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Erstes Zurückkommen. – Ein fröhlicher Abend mit Champagner. – Welche Gefühle eine blaue emaillierte Waschschüssel und ein grauer Hausrock erwecken können. – Beten oder nicht beten? – Herrn Steiners Ansichten kommen nun auch Gottlob als veraltet vor. – Herbstwehen auf dem Turm und Verlobung im Stadtpfarrhaus. – »Auf Wiedersehen in Berlin!«
Der Herr Stadtpfarrer hatte sich langsam erholt. Mit der kühleren Luft, die der Herbst mit sich brachte, war auch das Kopfleiden von Frau Reinhardt besser geworden, und Nane konnte die letzten Tage des September wieder ganz daheim sein und ihre Wohnung richten und säubern zum Empfang der Kinder, die Anfang Oktober kommen sollten. Eine Woche vorher hatte der Herr Vikar feierlich bei den Eltern um Gertruds Hand angehalten, und diese hatte Mutter und Vater alles erzählt, wie es gegangen war. »Ihr Schlingel mit euren Heimlichkeiten!« sagte der Stadtpfarrer ein bißchen ernsthaft, aber Vater und Mutter freuten sich des neuen Sohnes, den sie schon lange schätzten, und dem sie ihr Kind mit Vertrauen übergaben. –
Nun waren auch die Reisenden zurückgekehrt und mit Jubel von der Bahn abgeholt worden. Es war nach Herrn Janauscheks Wunsch gegangen, und alle hatten sich in den letzten drei Wochen in einem Badeort des Thüringer Waldes gründlich von Sonnenhitze und Künstleranstrengungen erholt. Nanes Herz pochte, als der Zug einfuhr. Jetzt erst gestand sie sich, wie sie sich in den langen sieben Wochen nach ihrem Buben gesehnt, wie sie Angelika vermißt hatte, und als die beiden lieben Gesichter zum Wagenfenster heraussahen und Gottlob seine Mütze, Engele einen Strauß, den sie in der Hand trug, schwenkte, da traten ihr vor Freude Tränen in die Augen, die sie die ganze Heimwehzeit über tapfer zurückgehalten hatte.
Und wie prächtig sahen die Kinder aus! So gut wie seit Jahren nicht mehr! Gottlob, der seinen Geigenkasten trug, umklammerte fest mit der andern freien Hand den Arm seines Mutterles. Seine Augen strahlten in Glück, und er, der sonst immer so schmal war, hatte ordentlich runde Bäckchen bekommen. Angelika war rosig angehaucht und sah so hübsch und fast vornehm in dem neuen, grauen Herbstanzug und dem Reisehut mit Schleier aus. Auch sie flog von Arm zu Arm. Am längsten verweilte sie bei Gertrud, indem sie ihr und ihrem Fritz stürmisch Glück wünschte, während Willi sich bescheiden mehr im Hintergrund hielt. Er war eine stille Natur und konnte nie viel Worte machen, aber er freute sich, daß seine Ferien im Polytechnikum in Berlin ihm noch ein paar Tage Zeit ließen, die Geschwister zu sehen.
Mit vielen Sträußen und Schachteln und Handgepäck, das sie inzwischen ihrem Mann und einem Packträger übergeben hatte, stieg nun auch Frau Janauschek aus, schüttelte nach rechts und links allen anwesenden Bekannten die Hände und sagte zu jedem einige freundliche Worte.
»Na, Mutterl, was sagen Sie dazu, wie ich Ihnen die Kinder heimbring?« war ihre erste Frage an Nane, als alle beisammen in der Straßenbahn saßen. »Sehen die beiden nicht aus wie zwei aufgeblühte Röserl, was? Aber gefüttert hab' ich's auch und essen haben's müssen, und schon gar nichts haben wir getan in den letzten Wochen, das reinste Schlaraffenleben geführt, gelt, Angelika? Aber vorher haben wir auch tüchtig gearbeitet und einen ganzen Haufen Kritiken und Programme und Aufsätze über unsern Bened … will sagen den Gottlob haben wir mit heimgebracht. Aber daß ihr mich fein dabei sein laßt, wenn ihr das mitsammen lest, gelt?«
Nanes Herz war voll Dankbarkeit bis zu dem verhängnisvollen Wort, das ihr den Namenswechsel wieder in Erinnerung brachte. Sie wollte aber damit jetzt nicht kommen und sagte daher nur schlicht und einfach:
»Ja, Gott sei Dank und Ihnen auch tausendmal, liebe Frau Direktor!«
Janauscheks verabschiedeten sich wie auch die Reinhardtschen Geschwister, als man auf dem Marktplatz angekommen war. Nachdem man zum Schlosse hinaufgegrüßt hatte, von wo Frau von Werder mit den Kindern herabnickte, und nachdem Frau Maier liebend berücksichtigt worden war und sie versprochen hatte, nach dem Nachtessen hinaufzukommen, waren die drei endlich allein, und Nane konnte sich so recht von Herzen freuen.
»Ach, Kinder, wie gut ist's, daß ich euch wieder habe!« sagte sie und gab jedem einen innigen Kuß, etwas, was sonst nicht in ihrer Art lag.
Der Tisch war schon vorher sauber und frisch zum Abendbrot gedeckt worden. In der Mitte stand ein Strauß Spätrosen: »Von Willi!«, und eine Torte mit »Willkommen!« war von Frau von Werder geschickt worden. Dann trug Nane einen Kalbsbraten mit geschmälzten Nudeln auf, was beides Frau Maier unten in ihrer Küche gemacht hatte, weil die Mutter doch auf die Bahn gehen mußte. Und es war wirklich so, wie Frau Janauschek gesagt hatte, der Kinder Appetit war ein ganz anderer als früher geworden, und Nane vermochte vor lauter Freude kaum selber zu essen, als ihr Lobele noch zum dritten Male von den Nudeln verlangte.
»Weißt, Mutter, so gut wie das ist doch alles Gute, das wir auf der Reise bekommen haben, nicht gewesen!«
Angelika dachte nicht ganz so, im Gegenteil. Sie verglich eben in der Stille die schönen Bratensoßen in den Hotels mit der etwas nach Zwiebel schmeckenden heimischen Brühe, aber sie sagte nichts. War sie doch auch glücklich und vergnügt, wieder in der Heimat und bei allen lieben, alten Menschen zu sein.
Gottlob war inzwischen ganz lebhaft geworden und erzählte.
»Weißt, Mutterle, es war alles noch viel, viel schöner, als ich dir hab' in den Karten schreiben können! Frau Janauschek war immer so gut mit uns und all die fremden Leute auch, und die haben uns doch gar nicht gekannt! Jedermann hat mich gefragt, ob ich denn keine Angst hätte. Aber fürchten tu ich mich viel mehr, wenn ich mit dem Herrn Direktor allein bin und er mich auszankt, wenn ich nicht flott genug spiele oder über eine Stelle nicht schnell hinüberkomme.«
»Es ist merkwürdig,« sagte Angelika, »wie sicher Gottlob in den Konzerten ist, während mich die vielen Menschen und der Gedanke, wir könnten einmal stecken bleiben, unsagbar quält und auch oft unsicher macht. Ein Glück ist, daß Frau Janauschek immer wieder dazwischen singt und ich mich wieder fassen kann!«
»Wenn mein Engele mich begleitet, ist mir's doch am liebsten,« sagte wieder Gottlob. »In Baden-Baden hat mich ein großer Klavierkünstler begleitet, und mit dem ist's nicht recht gegangen. Er hat meine Geige nicht verstanden wie ich seine Sprache nicht, weil er französisch gesprochen hat. Aber so viel hab' ich doch verstanden, daß er mich trotzdem mit sich nach Paris hat nehmen wollen, aber da hab' ich fest mit dem Kopf geschüttelt und Non, non! gesagt.«
»Ja, denke nur, Mutter, nicht nur dieser französische Künstler, sondern auch verschiedene andere große Musiker und Direktoren wollten uns bei sich behalten, um uns ihre Lehren und die Art der Musik, die sie für die richtige halten, beizubringen,« ergänzte Angelika. »Aber Frau Janauschek hat jedesmal aufs bestimmteste erklärt, daß wir ihr gehörten, und daß sie uns niemand anderem überlassen würde.«
»Das will ich meinen, potz tausend alle Welt!« fiel die Genannte in die Rede. Sie war eben mit ihrem Gatten eingetreten, und die lebhaft Sprechenden hatten das Klopfen überhört. Frau Maier war auch gleich darauf gekommen und hatte sich breit und behaglich in den alten Lehnstuhl am Ofen gesetzt. Unter lebhaftem Hin- und Herreden wurde die Werdersche Torte herumgereicht, und der Herr Direktor machte sich an etwas Langem, das er aus seiner Ueberziehertasche geholt hatte, am Nebentischchen zu schaffen. Es endete mit einem Knall, so daß Frau Maier laut aufschreiend in die Höhe fuhr, und der Herr Direktor befahl:
»Rasch Gläser her!«
Es war Champagner, den er mitgebracht hatte, mit dem er die Rückkehr von der ersten Künstlerreise, wie er sagte, feiern wollte. Er stieß zuerst mit Nane an, die sich im Schrecken über etwas so Üppiges und Ungewohntes an dem ersten Schluck gründlich verschluckte, und mit Frau Maier, die auf ihren Schrecken hin mit sichtlichem Behagen das süße, perlende Naß schlürfte, und dann mit Angelika und Gottlob, die zu Nanes Befremden gar nicht so erstaunt über das seltene Getränk waren, sondern es frischweg an die Lippen setzten.
»Ja ja, Mutterl, Champagner gehört zu so etwas! Jetzt muß ich Ihnen doch sagen,« – Herr Janauschek erhob das von neuem gefüllte Glas – »daß unser erster Versuch, bei dem man doch nie wissen kann, wie's geht, glänzend ausgefallen ist.«
Der Sprechende trank in einem Zug das Glas leer und stellte es auf den Tisch.
»Also hat Gott seinen Segen zur Arbeit gegeben?« sagte Nane schlicht und feierlich und faltete die Hände.
»Gewiß, gewiß,« beeilte sich der Herr Direktor zu erwidern. »Aber tüchtiges Schaffen hat nicht immer ein Gelingen, besonders wo das Genie fehlt. Daß dieses eben bei unserm Buberl vorhanden ist und aushält, das haben wir jetzt erprobt, und schon jetzt wird der Name Peter Benedikt Linden in allen Zeitungen rühmend genannt. Wartens nur, Mutterl, ich hab' Ihnen einen Pack davon mitgebracht, und will's Ihnen vorlesen!«
»Warum haben Sie mir das angetan mit dem Namenswechsel, wo ich doch so bestimmt und ernst dagegengesprochen habe?« sagte nun Nane. In ihrer Stimme lag nicht nur tiefer Ernst, sondern ein wirkliches Gedrücktsein, das gar nicht zu dem Frohsinn paßte, der bisher geherrscht hatte.
»Ich bitt' Sie, Mutterl, machens uns jetzt mit Beleidigtsein keine Geschichten! 's wär' jammerschad' um die schöne Stimmung, in der wir sind! ›Gottlob‹ ist für einen jungen Künstler einfach unmöglich, und die paar Buchstaben, die wir anders gemacht haben, weil's halt einmal besser so klingt, sind doch auch wahrhaftig nicht der Red' wert, daß man nur darüber spricht. Denken Sie nur, wie viele Maier es in der Welt gibt!« Frau Janauschek stieß ihren Mann an und zwinkerte mit den Augen gegen den Ofen.
»Prosit, verehrte Hausfrau! Nichts für ungut!« schaltete dieser gewandt ein und erhob das Glas gegen die im Lehnstuhl Sitzende, die gerade eine scharfe Erwiderung auf der Zunge hatte, aber nun schwieg. Nane zog schließlich auch vor, nichts mehr zu sagen, nachdem das Ehepaar ihr nochmals auseinandergesetzt, daß der Name viel zu lang und zu prosaisch gewesen wäre, und daß man ihr ja mit Beibehaltung des Familiennamens Peter entgegengekommen sei. Schließlich verstand sie ja all die Gründe, aber ein Weh blieb's ihr doch, und als nachher die teilweise überaus günstigen Beurteilungen über das geradezu verblüffende Talent des jungen Künstlers Linden vorgelesen wurden, da freute sie sich wohl recht innig, doch war's ihr immer ums Herz, als sei dies gar nicht ihr eigenes Kind, von dem hier in so begeisterter Weise gesprochen wurde.
Als die Gäste fortgegangen waren, half Angelika der Mutter beim Aufräumen und Abspülen des Geschirrs, während Gottlob inzwischen zu Bett ging.
»Ich komm' gleich noch zu dir, Lobele,« sagte die Mutter, und dann ermahnte sie Angelika nach alter Weise, doch geschwind zur Arbeit ihr Hauskleid anzuziehen; es sei ja schade um den schönen Reiseanzug. Diese tat's, aber als sie in dem dunkeln, engen, nur durch ein Oellämpchen erleuchteten Küchelein stand und Gläser und Teller reinigte und abtrocknete, und als sie nachher nach dem Gutenachtsagen in ihr Stübchen trat und ihr Blick zufällig in den schräggehängten Spiegel fiel, der eine Gestalt in einem höchst schlichten Kattunkleid und einer Arbeitsschürze zurückgab, da war auf einmal ihre ganze Wiedersehensfreude verrauscht. War sie doch seit Wochen gewöhnt gewesen, in dem Glase eine in lichte Farben gekleidete junge Dame zu sehen, die sorgsam darauf zu achten hatte, daß ihr Anzug sie hübsch kleidete und ihr vorteilhaft zu Gesicht stand, daß die blonden Haare sich möglichst geschmackvoll ringelten, und daß die Hände schön weiß und gepflegt waren. Und jetzt dieses Aschenbrödel, das da herausschaute! Rasch riß Angelika das ihr sonst so lieb und bequem gewesene Hauskleid herunter, kühlte sich Gesicht und Nacken mit frischem Wasser – wie klein und unfein erschien ihr nun auch das weiß und blau emaillierte Waschgeschirr! – und ihre Finger reinigte sie in einem Berg von Seifenschaum, ehe sie in ihr Nachtgewand und dann ins Bett schlüpfte, wo sie trotz Müdigkeit lange nicht einschlief. Eine Flut von unangenehmen Empfindungen überkam sie, aus denen heraus sich um so lichter die Erinnerung an die letztvergangenen Wochen mit all dem wechselvollen Schönen hervorhob.
Mutter Nane aber war noch zu ihrem Buben gegangen und saß an seinem Bett, mit ihm sprechend und die kleine, braune Hand in der ihren haltend. Dann und wann fuhren ihre arbeitsharten Finger liebkosend über die des Kindes, die schon so Großes leisteten. Und als dann Gottlob erzählte, wie dieser oder jener Meister ihn gelobt hatte, wie er an einem Ort siebenmal habe herauskommen und sich verbeugen müssen, und wie ihm an einem andern eine gar vornehme Gräfin ihren Wagen geschickt habe, um ins Konzert zu fahren, da freute sich das Mutterherz wohl sehr, aber ängstlich suchte sie herauszubekommen, ob das alles ihr Kind nicht verwöhnt und eitel gemacht habe. Darum war es ihr eine ordentliche Erlösung, als Gottlob die Arme um ihren Hals schlang und sagte:
»O was, Mutterle, bei dir daheim ist's eben doch am besten und allerschönsten! Aber jetzt will ich schlafen, gelt?«
Das Kind löste seine Arme und legte sich schläfrig und müde auf die Seite:
»Gute Nacht, Mutterle!« Der Bub schloß seine Augen. Nane aber rief ihm noch zu: »Halt, du hast noch nicht gebetet! Oder soll ich's für dich tun?« fragte sie.
Gottlob richtete sich noch einmal halb auf.
»Ach ja! Weißt du, dazu haben wir auf der Reise nicht oft Zeit gehabt. Es ist immer so spät geworden, und dann hat Frau Janauschek gesagt: ›Der liebe Gott hört uns auch, ohne daß wir viele Worte machen.‹ Aber leis' hab' ich doch manchmal gesagt: ›Wer nur den lieben Gott läßt walten‹, nur hab' ich so viel anderes dabei denken müssen, und vor dem Schluß bin ich meistens eingeschlafen.«
Nane schüttelte beunruhigt den Kopf. Dann aber faltete sie ihre Hände und sprach das alte Kindergebetlein:
Breit' aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein!
Will Satan mich verschlingen,
So laß die Engel singen:
Dies Kind soll unverletzet sein!
Gottlob hatte gleichfalls die Hände gefaltet und leise mitgesprochen, dann aber war er rasch eingeschlafen. Nane horchte noch einen Augenblick auf die ruhigen Atemzüge und erquickte sich am Anblick ihres Lieblings. Die schwarzen Wimpern legten sich auf die bräunlichen gerundeten Bäckchen, der Mund, der für gewöhnlich etwas zu Ernstes hatte, lächelte im Schlaf, und die langen, seidenweichen, dunkeln Locken, die um das Gesichtchen sich ringelten, das mußte sie jetzt selber gestehen, sahen ordentlich engelhaft aus.
»Gott walt's«! sagte Nane, wohl als Schluß von einer Reihe von Gedanken, die sie gehabt hatte. Nachdem sie den Jungen noch sorglich zugedeckt, ging sie ins Wohnzimmer zurück, wo noch ein ganzer Korb voll Arbeit ihrer harrte. Gottlob, daß es wieder welche gab! Die Menschen kehrten jetzt von ihren Reisen zurück, und die Gesellschaften begannen. Da hieß es tüchtig arbeiten und auch die Nacht zu Hilfe nehmen, denn das Leben kostete viel.
»Mutter, ich bin unglücklich, daß wir dir nicht, wie ich so sicher gehofft hatte, von unserm Verdienst wenigstens einen Teil haben heimbringen können,« klagte Angelika am andern Morgen, als sie etwas verschlafen ziemlich spät herüberkam und sah, was alles von der Mutter schon in der Morgenfrühe geleistet worden war.
»Gräm' dich nicht, Engele,« beruhigte Nane. »Die Hauptsache ist mir die, daß ihr beide euch so herrlich erholen konntet, und das nächste Mal wird's ja wohl möglich sein, daß ihr mir was abgeben könnt, und daß ich was in die Sparkasse für euch tragen kann. Wenn's nur erst ein paar Markstücke sind, es braucht noch lange kein Haufen Geld zu sein, wie der Herr Direktor ihn uns immer verheißt.« Nane lächelte, was ihren sonst etwas hart aussehenden Zügen so gut stand. »Aber nun, Engele, laß dir erzählen, wie unser Herrgott inzwischen für mich gesorgt hat, wo ich doch so kleinmütig gewesen!«
Und während Angelika das etwas kalt gewordene Frühstück einnahm und die Mutter eine Anzahl von bereits gewaschenen Handschuhen über bereitgehaltene runde Hölzer zog, berichtete sie ihr von ihren Aengsten wegen des Hauszinses. Sie sagte ihr, daß sie nach der Pflege im Stadtpfarrhaus mit schwerem Herzen zu Frau Maier gegangen sei, um sie zu bitten, sich ein paar Monate gedulden zu wollen. Da habe ihr diese ohne weiteres die Quittung für das nächste Quartal in die Hand gedrückt und gesagt:
»Die Frau Stadtpfarrer hat mir ja heute früh schon das Geld in Ihrem Namen gebracht, also braucht's keiner Worte mehr!«
Als sie aber ins Stadtpfarrhaus gekommen sei, da habe Frau Reinhardt sie einfach nicht zum Worte kommen lassen, als sie, Nane, gesagt habe, für die Krankenpflege lasse sie sich nicht zahlen.
»Das wäre, verzeih mir, Nane, geradezu hochmütig und einfältig,« habe man ihr erwidert. »Wir alle müssen von irgendwoher Geld annehmen, um leben zu können, und wenn du deinen wohlverdienten Lohn für das, was du uns geleistet, nicht annehmen wolltest, so wäre es genau so, als wenn mein Mann dem König sein Gehalt zurückschicken würde. Den Dank nebenher für deine Hingebung, den können und wollen wir dir ja doch nicht in Geld auszahlen, sondern in vermehrter Anhänglichkeit und Liebe!«
Nane wischte sich die Augen, denn die Rührung hatte sie übermannt. Dann setzte sie Angelika auseinander, daß diese ganz ruhig sein dürfe; so, wie das Geschäft jetzt gehe, würden sie in den nächsten vier Wochen, wo die Kinder noch da seien, gut leben können. Im Winter hoffe sie dann auch wieder einen Notpfennig erübrigen zu können, und damit sei es ja dann gewonnen.
Angelika, die früher mit ihrem Verdienst eine wesentliche Stütze gewesen, und mit der die Mutter gewöhnt war, alles zu besprechen, empfand diese Unterredung als eine Qual. Warum erschien ihr nun auf einmal wieder wie einstens, als sie von den Engländern zurückkam, dies alles so peinlich: die kleinen Verhältnisse, die um des täglichen Brotes willen sich abquälende Mutter, deren arme, verwaschene Hände, das Drückende der Abhängigkeit von andern Menschen, und daß gerade Stadtpfarrers es waren, die …?
»Plag' dich doch nicht, Liebling, mit solch dummem Zeug und sei heiter und fidel, solange du jung und gesund bist!« schalt sie Frau Janauschek, die Angelika in einer solchen trüben Stimmung traf.
»Erstens hab' ich's daheim, bei dem Haus voller Geschwister einstens tausendmal schlechter gehabt als du, und bei einem Vater, der nicht gern hat arbeiten mögen. Da ist deine Mutter eine Dam' und euer Hauswesen ein Schloß dagegen. Bin auch zuweilen elend gewesen, aber dann hat mir unser Herrgott die Stimme gegeben, und ich hab' mir das Trübsein weggesungen. Dir und dem Benedikt – das Ehepaar Janauschek nannte den Knaben nun beharrlich so – wird's mit euren Talenten gerade so gehen, und ihr könnt noch ein schönes Leben bekommen. Was eure Muttel anbetrifft, so könnt ihr derselben mit der Zeit immer was abgeben, versteht sich, wie auch ich dann und wann ein Goldvögerl nach Haus geschickt habe. Im übrigen muß halt ein jedes für sich selbst sorgen, das ist eben einmal so in der Welt!«
Die gut gemeinten, aber oberflächlichen Worte vermochten Angelika das Unbehagen für den Augenblick nicht zu nehmen. Sich wenn auch nur für kurze Zeit von der Mutter aushalten zu lassen, war ihr schrecklich, und sie konnte nachträglich gar nicht begreifen, daß sie so frischweg die letzten Wochen nur genossen und sich vergnügt hatte. Freilich war das Nichtstun eine Zeitlang herrlich gewesen! Jetzt mußte gleich wieder ein scharfes Arbeiten beginnen, denn der Herr Direktor wollte bis zum November, wo das erste große Konzert in der Residenz stattfinden sollte, noch verschiedene neue Stücke mit den beiden einüben.
Gleich am ersten Morgen war Gottlob zu seinem lieben Herrn Steiner gegangen, dessen Augen leuchteten, als der Bub zur Türe hereintrat.
»Grüß Gott! Grüß Gott!« empfing er ihn, und ein Zug der Befreiung von einer Sorge ging über das hagere Gesicht des Leidenden, als er das gute Aussehen von Gottlob wahrnahm. »Da setz' dich hin und erzähl!« Er nahm ordentlich dem Kind schon die Worte von den Lippen, so begierig war er auf den Bericht. Er ließ sich vor allem die Programme vorlesen, die Gottlob mitgebracht hatte, und die Kritiken. Bei den letzteren leuchteten seine Augen an manchen Stellen auf, und er nickte mit dem Kopf:
»Hab's so erwartet, hab' gewußt, daß du's kannst!« Bei anderem wieder sah er ordentlich bekümmert drein.
»'s ist zu früh, ihr führt's nicht durch, und dann kommt die Enttäuschung! Die schweren und tiefen Stücke erfordern Manneserfahrung!«
»Aber ich spiele sie doch fehlerlos!« sagte Gottlob, nicht ohne einen kleinen Stolz.
»Du spielst sie, ja, aber es wird ein Augenblick kommen, wo dieses Können dir selber und andern nicht mehr genügen wird, und dann wirst du leiden!«
»Die Menschen sagten alle, ich geige schon wie ein Alter!« Des Kindes ernstes Gesicht paßte zu diesem Satze.
»Das ist's ja eben, was mich nicht freut! Ich hätte dir so gerne noch deine Kindheit gelassen!«
Herr Steiner redete nun nicht mehr von Musik. Er mochte fühlen, daß der Knabe ihn heute weniger als sonst verstehen würde. Das Gespräch stockte, und zum ersten Male ging Gottlob unbefriedigt von seinem einstigen Lehrer fort und dachte: »Herr Janauschek hat doch recht, wenn er sagt, das seien enge, veraltete Ansichten!«
Am Abend desselben Tages war Gottlob mit seiner Geige auf den geliebten Turm gestiegen. Wie hatte er sich darauf gefreut, in wie mancher Nacht hatte er geträumt, oben zu sein, über die weiten Lande zu schauen und des Vaters Lied zu spielen! Als er jetzt hinaufkam, wehte keine Frühlingsluft mehr, sondern ein scharfer Herbstwind, der ihn zwang, sich hinter den Mauervorsprung zu stellen, um einigermaßen Schutz zu haben. Sonst war es gerade bei Sturm und Unwetter so behaglich an diesem geschützten Plätzchen, und er hatte manchmal dem Wind seine Töne abgelauscht und mit ihm um die Wette gespielt. Heute bedrückte ihn die Einsamkeit. Wilhelm und seine Frau waren wohl unten in der Stadt, denn der Schlüssel ihrer Wohnung steckte nicht, und mehr aus alter Gewohnheit als aus innerem Herzensdrang nahm der Bub seine Geige und spielte das altgewohnte Lied kurz und ohne Variationen, denn es fror ihn ein bißchen, und dann ging er rasch die Treppe wieder hinunter und war froh, als er vereint mit Angelika bald darauf in das hellerleuchtete Stadtpfarrhaus durfte, wo heute abend Verlobungsfest gefeiert wurde.
»Wir haben auf euch damit gewartet,« sagte Gertrud, die mit den braunen, glückstrahlenden Augen und der frischen Gesichtsfarbe in ihrem himmelblauen Kleid sehr lieblich aussah, und deren Fritz keinen Augenblick von ihrer Seite wich. Der Hausherr hatte sich wieder erholt und saß gegenüber dem Bräutigam, dessen Platz von den Werderschen Kindern mit Blumen bekränzt war. Auch Frau von Werder war zugegen und noch einige Freunde des Hauses, ebenso Willi, dessen Ferienzeit morgen ablief. Angelika mußte fortwährend ihre Gertrud ansehen und sich an ihrem Glück freuen. Aber ganz im Grunde des Herzens – sie mochte es sich wohl kaum selber gestehen – regte sich ein fremdes Gefühl. Nicht Neid, nein, das ganz gewiß nicht, aber ein klein bißchen Bitterkeit. Hier waren alle Verhältnisse so klar, so übereinstimmend. Gertrud hatte nie etwas anderes gekannt als den Stand, in dem sie nun auch ferner blieb, anstandslos und kampflos, während Angelika, vom Schicksal hin- und hergeworfen, ihr Leben lang nicht wußte, wem sie gehörte, und was sie war.
»Ein nettes Mädel und dabei eine Künstlerin,« hätte ihr Frau Janauschek geantwortet.
»Die Tochter von einem braven Mann und ein einfaches Bürgerkind, das sein Brot zu verdienen hat,« wäre der Mutter Ausspruch gewesen.
»Ein Gotteskind, das unbeirrt seine Pflicht zu tun hat, gerade da, wo es hingestellt ist!« hatte Fräulein von Thadden ihr schon unzähligemal und heute wieder in einem Briefe gesagt.
Ach ja, Angelika wollte ihre Pflicht tun, wollte jetzt noch und dann in der kommenden Zeit alle Kräfte anstrengen, um den Bruder in seiner Laufbahn zu unterstützen. Aber das drückende, beschränkte Leben hier mit den kleinlichen Alltagspflichten mochte sie nimmer ertragen, und als Willi in seiner ehrlichen, schlichten Art sagte: »Mag dir's gönnen, Engele, daß du noch ein paar Wochen daheim sein darfst, und deiner Mutter auch,« da tat's ihm ordentlich weh, als Angelika schroff antwortete: »Für Mutter ist's vorteilhafter, wenn sie allein ist. Wir können besser für sie sorgen, wenn wir fort sind.«
Willi hätte gern etwas darauf erwidert, aber es wurden nun Reden gehalten, man stieß an und wechselte die Plätze. Dann ging's in ein anderes Zimmer, und schließlich mußten die Geschwister etwas vortragen. Er hatte so manches auf dem Herzen, was er gerade heute gern Angelika gesagt hätte. Aber als er sie noch heimbegleitete, da hängte sich Gottlob fest an seinen Arm und plauderte und erzählte ihm, daß sie Ende des Winters nach Berlin kommen und auch dort ein Konzert geben würden.
»Ihr benachrichtigt mich natürlich sofort,« sagte Willi erfreut, und indem er noch unter einer Laterne seine genaue Adresse auf ein Blatt Papier geschrieben hatte, schieden die drei mit gegenseitigem Händeschütteln voneinander.
»Auf Wiedersehen in Berlin!« Das, was Willi hatte sagen wollen, verschob er nun bis dorthin.