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Ein Gärtchen auf der Mauer und ein Besuch im Rollstuhl. – Zwölf Jahre, und was sich da alles ereignete. – Von viel Tannengrün, Böllerschüssen und Glockengeläute. – Das alte Plätzlein in der Kirche, und wie Angelika vergnügt zur Orgel hinaufschaut. – Warum der Turm ein Festgewand und Nane ihr schwarzseidenes Kleid trägt. – Was Gottlob in den Sinn kommt, daß er des Vaters Lied spielt, und wie einer, der nicht mehr lebt, nun über die ganze Sache geurteilt hätte.
Ein Jahr ging vorüber, und dann noch eins. Nach dem ersten konnte Gottlob wieder langsam die Füße bewegen und an Krücken in der Wohnung herumgehen. Das war schon eine große Wohltat. Und dann hatte Angelika eine Erfindung gemacht. Auf der breiten Mauer vor ihrem Fenster, die auf zwei Seiten an Häuserwände stieß und an den beiden andern durch flache Dächlein geschützt und verbreitert war, hatte sie mittels Blumenstöcke, einer Efeuwand und einiger eingepflanzten Tannen ein kleines Plätzlein geschaffen, immerhin so groß, daß ein Bänkchen und Gottlobs schmaler Lehnstuhl darin Platz hatten. Man lernt sich mit Kleinem begnügen, wenn man auf das Große verzichten muß, und es ist merkwürdig, wie groß oft solch eine kleine errungene Freude sein kann.
Alle Morgen, wenn das Wetter gut war, kam Frau Janauschek, deren Lebhaftigkeit dem Genesenden nun nicht mehr weh tat, und half Angelika mit ihren starken Armen Gottlob über das Gesimse heben und auf der andern Seite bequem in seinem Stuhl unterbringen. Und der Knabe war selig über diese Veränderung. War's auch mitten zwischen Häusern und Höfen, so sah er doch durch manche Lücke etwas Grünes und sogar ein Stück blauer Hügel. Ueber ihm wölbte sich der Fliederbusch, der, fleißig begossen, nun ganz ordentlich grün aussah. Vor ihm dufteten Rosen und Nelken. Seinen Turm konnte er von hier aus bis an die Spitze betrachten, was im Zimmer nicht möglich war. Dann und wann kam auch wirklich ein ganz frisches Lüftchen, und wenn Mutter nach der Arbeit und Engele nach ihren Unterrichtsstunden mit Strick- und Nähzeug sich zu ihm hinaussetzten, dann hatten alle das Gefühl, immerhin im Freien zu sein. Kam aber noch jemand von den Freunden dazu, so setzte dieser sich innerhalb des Fensters und war auch dabei.
Im zweiten Jahr erlaubte der Arzt, daß Gottlob langsam lernen durfte, und Engele, die ihm jeden Tag ein bis zwei Stunden gab, wußte am besten, was sie ihm zumuten konnte und was nicht. Das Gedächtnis war wieder besser geworden, und Gottlob erfaßte tief und gründlich, was er lernte. Nun konnte er auch nicht nur wieder Menschen ertragen, sie freuten ihn sogar alle. Auch Wanda und Werner stellten sich manchmal ein, und das Rührendste war ein Besuch von Herrn Steiner, der sich im Rollstuhl bis unter Gottlobs Fenster führen ließ, und so konnten die beiden Kranken sich doch einmal sehen und zuwinken.
Der kleine Haushalt lief, aber ohne Angelikas Hilfe und Verdienst wäre es durchaus nicht gegangen. Das innigste Verhältnis war zwischen dieser und dem Stadtpfarrhaus. Ein Mutterherz ahnt viel, auch ohne Worte. Willi war seitdem nicht mehr daheim gewesen, er entschuldigte sich stets mit vieler Arbeit. Geschrieben hatten sich die beiden auch nicht mehr, und das war recht so. Durch die Mutter hörten sie ja voneinander. Und als Willi doch einmal kam zu den letzten Stunden und zur Beerdigung des Vaters, der seinem Herzleiden rasch erlegen war, da sprachen sie sich nicht allein, aber Willis Blicke und fester Händedruck sagten Angelika, daß er noch immer wartete.
* * *
Und nun ein Zeitsprung von zwölf Jahren! Wieder sitzen, wie am Anfang unserer Geschichte, an einem strahlenden Sommertage die beiden Jugendfreundinnen Fräulein von Thadden und Frau von Werder im Erker des alten Stadtschlosses in St. beisammen, beide mit etwas grau gewordenem Scheitel und gealterten Zügen, aber diesmal nicht arbeitend, sondern in erwartungsvoller Stimmung, und ließen ihre Blicke immer wieder über den Marktplatz wandern, der heute im Schmuck von viel wehenden Flaggen und grünen Tannenbäumen prangte. Dazwischen wurden dem Diener und Wanda, die eine große, schlanke Dame geworden war, allerlei erbetene Anweisungen gegeben.
»Es dauert wohl noch eine volle Stunde, bis die Gäste kommen, und so können wir immerhin noch ein bißchen zusammen plaudern,« sagte Fräulein von Thadden. »Wenn ich auf euren Marktplatz hinunterschaue, so ist mir's, als hätte die Zeit stillgestanden, und doch hat sich so vieles verändert. Im lieben Stadtpfarrhaus neue Menschen, seit Frau Reinhardt daraus fortgegangen und helfende Großmutter bei Gertrud ist. Und zu Frau Nane könnt ihr jetzt auch nicht mehr hinüberwinken!«
»Am schwersten von allem war es mir, als Angelikas liebes, immer freundliches Gesicht nicht mehr zu uns heraufschaute,« sagte Frau von Werder. »Weißt du noch, Martha, wie wir uns einstens um unsern Liebling sorgten, und wie wunderbar Gott alles wandte? Elf Jahre ist sie nun glücklich mit ihrem Willi verheiratet, der so fleißig und umsichtig die kleine Möbelfabrik, die er damals am hiesigen Orte anfing, in die Höhe brachte, so daß sie nun eines gewissen Rufes genießt und so viel einträgt, daß die beiden mit ihren Kindern jetzt die hübsche, kleine Villa bewohnen können, die nach Herrn Steiners Tod frei wurde.«
Fräulein von Thadden nickte: »Wenn dieser erlebt hätte, daß Gottlob, sein geliebtes Lobele, doch noch das Ziel erreichte, das dem alten, tüchtigen Lehrer von Anfang an als das Höchste für sein Büble, wie er immer sagte, vorschwebte, ein langsames, gründliches Studium, und dann ein echtes, vertieftes Künstlertum! Janauscheks meinten es ja gewiß auch gut, aber daß Gott damals ein mächtiges Halt rief, das war ein Glück für beide Kinder, so furchtbar es auch aussah. Beide wären bei dem oberflächlichen Künstlertum in der Welt draußen nie das geworden, was sie jetzt sind. Und nächst Gott haben sie ihre Tüchtigkeit auch der einfachen, schlichten Mutter zu danken. Frau Nane ist eine feine, vornehme Seele, trotzdem sie keine äußere Bildung hat und nur eine schlichte Magd gewesen ist.«
Der Diener unterbrach das Gespräch, indem er auf einem silbernen Plättchen ein Telegramm brachte.
»Von Janauscheks,« sagte Frau von Werder, als sie die Unterschrift gelesen. »Höre!
Zum heutigen fünfhundertjährigen Jubiläum unserer lieben alten Kirche senden von ihrem neuen Wohnort im fernen Oesterreich allen Freunden in St. die innigsten Glückwünsche
die treuen Janauscheks.«
»Das ist doch auch wie ein Wunder gewesen,« sagte Fräulein von Thadden, »daß gerade, wie Gottlob als fertiger Musiker und mit dem Professorentitel vom Leipziger Konservatorium zurückkam, der Herr Direktor den Ruf nach Wien erhielt und seine Stelle hier für den einheimischen jungen Künstler, den die ganze Stadt für sich begehrte, frei wurde. Immer wieder wallt mir das Herz auf, wenn ich denke: der liebe, kleine Geigenlobele als Musikdirektor an seiner Kindheitsstätte, und nun auch noch da wohnend, wo sein ganzes Kindheits- und Jugendsehnen gewurzelt hat, oben auf seinem geliebten Turm!«
»Das schien uns allen anfangs allerdings eine etwas phantastische Idee,« unterbrach Frau von Werder. »Freilich hatte die Wohnung schon länger leer gestanden, seit die Stadt infolge des elektrischen Läutewerks oben keinen ständigen Turmwächter mehr für nötig erachtete. Der beste Beweis für die gänzliche Heilung seiner Nerven und Glieder ist ja der, daß Gottlob bei der Annahme der Direktorsstelle zur Bedingung machte, die leeren Stuben im Turm bewohnen zu dürfen. »Und mein Mutterle nehme ich mit hinauf, da mögt ihr reden, was ihr wollt, die gehört zu mir. Der ist's auch am wohlsten dort droben,« hat er gesagt. »Herunterkommen und Besuche machen wird sie freilich nicht oft können, aber wer sie lieb hat, steigt auch zu ihr hinauf, nicht wahr?«
»Für Frau Maier,« fuhr Frau von Werder fort, »war dieser Entschluß ein Schlag. Aber die Lindenmaierschen tun an ihr, was sie können. Berta, die nun ganz als Magd bei Nane eingetreten, wird jeden Morgen hinuntergeschickt, um nach der einstigen Hausfrau Befinden zu fragen. Angelika geht nie in die Stadt, ohne geschwind im Nudellädlein und der anstoßenden Stube vorzusprechen, und ihre zwei Großen machen täglich einen Besuch bei der Nudeltante, wie sie sie heißen, wo es immer ein paar Aepfel oder ein Stückchen Kuchen gibt. Seit aber der Turmwächter mit Familie in Nanes Wohnung gezogen ist, hat Frau Maier doch wieder ›was Lebendiges‹, wie sie sagt, im Haus. Und ganz in der Stille – ich glaube, sie gesteht sich's kaum selber – findet sie die lebhafte, redelustige Frau Wilhelm fast ein bißchen unterhaltender als die im ganzen doch recht stille Nane.«
»Da sitzt ihr beisammen und schwatzt, als wäre gar nichts Besonderes heute,« sagte der Herr Schloßhauptmann, der mit Wanda eingetreten war. Er trug seine schönste Uniform mit Orden und Wanda ein weißduftiges Kleid.
»Noch eine Viertelstunde, und der Zug mit den fürstlichen Herrschaften wird eintreffen. Nach dem Empfang am Bahnhof ist feierlicher Besuch der Kirche, und nach dem Frühstück bei uns, das wißt ihr, wollen die Hoheiten ja noch den Turm besteigen, ein Vergnügen, das ich nicht begreifen kann, aber das des Fürsten besonderer Wunsch sein soll. Daß Gottlob oben die Gäste bewillkommnet, verstehe ich, daß aber die Herrschaften auch Angelika zu sehen wünschen, ist mir unklar.«
»Die beiden waren ja doch vor Jahren im Schlosse in der Residenz eingeladen,« sagte Frau von Werder.
Aber nun ergriff auch sie die Unruhe. Prüfend übersah sie nochmals die mit altem Silber, Kristall und Blumen geschmückte Tafel. Werner, der ein frischer, stattlicher Leutnant geworden, besprach mit den Dienern die Weinfolge, Fräulein von Thadden rückte die Stühle im Besuchzimmer zurecht, und Wanda prüfte noch einmal den schönen Rosenstrauß von unten aus dem Garten, den sie dem Fürstenpaar zu übergeben hatte.
»Am meisten freue ich mich auf meinen Aeltesten, auf Franzkarl, den ich so lange nicht mehr gesehen, und der mit im Gefolge sein wird!« sagte Frau von Werder.
Doch nun erschollen aus der Ferne Böllerschüsse, – der fürstliche Zug fuhr ein. Und die Menge unten auf dem Platz kam in Bewegung. Die Glocken fingen an zu läuten, vor allem die altehrwürdigen der von innen und außen geschmückten Stadtpfarrkirche. Man hörte ein durch die Straßen sich hinziehendes Hochrufen und Räderrollen. Und als dieses vor dem Haupttor der Kirche verstummte, da erbrausten innen Orgel- und Posaunentöne, und ein gewaltiges Tedeum erscholl durch die herrlichen, altehrwürdigen Räume.
Angelika Reinhardt saß an ihrem alten Plätzchen, neben ihr Willi, auf der andern Seite die geliebte Martha von Thadden, und ihr ganzes Leben, das mit dieser Kirche ordentlich verwachsen war, zog an ihr vorüber: Kinderspiel und Kinderleid, Herzensjammer und Beschwichtigung, Belehrung und Erbauung, Trennung und Wiederkommen, und dann Bestätigen ihres Herzensbundes und Tauffeiern ihrer Kleinen. Ihr war das Herz so voll. Leise drückte sie ihres Mannes Hand, nickte voll Dankbarkeit der Freundin zu und schaute mit leuchtendem Blick hinauf zur Empore, wo ihre zwei ältesten Blondköpfe bereits mitsangen, während die zwei Jüngsten daheim unter guter Obhut waren. Dann, die Hände fest faltend, sang ihre Seele jubelnd mit: »Herr Gott dich loben wir, Herr Gott wir danken dir – dem Vater Preis!«
Das Programm des Tages verlief so, wie der Herr Schloßhauptmann gesagt hatte, und nach dem wohlgelungenen Frühstück und nach einer kurzen Ruhepause bestiegen die Fürstlichkeiten den Turm. Legationsrat Franzkarl von Werder machte den Führer und erleichterte den Herrschaften ein wenig das beschwerliche Steigen, indem er in launiger Weise seine mit dem Turm verknüpften Jugendstreiche erzählte, während das Gefolge, innerlich etwas brummend über die mühselige Zumutung, hintendrein kam. Die gewaltigen Glocken wurden bewundert und der Ausblick aus den immer luftiger werdenden gotischen Treppenfenstern. Und nun noch die oberste, hölzerne Treppe, dann ein kurzes Aufatmen, und die Hoheiten standen in dem Vorplatz der alten Turmstube.
Gottlob sprach ein paar kurze Empfangsworte und beugte sich tief über die ihm dargebotene Hand der fürstlichen Frau. Diese sagte freundlichst: »Sie sehen, welch einen Eindruck damals, wie Sie als Kind bei uns waren, die Beschreibung von Ihrem Turm auf uns gemacht hat, daß wir, sonst schwerfällige Menschen, hier heraufklettern. Wir möchten auch gerne sehen, von wo aus die schönen Lieder und Musikstücke in die Welt flattern, die Sie dem Wind, den Wolken und den Vögeln da oben ablauschen, lieber Professor! Zeigen Sie uns nun alle Schönheiten hier oben, doch zuerst möchten wir einen Augenblick uns irgendwo ausruhen und auch Ihre Schwester und Mutter begrüßen!«
Gottlob öffnete die Türe, und die Herrschaften traten in die alte Turmstube. Einen solchen Glanz von Uniformen, Orden und seidenen Gewändern hatte der dunkelblaue, getäfelte, schlichte Raum wohl noch nie beherbergt. Angelika wurde aufs gütigste gleichfalls als alte Bekannte begrüßt, und Mutter Nane im schwarzseidenen Kleid, das die Kinder ihr zu Engeles Hochzeit hatten anfertigen lassen, machte einen etwas ängstlichen, altmodischen Knicks. Aber ihr Wesen war bei allem bescheidenen, vielleicht ein bißchen unbeholfenen Auftreten doch ehrwürdig, die Antworten, die sie gab, so klug, daß die Fürstin aufs herzlichste sich mit ihr unterhielt und zu Angelika, die sie nachher geleitete, sagte: »Es war gewiß ein Glück für Sie, daß Sie wieder zu dieser Mutter zurückkamen!«
Und nun traten die Herrschaften hinaus auf den Kranz des Turmes. Weit vor ihnen ausgebreitet lag ihr Land in Sonne und Glanz und Fruchtbarkeit. Es mochte wohl das erste Mal sein, daß das fürstliche Paar so umfassend und in solch überwältigender Schönheit sehen konnte, was ihm anvertraut war, und es entstand eine feierliche Stille.
Dann aber sagte plötzlich die Fürstin zu Gottlob: »Wissen Sie noch, was Sie uns damals erklärten, daß Sie nur auf Ihrem Turm so recht phantasieren könnten, und daß Sie uns einluden, doch einmal dahin zu kommen? Wollen Sie uns nun die Freude machen und uns mit Ihrer Geige hier oben etwas erzählen?«
Die Landesmutter setzte sich in die Nische, wo Nane vorher für alle Fälle auf die Steinbank ihren gewirkten Hochzeitsschal gelegt hatte. Der Fürst blieb, an die Brüstung gelehnt, stehen, während das Gefolge sich auf die andere Seite zurückzog.
Gottlob stand mit seiner Geige im Arm unter dem Turmeingang, schlank und hochgewachsen, feierlich aussehend in dem schwarzen Anzug, das dunkle Auge wie suchend in die Ferne gerichtet. Was sollte er spielen? Einem inneren Drange folgend, erhob er die Geige. Voll und klar ertönte Vaters Lied: Wer nur den lieben Gott läßt walten! Und wenn nachher, gleich dem zierlichen Steinwerk rings umher, Verzierung an Verzierung, Arabesken an Arabesken klingend sich reihten, so blieb doch der Grundton des alten Chorals gleich der festen Grundlinie im Stein groß tragend, unerschütterlich, Jahrhunderte überdauernd.
»Das ist das Schönste, was Sie uns haben bieten können,« sagten die Zuhörer und kehrten kurz darauf mit erwärmten Herzen in ihre Welt zurück. Aber einer, der nicht mehr lebte, unter dessen Händen jahrzehntelang unten in der Kirche Töne und Melodien zur Ehre Gottes emporstiegen, der hätte, wenn er dabei gewesen wäre, gesagt:
»Gott Lob und Dank, kein Wunderkind, aber ein Gotteskind!«