschienen, die Gemeingut der Nation geworden wäre. Vergeblich liest man die dreißig Namen der neuen Preußischen Dichterakademie durch. Volkstümlich im wahren Sinne ist darunter kein einziger.
Hat der deutsche Arbeiter, Bauer, Kaufmann, Handwerker, Soldat, Bürger, Edelmann, Ingenieur oder Künstler, jeden als typischen Stand genommen, seinen besondern Liebling unter den neueren Autoren?
Ein junger Edelmann gibt mir die Antwort: Münchhausen mit seinen Balladen sei jedem seiner Standesgenossen lieb und wert. Merkwürdig: in die preußische Dichterakademie ist Münchhausen, der drei Viertel der Aufgenommenen literarisch beträchtlich überleben wird, noch immer nicht berufen worden.
Wir haben zu viel Literaten-Literatur; und gewisse Literaturgeschichtler (Soergel zum Beispiel) geben sich unglaubliche Mühe, den Bücherhaufen der Raschverstaubten auch noch in dicken Schmökern zu rubrizieren, worauf der Bildungsphilister pflichtschuldigst, aber immer drei Jahre zu spät, auf den neugerühmten sterilen Ismus zu schwören beginnt.
Um sich im Innenleben der Spießbürger zurecht zu finden, muß man die Bücher kennen, die man bei ihm findet. Das Buch, das der Philister seinem Sohne zur Konfirmation am liebsten schenkt, ist noch immer der dreibändige Roman: Soll und Haben von Gustav Freytag.
Unwillkürlich fragt man sich: Ist seit 1855 tatsächlich kein andrer deutscher Roman hervorgebracht worden, der einem in das Leben Eintretenden Entscheidendes sagt?
Drei Romane repräsentieren im Jahre 1928 nicht den Geschmack der Gebildeten des deutschen Volkes, wohl aber den Geschmack dreier gepriesener Autoren und den Geschmack derer, die inmitten des allgemeinen Chaos das Amt der Kritik ausüben.
Es sind: Der Zauberberg von Thomas Mann – Der Fall Maurizius von Jakob Wassermann – und Der Streit um den Sergeanten Grischa; drei mordsdicke Werke.
Paul Valéry, der geistvolle Pariser Akademiker, sagt in seiner Antrittsrede (1927): Ein Buch ist ein Instrument des Vergnügens, will es wenigstens sein. ...
In Deutschland bedeuten Bücher offensichtlich etwas ganz anderes.
Eine Literatur für frohe und glückliche Menschen, für reiche liebenswürdige Müßiggänger, für die übermütige Jugend und für angehende Verschwender des Lebens ist uns Deutschen nicht etwa bloßes Brachfeld, sondern geradezu Terra incognita. Dem spielenden Reize gefälliger Unterhaltung wird fast nie ein Buch gewidmet; nur schwerfällige Romane entspringen schwerfälligen Köpfen. Wir suchen fröhlich Erlebtes und finden dunkel Gewebtes.
Wie kommt es überhaupt, daß vornehme, unabhängige Männer, oder vielfach Erfahrene, Offiziere, Diplomaten und Staatsmänner, bei uns so selten die Früchte ihrer Erlebnisse öffentlich kundgeben?
Es fehlt an Büchern für vornehme Menschen. Zur Vermeidung eines ärgerlichen Irrtums erkläre ich aber ausdrücklich, daß ich das Wort vornehm nie in der engen Bedeutung des Ranges, sondern immer in der wirklichen des Wertes gebrauche. Ich verstehe darunter das sichere Gefühl für das Schöne und Schickliche.
(Vaerst)
Untrügliches Zeichen wahrhafter Bildung ist in allen Ländern und zu allen Jahrhunderten die Art und Weise, wie der Einzelne mit der großen Literatur der Welt verknüpft erscheint. Verbunden damit ist die Lebhaftigkeit, man möchte sagen Leibhaftigkeit, und die Selbständigkeit, mit der ein Mensch die Vergangenheit, insbesondre die Vergangenheit seiner Nation kennt. Wie ganz wenige Deutsche zwingen sich die nötige Zeit ab, eine klare Vorstellung des deutschen Mittelalters, oder der Gründe der bewundernswürdigen Weltmacht Englands, oder der Wirkung des Genies Napoleon Bonaparte sich anzueignen. Wie wenige wissen, wie wechselnd der Grad der persönlichen Freiheit eines Fürsten, eines Edelmannes, eines Gelehrten, eines Kaufmannes, eines Arbeiters gewesen ist, an gewissen Zeitwenden, z.B. um 1525 (zur Zeit der Bauernkriege), um 1648 (am Ende des unseligen Religionskrieges), um 1780 (beim Tode der Maria Theresia), oder 1862 (zu Beginn der Macht Bismarcks). Das ist Bildung, und solche möglichst an den Quellen erworbene Kenntnisse reinigen von der Verbitterung, der politischen Ungeduld und der bornierten Kannegießerei der Stammtische und Parteiblätter. Weltgeschichte ist das Scheidewasser der Dummheit; Volksgeschichte ein Evangelium der Duldsamkeit. Der große Europäer Napoleon I. glaubte an die Zukunft der Deutschen, wobei er keinen Unterschied machte zwischen Preußen und Bayern, Österreichern und Schweizern.
Der anonyme Aufsichtsrat, der dem deutschen Leser seit dreißig Jahren die russische Literatur aufzudrängen sucht, hat nicht geringe Erfolge zu verzeichnen. Keine Volksbibliothek hat sich diesem Einflüsse entzogen. Auch der Spießbürger, soweit er überhaupt Bücher kauft, liest und kennt, hält sich für verpflichtet, ehrfürchtiger von den ihm gepriesenen Russen zu sprechen als von wesentlich wertvolleren heimischen Dichtern.
Seien wir offen!
Sind wir auf uns selbst eingestellte Westeuropäer oder östliche verblödete Barbaren?
Wenn wir von den fünf berühmten Russen: Puschkin, Gogol, Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski je eines ihrer Werke kennen und gut kennen, so genügt dies.
Die zweite Klasse (Gorki zum Beispiel) hat dem gebildeten deutschen Manne absolut nichts Großes zu sagen.
Es gibt ein amüsantes Buch: Der Idiotenführer durch die russische Literatur (München 1925) von Sir Galahad (Pseudonym [Bertha Eckstein-Diener. Re]). Der Verfasser übertreibt zuweilen; aber im Kern hat er Recht. Sein Buch ist ein wirksames Mittel gegen eine unselige Massensuggestion.
Galahad sagt von Dostojewski: Mit der Inthronisierung des Idioten-Ideals in der russischen Literatur begann die systematische Welthetze gegen den aristokratischen Menschen, gegen die Vornehmheit als Qualität.
Der Wissenschaft, die sich ästhetisch, kritisch, biographisch, historisch mit Künstlern und Kunstwerken beschäftigt, hängt unleugbar etwas Philisterhaftes an, zumal wenn sich Stubengelehrte und Strengzünftige hören lassen, drollige Leute, die sich für unfehlbar halten. Was kommt dabei heraus? Die Musiker, die Maler, die Dichter, die intuitiven Gestalter lesen diese Gelehrtenbücher zu ihrem Glück nicht; was könnten schöpferischen Geistern jene Impotenten verkünden? Und wie erstaunlich rasch veraltet jede Theorie. Keine Literaturgeschichte hält sich länger als zwanzig Jahre; was Spezialisten über moderne Maler schreiben, ist nach zehn Jahren Unsinn; und in der Musikgeschichte bleiben nur Werke geltend, die sich musikalischer Analysen enthalten. Am lächerlichsten wirken in gelehrten Büchern die polemischen Stellen. Kurzum, eine gute Künstler-Biographie, die am Leben bleiben will, darf nicht verraten, auf welcher Welle des ewig wechselnden Geschmacks der Menschheit sie entstanden ist. Leider kommt man spät auf die Weisheit, daß man so zeitlos wie nur möglich darstellen muß.
In einer Besprechung von Bernard Shaws Buch Über die Aussichten des Christentums steht zu lesen: Die Literatur kann den Bürger nicht ändern; für ihn ist sie nur da zum Zeitvertreib. Ehedem nahm er sie ernst und ihm feindselige Randglossen von Skribenten erwiderte er mit radikalen Maßnahmen. Ketzerische Schriften ließ er verbrennen. Heutzutage genügt es ihm, daß er eine bestimmte Grenze gezogen hat. Jenseits des Stacheldrahts seiner heiligen Interessen dürfen sich die Leute der Literatur nach Herzenslust austoben. Er schaut zu, wenn es ihm paßt, läßt sich belustigen, applaudiert mitunter, zahlt sogar. Märtyrer macht der Bürger nicht mehr. In Deutschland, im Lande der Polizisten und Denunzianten, kann jeder alles auf allerlei Art schreiben. Aber, wie gesagt, wirklichen Einfluß hat heute kein deutscher Schriftsteller.
Neuerdings haben gewisse Literarische Zeitungen den Unfug ausgeheckt und eingeführt, sogenannte Best-Seller-Listen zu veröffentlichen. Die Provinzpresse beeilt sich, sie gehorsamst zu verbreiten; und beschränkte Sortimentsbuchhändler schwören auf sie wie aufs Evangelium. Verfolgt man diese moderne Reklame eine Zeitlang, so ergibt sich ein bestimmter Verlegerkreis.
Der Frondeur tut gut, die angepriesenen, angeblich wunderbaren Bücher grundsätzlich nicht zu beachten.
Haben Literarische Zeitschriften nicht eigentlich den schönen Zweck, unbeeinflußt auf Bücher hinzuweisen, die ihren Lesern vielleicht entgangen sind, gerade weil sie nicht in jenem prominenten Verlegerkreise zur Welt gekommen sind?
Drollig übrigens, daß diese lieben Leute für ihren Humbug keinen deutschen Namen gefunden haben.
Die im Jahre 1927 in Frankfurt am Main zustande gekommene Ausstellung: Die Musik im Leben der Völker hat einschließlich aller Nebenveranstaltungen trotz ansehnlicher Zuschüsse vom Reiche, von der Stadt, von Körperschaften und Kunstfreunden einen Fehlbetrag von weit über einer Million Reichsmark ergeben. (Siehe Dresdner Anzeiger vom 10. April 1928.) Ein verarmtes Volk wie das unsre, das noch Milliarden Kriegsschulden zu tilgen hat, sollte eine derartige Verschwendung nicht begehen. Ähnliches wäre dem besiegten, aber zielbewußten Frankreich nach 1871 nicht eingefallen.
Übrigens beweist dieser riesige Fehlbetrag, daß der heutige Massenmensch, dazu nicht bloß der Philister, sondern auch der freiblickende Einzelgänger, den der moderne Kunst- und Ausstellungsbetrieb anekelt, auf die Musik im Leben der Völker pfeift. Musik ist Privatsache.
Hutten, Luther, Dürer, Goethe, Bismarck, Schopenhauer – um nur große Führer zu nennen – waren starke Individualisten. Sie sind es, die dem Deutschen immer wieder in der Fremde ein Häuflein guter Freunde werben.
Heute wird der deutsche Individualismus auf zwei langen Fronten bekämpft. Einmal von denen, die Europa amerikanisieren wollen. Die Führung in Deutschland haben hierin die fünf Gebrüder Ullstein mit ihren alles nivellierenden dreißig Zeitungen.
Auf der andern Front droht der Bolschewismus; weniger gefährlich übrigens, solange der deutsche Michel ein wenig auf der Hut ist. Jedermann weiß, was gemeint ist.
Diese zwei Geistesströmungen branden vor allem gegen die deutsche Jugend. Die spießbürgerliche Elternschaft riecht, hört und sieht natürlich nichts. Hin und wieder aber verrät es ein Schulmeister, der sich gern öffentlich reden hört.
So las man jüngst in einer der Dresdner Tageszeitungen an augenfälliger Stelle den Aufsatz eines Dr. phil. T*** über den angeblichen Nutzen der mehrtägigen Schulwanderungen; jedem Schüler aus höherem Milieu sind sie ein Greuel voll Dreck und Zwang.
Nach dieser Offenbarung – so stand zu lesen – liegt der erzieherische Sinn dieser mehrtägigen Zigeunerfahrten darin: Völlige Unabhängigkeit von der Mutter Schürzenband – das Gefühl der Verbundenheit mit der Masse – eine Fülle von Gelegenheiten, den kleinen Ichmenschen zu sozialem Tun zu zwingen – die Klassen zu einem Ganzen (Kollektivum) zusammenzuschweißen.
Das Wort zwingen kehrte im Aufsatze des pp. immer wieder; übersetzen wir es einfach mit Terror.