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Neuntes Kapitel.

Ein Kapitel in Briefen. – Gottlob spielt die Rhapsodie von Wieniawsky, aber trotzdem wäre Fräulein von Thadden für den andern Weg. – Angelika findet Schwester Martha weltunerfahren. – Gelbseidene Empiremöbel, weißseidenes Kleid und zweitausend Mark im Zins, aber ein Zwiespalt im Herzen. – Von einem Armenkonzert, einem ungarischen Grafen und einem vertrockneten Veilchenstrauß.


Brief von Gottlob an seine Mutter.

Berlin, den 25. Dezember.

Liebe Mutter!

Herzlichen Dank für das, was in der Schachtel war. Herr Direktor hat es uns gleich gegeben, als wir hier ankamen. Das Brieftäschchen ist wunderschön, und hab' ich gleich Dein und Vaters Bild hineingetan. Das Messerchen ist fein und die Taschentücher weich – nur ein wenig groß seien sie, sagt Frau Janauschek. Am Weihnachtsabend hab' ich ein bißchen weinen müssen. Ach, Mutterle, das war doch schrecklich, daß alles nichts war, gerade wie wir kommen wollten! Engele sagt, ich solle gescheit sein. Aber es ist ihr selber arg, das merk' ich gut, und gerade vorhin hat sie gesagt: »Jetzt gehen daheim alle in die Kirche!« Wir gehen in keine. Dazu hat man auf der Reise keine Zeit, sagt Frau Janauschek. Ich mag auch nicht in eine andere als in die unsrige. Was hast du getan, wie wir nicht gekommen sind? Hast Du auch geweint? Ich tue es schon wieder, aber Frau Janauschek sagt, das sei nicht männlich, und ich radiere den einen Tropfen heraus, den es gegeben hat. – Alle Leute haben jetzt Feiertage, aber wir müssen tüchtig arbeiten. Herr Direktor sagt, das sei von allen das wichtigste Konzert, weil Berlin die wichtigste Stadt ist, und wenn es hier gut gehe, stehe uns die ganze Welt offen. Es ist sehr kalt hier, und die Handschuhe, die Du mir geschickt, sind sehr schön warm. Wenn Du hast, so schicke mir doch, bitte, auch noch einmal Springerle oder Zimtsterne oder Anisbrot. Was man hier hat, ist gar nicht so gut.

Und an alle Grüße! Hat Werner meine Ansichtspostkarte erhalten? Wie geht's Herrn Steiner? Sag ihm, ich spiele das Konzert von Wieniawsky. Und das macht mich ein bißchen müde, aber es ist prachtvoll. Wilhelm würde es auch gefallen. Wenn ich komme, spiel ich's ihm vor.

Nun muß ich schließen.

Dein treuer Sohn
Gottlob.

N.S. Gestern war ein Professor aus Wien da. Dorthin gehen wir auch, und vielleicht nach Paris. Aber dahin noch nicht so bald, sagt der Herr von dort, der ein Franzose ist. –

 

Brief von Fräulein von Thadden an Frau von Werder.

Berlin, den 1. Januar 19..

Geliebte Ursula!

Gott zum Gruße im neuen Jahr und alles Gute Euch und Euren Kindern! Ich hoffe, Ihr seid alle gesund und habt auch gute Nachrichten von Eurem Aeltesten aus Paris. Ich habe mich sehr gefreut, daß er so jung schon in der dortigen Botschaft verwendet wird, was von seiner Tüchtigkeit zeugt. Ihr werdet ihn auf diese Weise an Weihnachten nicht bei Euch gehabt und ihn wohl ein bißchen vermißt haben.

Daß ich Dir heute von Berlin aus schreibe, und daß ich heuer dort die Festtage verlebe statt in der Stille auf meinem Landgut, daran ist, wie Du Dir wohl denken kannst, unsere liebe Angelika schuld und Gottlob, der kleine, gottbegnadete Künstler, der vergangene Woche hier einen vollen Erfolg errungen hat. Darüber sind alle Kritiker einig, daß das Kind ein ungewöhnliches Talent hat und ein weit über seine Jahre hinausgehendes Können. Er soll auch, wie einige der maßgebenden Herren, die ich gesprochen, und die ihn an anderen Orten schon gehört, hier ganz besonders gut und vertieft gespielt haben. Rührend war, wie er mir sagte: »Wenn man traurig ist, fühlt's die Geige!« Angelika erzählte mir, wie furchtbar schwer der arme kleine Kerl es genommen habe, daß er über Weihnachten nicht heim durfte.

Also das Konzert war so gelungen, als man es nur wünschen konnte. Der große Saal war ganz gefüllt, zwischen den Großen auch viele Kinder, wozu der Feiertag günstig war. Daß meine besondere Aufmerksamkeit hauptsächlich auch unserm geliebten Engele galt, kannst Du Dir denken. Weißt Du ja doch, wie schwer ich diese ganze Aenderung ihres Lebensplanes für sie nahm und, Dir kann ich es ja gestehen, jetzt von neuem für sie nehme. Erstens ist es ihr Spiel, das mir und auch andern nicht künstlerisch genug erscheint zu solch großartigem öffentlichem Auftreten.

»Aber sie ersetzt durch ihr reizendes Aussehen und durch den Gegensatz zu dem Bruder, was ihr etwa fehlt,« hörte ich da und dort sagen, und siehst Du, das ist's, um was ich mich sorge. Angelika ist mir viel zu teuer, als daß man sie in Künstlerkreisen nicht ernst nimmt, und daß sie nur so wegen ihres hübschen Gesichtchens und der blonden Haare nebenherläuft. Frau Janauschek, mit der ich lange und ernst über diese Sache gesprochen, hat natürlich hierin andere Ansichten. »Was wollen Sie, gnädiges Fräulein?« sagte sie. »Die Geschwister, die sich so vorzüglich ergänzen, gehören einmal vorderhand zusammen. Das Benedikterl so, wie es ist, würde gar nicht allein bei uns bleiben ohne sein Engele, und so macht man halt jetzt einmal fort, solange das Buberl ›zieht‹, und solange die Leute wie närrisch mit ihm sind. Einmal wird ja das leider aufhören, wenn Benedikt größer wird, und bis dahin genügt ja auch, was Angelika kann!« Mir wurde bange bei diesen Worten. Also doch ein Wunderkind soll Gottlob sein, und was nachher? Frau Janauschek mochte meine Gedanken erraten, denn sie sagte mit Eifer: »Natürlich, selbstverständlich wird immer mit den beiden weiterstudiert, ernsthaft und gründlich, dafür ist doch mein Mann da!« Und dieser, der eben dazukam, versicherte mir dasselbe aufs bestimmteste, und ich sprach noch lange mit dem Ehepaar von meinen Bedenken, die sie teils verstehen, teils in ihrer leichtnehmenden Art wahrscheinlich für übertrieben halten. Wären es Menschen mit groben Fehlern, so dürfte man der Sache nicht nur so zusehen. Da aber beide wirklich anständige und seelengute Leute sind, so läßt sich nichts sagen als: Gott befohlen! – Mein Inneres bangt für die beiden! Ganz mein altes, herrliches, schlichtes Engele ist es nimmer, und Gottlobs Gesundheit traue ich nicht auf die Länge. Aber sei es, daß ihr Pfad licht bleibt, oder daß er durch Leid und Enttäuschung geht, wenn er nur einmal zum wahren Glück und zum inneren Frieden führt!

In alter Treue Deine
Martha von Thadden.

Angelika an die Mutter.

Hamburg, den 3. Januar 19..

Liebe Mutter!

Nun sind wir hier, wo es uns sehr gut gefällt, fast besser als in Berlin, obgleich der Besuch und das Wiedersehen mit der lieben Schwester Martha natürlich eine große Freude war. Es ist rührend, wie lieb sie uns hat, aber ein ganz klein bißchen geht sie in ihren Sorgen doch zu weit, und das kommt wohl daher, wie Frau Janauschek sagt, daß sie eben doch immer nur auf dem Lande oder in Krankenstuben gelebt und dem Künstlerleben fern gestanden hat. Aber sie war furchtbar lieb mit uns, hat sich auch, obgleich sie eigentlich nicht viel von Musik versteht, nach allem genau erkundigt, wie wenn sie's verstände, und hat uns mit sich ins Hohenzollernmuseum genommen und ins Aquarium und ins Postmuseum, wozu der Herr Direktor und seine Frau keine Zeit gehabt hätten, weil sie überall so viele Bekannte haben. Am Silvesterabend sind wir auch mit ihr in die Kirche gegangen, was mir sehr recht war und Gottlob auch. Wir haben den lieben Gott recht gebeten, daß er Dich und uns segnen möge. Ich fühle manchmal, daß wir in all dem Trubel zu wenig an ihn denken, und das bedrückt mich. Aber Frau Janauschek sagt, die Hauptsache sei, daß wir unsere Pflicht tun, das Uebrige wisse der liebe Gott von selber.

Liebe Mutter, hier ist es wunderschön. Wir sind von einem der reichsten Senatoren hier zum Wohnen eingeladen, und ich schreibe Dir in einem entzückenden, echten alten Empirezimmer. Die Möbel haben gelbseidene Bezüge mit Stickerei von Lorbeerkränzen, was, wie die Frau Senator gestern meinte, gerade für uns passe. Auch all die vielen andern Räume sind prachtvoll, besonders der Musiksaal, in dem ein echter Steinway steht. Es ist alle Abende Gesellschaft, und ich mußte mir rasch zwei Kleider bestellen, da die Menschen hier furchtbar vornehm sind. Das eine ist blaßblaue Seide, das andere rosa und grün. Ich erschrecke noch immer, wie gräßlich teuer diese Sachen sind, aber das sehe ich jetzt auch ein, daß die schlichten, weißen Kleider einfach unmöglich sind. Auch haben wir in der letzten Zeit schöne Einnahmen gehabt, wie Herr Janauschek, der mit uns hierher ist, berichten wird. Wenn er Geld schickt, so gönne Dir doch auch, bitte herzlich, ein wenig Ruhe. Ich versichere Dir, der Gedanke an das Handschuhgewasche ist mir oft fürchterlich. Den Bekannten sage allen die herzlichsten Grüße, besonders Gertrud. Herr Direktor verspricht uns sicher, daß, bevor wir, im Juni etwa, nach Wien reisen, wir einen Aufenthalt zu Hause machen dürfen, und ich hoffe, daß gerade in diese Zeit Gertruds Hochzeit fällt. Sage Willi auch viele Grüße, und wenn er gleich, sobald er dieser Tage nach Berlin kommt, geschwind zu uns herüber führe, so könnte er uns noch treffen. Er soll's doch tun und uns entschädigen, daß wir in Berlin ohne ihn sein mußten.

Ich schließe rasch. Eben kommt ein prachtvoller Blumenstrauß – lauter blaßrosa Rosen mit duftigstem Grün – »zu dem reizenden Kleid passend«, wie auf einem Zettel steht. Er ist von einem Vetter des Hauses, der gleichfalls ein Landhaus an der Alster besitzt, und zu dem wir morgen abend eingeladen sind. Ich werde aber energisch darauf dringen, daß Gottlob einmal zu Hause bleibt und schläft. Er hat heute abend über große Müdigkeit geklagt, was ja kein Wunder ist, denn ich bin's auch. Studieren tut er natürlich gegenwärtig nicht. – Ich hoffe, Du bist gesund, liebe Mutter!

Herzlichst
Angelika.

Brief von Herrn Direktor Janauschek an Frau Nane Lindenmaier.

Hamburg, den 8. Jan. 19..

Verehrteste!

Obgleich ich in acht Tagen heimkommen werde, kann ich mir nicht das Vergnügen versagen, Ihnen heute schon das Ergebnis der letzten Wochen mitzuteilen. Es ist Reingewinn, nach Abzug der Kosten, 1123 Mark 57 Pfennig, die ich Ihnen anbei durch Postanweisung schicke.

Na, Mutterl, was sagen Sie jetzt? Ist's recht so, und haben wir das Richtige getan oder nicht, daß wir die Prachtskinder nicht daheim versauern ließen, abgesehen davon, daß sie Tausenden von Menschen Freude bereiten, was doch, weiß Gott, auch etwas ist? Ich bedauere es sehr, daß ich nicht weiter mit kann, wo jetzt alles so wunderschön im Zuge ist, und manchmal besinne ich mich, ob ich das Geplage daheim nicht lieber aufgeben und mitreisen soll. Aber die Poldl meint, sicher sei sicher, obgleich's keine Kleinigkeit für uns ist, daß wir alleweil so weit auseinander sein müssen. Aber so müssen wir uns halt alle trösten und tüchtig schaffen, daß wir's später gut kriegen. Servus, Mutterl! Auf baldiges Wiederschauen!

Janauschek.

Brief von Willi Reinhardt an Angelika.

Berlin, den 12. Januar …

Liebes Engele! Gertrud hat mir den Brief an Deine Mutter vorgelesen, und ich bin froh, daß es Euch so gut geht. Ich habe in allen Blättern, die ich bekommen konnte, von Euren Triumphen in Berlin gelesen und bin noch immer ganz außer mir, daß ich gerade da nicht dort war. Herr Gott, was hätte ich mitgeklatscht und mich mitgefreut! Nun seid Ihr wieder weiter, und in Hamburg geht es Euch ja scheint's ausgezeichnet, und Ihr habt vielerlei Genüsse. Was ein Herüberfahren meinerseits anbetrifft, so hatte ich mir das auch vorher schon überlegt. Aber ich will es doch lieber bleiben lassen, denn es könnte mir wieder gehen wie einstens vor Jahren in Lausanne, wo der einfache Tischlerlehrling nicht zu den vornehmen Bekannten Deiner Engländer paßte. Im Ernst gesprochen, muß ich nach den Ferien nun auch tüchtig arbeiten, denn es ist das letzte Jahr, daß ich Gelegenheit zum Lernen habe. Ich wollte, ich wüßte sicher, daß Ihr im Sommer zu Gertruds Hochzeit heimkommt, dann würde ich diese letzte Enttäuschung leichter ertragen. So will ich mir jetzt lieber die Freude nicht erlauben und so arbeiten, daß ich an nichts anderes denken kann. – Grüße Dein liebes Lobele innig von mir und habt acht, daß der gute Kerl nicht zu viel tut. Das Kind hat eine feine Seele.

Dein treuer Freund
Willi.

Frau von Werder an Fräulein von Thadden.

Juli 19..

… Nun muß ich Dir aber, nachdem ich von mir und den Meinigen gesprochen, von der Hochzeit im lieben Stadtpfarrhaus erzählen und vor allem von dem Hiersein der Lindenmaierschen Geschwister. Du weißt ja, wie sie im Winter und Frühjahr, Konzerte gebend, herumreisten und hast ja selbst in dieser Zeit Briefe von Angelika bekommen, die Dir von all den Erfolgen berichteten, die sie hatten. So sehr es uns immer freute, so Gutes und Glänzendes zu hören, so wurde es uns alten Freunden gerade deshalb oft bange, wie wohl so viel Lob und so viel Zustimmung auf die beiden gewirkt haben mochte, besonders auf Angelika, aus deren Briefen doch nach und nach ein anderer, gewissermaßen fremder Ton sprach. Die gute, brave Nane mit ihrer äußerlich etwas rauhen, aber innerlich um so feineren Art empfand dies auch mit Bangen, wenn sie auch wenig Worte darüber machte. Nur am Tag vor der Hochzeit, als ich sie geschwind besuchte und das blitzblanke Aussehen der kleinen Wohnung lobte, sagte sie: »Ich habe die Putzarbeiten alle möglichst vorher gemacht, damit Engele in der kurzen Zeit, wo sie hier ist, nur Freundliches und Nettes sieht. Sie wird halt jetzt doch ein bißchen verwöhnt sein, glauben Sie nicht auch?« Ich glaubte und fürchtete es freilich auch, aber ich vertröstete sie und mich mit Angelikas festem, tüchtigem Grund. Aber als am andern Morgen eine junge Dame mir Besuch machte in der modernsten Frisur und im modernsten Anzug, mit sehr gutem Benehmen, dazu verblüffend weltgewandt plaudernd, da wurde mir auch ein wenig schwül zumute, aber nur kurze Zeit, denn sehr bald kam unter dem fremden Schein das liebe, alte Engele von einst hervor mit seiner warmen Anhänglichkeit und seiner ganzen sinnigen Art, die uns das äußerlich Veränderte schnell wieder vergessen ließ. Und wie mir, so ging's allen andern Bekannten. – Daß Angelika bei der Hochzeit den Mittelpunkt unter den jungen Mädchen bildete, ist natürlich, denn wie vieles wußte sie zu erzählen, und sie war stets umringt von Jungen und Alten. Deine stille Beobachtung, daß Willi Reinhardt in der Tiefe seines Herzens eine treue Liebe für Angelika hege, fand ich bestätigt, ich bildete mir nur früher ein, daß seine Liebe auch erwidert würde. Für letzteres hatte ich diesmal wenige Anhaltspunkte; Angelika war mit allen gleich freundlich. Wenn Willi noch mit einer Erklärung zurückhält, bis er eine sichere Stelle und ein gutes Einkommen hat, so ist das nur ehrenhaft. Aber wenn es einmal so weit käme, dann wäre unser geliebtes Engele bei dem tüchtigen, braven Jugendfreund am besten geborgen. – Was nun die kleine Hauptperson, Benedikt-Gottlob-Lobele anbetrifft, so ist er trotz der großen Triumphe, die er gefeiert, und des Wesens, das man mit ihm macht, entschieden noch unberührter davon geblieben als die Schwester. Die feine Sprache und Ausdrucksweise stehen ihm sehr gut und passen zu seiner innern Art. Das Reisen und die fremden Menschen scheinen für ihn gar keinen Reiz zu haben, und er hängt mit unbegrenzter Hingabe an seinem Heimatsort, und die Liebe zu seiner Mutter ist rührend. Glückselig war er, als der Herr Stadtpfarrer ihm vorschlug, er solle in der Kirche ein Konzert für die hiesigen Armen geben. Da hättest Du ihn sehen müssen, als er am Sonntag nach der Hochzeit oben auf der Empore stand, spielend, so schön und herzbewegend, daß alle den Atem anhielten, und daß wohl niemand in der bis auf den letzten Stuhl gefüllten Kirche ungerührt blieb. Ergreifend war, wie unser alter Herr Steiner, der nun fast gelähmt ist, sich in die Kirche tragen ließ und Mutter Nane mit Angelika an ihrem alten Platze bei der Begräbnisstätte derer von Hohenberg saß, von wo aus man gerade auf die Orgel sehen kann. Die Kinder blieben zehn Tage. Alles wäre recht gewesen, wenn nicht Gottlobs Aussehen uns Sorge machte. Er ist in dem vergangenen halben Jahr ganz gewaltig gewachsen, und infolgedessen noch schmaler und durchsichtiger geworden; auch klagte mir Nane, daß er oft lange nicht einschlafen könne und sich über jede Kleinigkeit aufrege. Janauscheks, mit denen ich darüber sprach, sagen, das sei die Reizbarkeit des Künstlers. Aber sie hielten es auch für nötig, daß das Kind sich wieder einmal gründlich ausruhe, und so sind alle gegenwärtig wieder zusammen in dem kleinen Ort in Thüringen, dessen Luft ihnen voriges Jahr so gut getan. Nane war auch sofort dafür, obgleich die Kinder dadurch viel kürzere Zeit hier bleiben. Sich um die Mittel zu sorgen, fällt ja jetzt weg, da die Einnahmen diesen Winter wirklich schön waren und Nane mir strahlend erzählte, sie hätten nun zweitausend Mark in der Sparkasse. Sie selbst rührt keinen Pfennig von diesem Gelde an und plagt sich nach wie vor, obgleich ihren armen Gichthänden das Handschuhwaschen nachgerade recht schwer fällt.

Was nun weiter werden soll, fragte mich neulich Herr Steiner. Darauf wußte ich auch keine Antwort. Frau Janauschek ist voll Zuversicht, daß die Einnahmen sich verdoppeln, und sie und ihr Mann sind wirklich ebenso auf der Kinder Gewinn als auf ihren eigenen aus. Sie beabsichtigen zu reisen, bis Gottlob kein Kind mehr ist, und dann, meinen sie, soll er zu irgend einem großen Meister nach Paris, um dort noch einmal gründlich zu lernen. Bei diesem Plan bringe ich freilich den Ausspruch der praktischen Frau Maier nicht aus dem Kopf, die sagte: »Da geht ja dann wieder das drauf, was der Bub sich erspart hat, und das Engele weiß bis dorthin nicht mal mehr, wie man ein Loch flickt und einen Pfannkuchen backt!« Ob sie im Grunde nicht recht hat? Aber so gar weit hinaus soll der Mensch nicht sorgen, und im übrigen ist bis jetzt nichts geschehen, was einen wirklich beunruhigen könnte, im Gegenteil. Auch Du wirst noch einen von Deinen mütterlich beratenden Briefen an unser Engele schreiben, und Nane soll bei uns allen treue Teilnahme haben. Mit innigen Grüßen von Mann und Kindern

Deine Ursula von Werder.

Bruchstück aus Angelikas Tagebuch.

Thüringen, August …

… Heute regnet es, und ich komme endlich dazu, meine Aufzeichnungen nachzuholen über die Zeit, in der wir daheim waren. Daheim! Ach, warum ist mir dieses Wort so gar nicht mehr das, was es mir früher gewesen, nach dem ersten Zurückkommen, damals, als Schwester Martha mich krank und elend von den Browns losmachte, die nur ein gesundes, lustiges Engele haben mochten. Wie fühlte ich mich da so glücklich bei den Meinen! Aber da lebte Vater noch, der mich so gut in allem verstand, und ich hatte oben auf dem Turm meine heimische Stube voll Luft und Sonne und mit dem unvergleichlichen Blick über Stadt und Land. Und nachher hatte ich meine Arbeit und mein Ziel in der Prüfung, und in meinem Innern war es noch ruhig und friedlich, selbst als Vater gestorben war und wir herunter mußten. Vieles bedrückte mich, aber ich hatte doch nicht den dummen Zwiespalt im Herzen wie jetzt.

Was ist jetzt eigentlich mein Ziel, was soll aus mir werden, wenn die Künstlerfahrten ein Ende haben? Ich denke mit Schrecken daran. Frau Janauschek sagt: die Gegenwart genießen und möglichst wenig an die Zukunft denken. Ja, das will ich, denn das Reisen, der Wechsel des Hotellebens mit den Tischlein deck dich ohne Haushaltungssorgen ist doch eigentlich herrlich. Und all die Menschen, die einem nur Freundliches sagen, das Entgegenkommen von allen Seiten, das Glänzende, Berauschende, Schöne in unserem Leben, – ich sehe nicht ein, warum ich mich nicht daran freuen soll. Und wir arbeiten ja doch auch, und das redlich. Das habe ich Willi geantwortet, der scheint's meint, wir schwimmen immer nur so im hellen Vergnügen, und der, glaube ich, denkt, eine Frau könne nur was Richtiges sein, wenn sie kocht und näht und im Haushalt sich beschäftigt. »Du weißt wohl, Engele, daß ich's nicht so meine, und daß sich vielleicht niemand so über eure Erfolge freut, wie ich,« erwiderte er mir, und sah wieder recht ernst dabei aus. Dann sprach er noch von Draußensein und doch daheim Wurzeln, von Pflichterfüllen im großen und im kleinen, von Behalten des inneren Gleichgewichts. Er sprach ein bißchen wie ein Pfarrer, der gute Willi, und ich wollte mich eigentlich über ihn ärgern. Aber mit dem Wort Gleichgewicht hat er doch, glaube ich, recht, er und Schwester Martha, die Aehnliches sagt. Das Gleichgewicht habe ich nicht! Das ist's, warum es mir zu Hause nicht mehr gefällt. Mein gutes Lobele ist darin viel glücklicher. Der sagt: »Hier ist's so, und daheim ist's so!« und wo er ist, ist er zufrieden, obgleich er manchmal, wenn man ihm gar keine Ruhe läßt, sagen kann: »Ich wollte, es gäbe gar keine Eisenbahnen und keine Menschen, die Musik haben wollen, und niemanden, der sagt: Du mußt geigen!« – Hier ist's wieder wunderschön, die Wälder, die Spaziergänge, das Ausruhen! Gottlob tut gar nichts als den ganzen Tag im Moos liegen und faulenzen. Ich hoffte hier endlich mit ihm lernen zu können, aber er mag wieder nicht und sagt so oft, er sei müde, daß der Herr Direktor mir verbietet, ihn zu plagen, wie er sich ausdrückt. Aber mit Einüben von neuen Stücken für die neue Konzertreise plagt er ihn selber doch manche Stunde im Tage, und Gottlob muß wirklich manchmal recht ruhebedürftig sein, denn es ist etwas ganz Neues, daß er auch dem Herrn Direktor hier und da widerspricht: »O bitte morgen, – nur heute nicht!« …

Fortsetzung von Angelikas Tagebuch.

Wien, November 19..

… Nun haben wir auch hier konzertiert, und es war einfach großartig. Frau Janauschek hat recht gehabt, wenn sie oft sagte: »Wart' nur, Herzerl, auf die Oesterreicher, die sind musikalischer als alle andern Menschen zusammen!« Wie liebenswürdig ist man mit uns! Jedermann sagt uns Nettes und lobt und ist begeistert. Gottlob sagt, das Lob hier sei ihm nicht so viel wert wie das in Deutschland, und er mag recht haben. Aber das Leben hier ist entzückend. Frau Janauschek hat massenhaft Freunde und Verehrer hier. Täglich sind wir eingeladen und gehen ins Theater und nachher noch in Gesellschaften. Es ist alles so lustig, und ich bin's auch. Ich fürchte, ein bißchen viel Geld brauchen wir hier. Es gibt so wunderschöne Läden, und Frau Janauschek möchte, daß ich auch ein bisserl schick aussehe. So kauften wir ein Kleid mit Spitzen für den Abend, ein Gesellschaftskleid, weißen Krepp mit Veilchen, das wirklich reizend ist, und ein dunkles Schneiderkleid für die Straße nebst Rembrandthut. Ich würde mich furchtbar über alles freuen, wenn nicht Frau Janauschek gesagt hätte: »Diesmal brauchst du gar nicht zu wissen, was es kostet, ich zieh's halt ab an der Einnahme!« Da aber der Aufenthalt in Thüringen wieder viel Geld verschlang und die Einnahmen in den böhmischen Bädern nicht so ganz befriedigend waren, da gerade vor uns ein junger spanischer Geiger auftrat, der etwas ganz Hervorragendes sein soll, und da unser Leben hier sehr viel Geld verschlingt, so fürchte ich, daß die Mutter in diesem Halbjahr wenig auf die Sparkasse wird tragen können …

Wien, einige Tage später.

»Sei doch vergnügt und nicht alleweil so nachdenklich und griesgrämig! 's gibt nur aa Kaiserstadt, 's gibt nur aa Wean!« sagte mir Frau Janauschek, und sie hat recht. Sie war kürzlich bei ihren Verwandten in der Nähe von hier und hat Eltern und Geschwister besucht und ihnen Geschenke gebracht. Sie scheinen sehr arm zu sein. Frau Direktor weinte, als sie zurückkam. Aber dann beneidete ich sie um ihre Sorglosigkeit, wie sie sich, die Tränen trocknend, sagte: »Aus und vorbei ist's, daß man da helfen könnt'! 's ist allemal nur grad' wie in ein Loch, was man da gibt, und das Grämen darüber nützt nichts. Alles geht halt, wie's will, und drum laß ich mir meinen guten Humor nicht nehmen und bin wieder fidel. Das Leben ist ja so kurz!« Ich habe Frau Janauschek furchtbar lieb, denn sie ist seelengut und sagt, sie liebe uns wie eigene Kinder. Nur manchmal da möchte ich jemand haben, dem ich auch von meinem Denken und meinem Innern sprechen könnte und von dem, was Recht und Pflicht ist, wie mit Schwester Martha oder Gertrud oder auch mit Willi, wenn er nicht gleich so fürchterlich ernst wird. Und Lobele muß das auch empfinden, denn neulich, als er einen Tag wegen Erkältung zu Bett lag, da sagte er plötzlich zu mir: »Warum denkt man eigentlich an Gott nie auf der Reise, sondern nur zu Hause?« Das hat mich bedenklich gemacht, und ich will auch wieder ganz gewiß anfangen, des Morgens und Abends mit ihm etwas zu lesen, aber gestern und heute kamen wir schon nicht dazu, weil wir zu lange schliefen und abends in Gesellschaft waren.

Ich werde sehr gefeiert, und ich glaube, man findet mich hübsch. Das Kleid mit den Veilchen ist aber auch reizend. Ein ungarischer Graf führte mich sogar zu Tisch, und heute schickte er mir einen prachtvollen Korb mit Blumen, lauter Veilchen, weiße, blaue und rote. Ich habe nie etwas so Schönes gesehen. Und auf einer weißen Atlasschleife standen die Worte: »Der bezaubernden Künstlerin!« Ich wäre ganz glückselig über diese Gabe, wenn meine Freude nicht einen großen Dämpfer bekommen hätte. Heute früh erhielt Frau Janauschek Besuch von einem großen Musikprofessor, den sie schon lange kennt. Ich war im Nebenzimmer noch nicht ganz fertig mit meinem Anzug und konnte nicht heraus, als er kam. Nur ein Vorhang trennt die beiden Zimmer, und so verstand ich, was sie sprachen. Anfangs interessierte ich mich nicht dafür, dann aber hörte ich meinen Namen, und der Herr bewunderte scheint's meinen Korb, der auf dem Tisch im Salon stand. Er mag die Widmung gelesen haben, denn er sagte mit etwas spöttischem Ton:

»Reizend, ja, – Künstlerin aber durchaus keine!«

Dann hörte ich, wie er und Frau Janauschek über mich stritten, und wie der Professor erklärte, ich sei ja immerhin ein süßes, kleines Mädel, aber das genüge leider nicht. Mein Spiel sei braves Hausbrot, das gebe man aber nicht zu schäumendem Champagner.

»Das Mädel soll heiraten oder Klavierunterricht geben, aber für den Buben schaut, daß ihr jemand andern kriegt!«

Und nun schlug er gleich etliche seiner Schülerinnen vor, die Mietzi, die Sofie, die Franzi, die Pepi. Mir wurde ganz schwindlig zumute, und ich mußte mich setzen. Also ungenügend, unbrauchbar, ein Hemmnis für Gottlob bin ich! Und wenn es so ist, was soll denn dann werden? Frau Janauschek, die mich in Tränen aufgelöst fand, war außer sich, daß ich das Gespräch mit angehört hatte.

»Der dumme, übertriebene Musikfex, der mit seinem herunterfetzenden, kritisierenden Getue! Nichts will er mit all dem Gerede als eine von seinen Klaviermädeln anbringen, und deshalb macht er dich schlecht. So viel als der, versteht mein Mann und ich akkurat auch noch, und es tät' grad' fehlen, daß du mir durch dieses öde Geplausch eine Unsicherheit und verschwollene Augen kriegtest!«

Frau Janauschek beruhigte mich nach und nach, und ich konnte am Abend spielen wie sonst, aber der Vergleich mit dem Hausbrot blieb mir, und ich wurde zum erstenmal heftig gegen Lobele, der, ohne was zu ahnen, gerade heute mich nervös und gereizt zu einem rascheren Tempo veranlassen wollte. Er hat hier Zigeuner spielen hören und möchte es ihnen nun gleich tun, aber es macht ihn nur zapplig und geht auf Kosten der Pünktlichkeit.

Prag, November 19..

Die letzten Tage in Wien war ich aufgeregt wie vielleicht noch nie, aber jetzt ist's wieder vorbei, und ich atme ordentlich auf. Ich habe einen Heiratsantrag bekommen, den ersten in meinem Leben, und zwar von dem ungarischen Herrn, von dem ich die Veilchen erhalten, und den ich darauf jeden Tag wieder in Gesellschaft getroffen. Er ist ein wirklicher Graf, besitzt ein Gut irgendwo in der Pußta, hat sich aber ganz der Musik geweiht. Mit den Seinigen muß er nicht ganz gut stehen, wie er Frau Janauschek gesagt, und deshalb könne er heiraten, wen er wolle, auch eine Bürgerliche. Er ist sehr hübsch und gefällt mir sehr, und Frau Janauschek, die aufs innigste teilnahm, meinte, ich solle mir's wohl überlegen, so etwas komme nicht leicht zum zweitenmal. Das sagte ich mir auch den ganzen langen Tag über, wo ich Zeit hatte, es mir zu überlegen. Aber je mehr ich zu Ja neigte, desto schwerer wurde mein Herz. Ich konnte zu dem ganz fremden Mann mit den blitzenden, schwarzen Augen und der einschmeichelnden Art, die so ganz anders als die deutsche ist, kein Vertrauen fassen, wenigstens nicht solch ein Vertrauen, daß ich seinetwegen die Heimat und alle Lieben verlassen und in ein fremdes Land gehen möchte. Und dann diese Verwandten, die keine Freude an mir haben würden, dieses Ungleiche in jeder Weise! Ich quälte mich ab und wußte wirklich nicht, was ich tun sollte.

Da war es mein geliebtes Lobele, das mir aus allem, ohne was zu ahnen, herausgeholfen hat. Er mochte von Anfang an den Ungarn nicht leiden. Als ich mich abends noch – mein Herz war so voll und schwer – ein bißchen an sein Bett setzte und ihn fragte:

»Warum bist du eigentlich mit Graf G. so wenig nett und freundlich?« da sagte er: »Weil er wie eine Katze mit einem ist, und das mag ich nicht!«

Nun wußte ich gleich, was auch mich an ihm abstieß, und es fiel mir ein Ausspruch von Willi ein: »Ein echter Mensch muß auch widersprechen können, selbst wo er liebt!« Der Graf hat in der ganzen Zeit, in der er mich kennt, mir nur beigestimmt und Schönes gesagt, obgleich wir in allem verschieden sind. Und als ich in Gedanken Willi, den einfachen, nicht gerade vornehmen, oft unbequemen, aber so durch und durch echten und wahren Menschen neben ihn stellte, da mußte ich fast lachen, wie klein der andere wurde. Ich bat daher Frau Janauschek, dem Grafen zu sagen, daß ich nie heiraten werde – ich wüßte auch wirklich nicht, wen. Aber recht war mir's, daß wir am nächsten Tage von Wien fortreisten. Ein ganz klein bißchen hat mir der Arme doch leid getan, und ich habe mir von den Veilchen einen kleinen Strauß getrocknet und aufgehoben.


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