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Achtes Kapitel.

Wie ein fürstliches Kabinettsschreiben in ein Nudellädlein gelangen kann. – Nane erhält einen Geldbrief und das alte Wachschristkind ein neues Gewand. – Von einem eingesperrten Gänslein, einem Buben, der nicht lernen will, und drei Menschenkindern, die sich Weihnachten anders gedacht hatten. – Ein heiliger Abend in der Fremde und daheim, und wie trotz allem die Sterne glitzern.


Die Gurken und die Nudeln kamen wirklich an ihre Adresse, und Frau Maier erhielt ein Danksagungsschreiben, nicht gerade vom Fürstenpaar selber, aber aus dem fürstlichen Kabinett. Von da an prangte dieses Schriftstück eingerahmt in ihrer guten Stube zwischen dem Militärabschied ihres seligen Mannes und der kleinen Leichenrede, die am Grabe ihres einzigen, nur ein halbes Jahr alt gewordenen Kindes gehalten worden war.

Nane hatte in den folgenden Tagen nochmals Ursache, den Freunden von ihrem Glück zu erzählen, denn der Geldbriefträger brachte ihr eingeschrieben in einem großen gelben Briefumschlag bare zweihundert Mark.

»Einhundert sind die vom Fürstenpaar geschenkten, und die andern hundert sind vom Konzert nach Abzug der Kosten,« schrieb Frau Janauschek.

Das Geld gehörte natürlich den Kindern, und Nane trug es noch an demselben Morgen auf die Sparkasse. Welch gutes Gefühl, wieder etwas dort stehen zu haben! Die sonst etwas gebückte Frau ging ordentlich erhobenen Hauptes nach Hause, und leichter als vorher ertrug sie jetzt wieder ihr Alleinsein. Es war doch nicht umsonst, daß die Kinder und sie sich getrennt hatten.

Ein großes Opfer brachte auch Herr Janauschek, der wochenlang ohne Frau war, bis er allemal wieder für kurze Zeit sich gestatten konnte, zu den Reisenden zu stoßen, neue Verhaltungsmaßregeln zu geben und in Gottlobs Studium nach dem Rechten zu sehen. Wäre Frau Janauschek nicht früher schon Konzerte veranstaltend herumgereist, und wäre sie nicht an allen Orten bekannt gewesen und mit Freuden wieder begrüßt worden, so hätte die Sache weit mehr Schwierigkeiten gehabt. So aber ging es planmäßig in der nächsten Zeit von Stadt zu Stadt, und zwar vorerst noch in Deutschland. Ueber Weihnachten, so war es ausgemacht, sollten die Reisenden nach Hause kommen, und Nane ertappte sich darüber, daß sie die lose hängenden Blättchen am Abreißkalender ein paarmal zählte, und in ihrem Kopf arbeiteten die kühnsten Gedanken, wie sie heuer die Kinder erfreuen, und was sie ihnen alles zugute tun wollte. Der Baum sollte strahlen wie nie zuvor. Unten an der Ecke, wo einstens der Turmpeter auf dem Christmarkt seine selbstverfertigten Tierchen und Schächtelein und Burgen verkauft hatte, erhandelte sie nun um eine ganze Mark schöne, strahlende Glaskugeln und Lamettafäden. Dann kaufte sie noch Goldschaum und Nüsse sowie glitzerndes Papier zu Ketten. Bis spät in die Nacht hinein mühten ihre in solchen Arbeiten ungefügen Finger sich ab, etwas recht Schönes zustande zu bringen. Sogar das alte Christkindlein mit dem gelben Wachsgesicht, das immer oben am Baume gehangen, bekam ein neues Gewand aus einem Rest vom Staatskleid der Frau Stadtpfarrer gemacht. Es paßte zwar nicht so ganz für das himmlische Kind, aber es sah doch wieder sauber aus. Frau Maier bewunderte alles aufrichtig und lud zum heiligen Abend im voraus zu sich ein, was aber Nane dankbar, doch bestimmt abschlug:

»Diesmal kommen Sie zu uns hinauf, 's ist das erste Mal nach meines Mannes Tod, daß wir den Weihnachtsabend wieder einmal, will's Gott, so recht froh zusammen feiern werden!«

Nane bewegte, wie gesagt, die weitgehendsten, üppigsten Pläne in ihrem Innern und hatte sogar ein Geheimnis, das sie ängstlich selbst vor Frau Maier verbarg. Angelikas liebstes Leibessen war Gansbraten. In früheren Zeiten hatte Nane durch eine Schwester etlichemal ein Gänslein bezogen, das, der Federn, der Leber und des Fettes vorher beraubt, entsprechend billig kam. Doch die Schwester war gestorben, und nie mehr hatte man an ähnliche Üppigkeit gedacht. Nun aber wurde seit Wochen draußen im Dunkel der Küche in einem kleinen Verschlag ein solch kostbarer Vogel – nicht gestopft, das hätte Frau Nane nie getan –, aber mit der weitgehendsten Sorgfalt gepflegt und gefüttert, und am heiligen Abend sollten die Kinder und Frau Maier mit dem köstlichen Braten überrascht werden.

Aber auch in der Ferne war jemand, der, ohne all dieses Außergewöhnliche zu ahnen, jeden Tag in seinem kleinen Taschenkalender ausstrich, der noch Weihnachten von heute trennte, und der jeden Abend fragte: »Wie oft müssen wir noch spielen, Engele, bis wir heim dürfen?«

Es war Gottlob, dem »die Reiserei«, wie er sagte, anfing langweilig zu werden.

»Bist ein dummes, ganz dummes Büberl,« sagte Frau Janauschek, wenn Gottlob all die fremden Orte und Menschen gleichgültig ließen. »Schau dir doch an, wie schön's da draußen in der Welt ist, und freue dich auch ein bisserl, daß die Leute alle so närrisch mit dir sind!«

Aber Gottlob meinte, so schön wie St. sei doch keine andere Stadt, und die Menschen auswärts kenne er ja gar nicht, und er möchte gern einmal wieder in seinem eigenen Bett schlafen.

»Weißt, Engele, ich weiß ja jetzt bald nimmer, wie mein Mutterle aussieht, und auf unsern Turm muß ich doch auch wieder einmal!«

Diese Sehnsucht des Kindes äußerte sich auch darin, daß überall, wo die Reisenden an einem Ort ein bißchen länger weilten, er flehentlich bat, mit ihm auf den jeweiligen Kirchturm zu steigen, was zuweilen wirklich recht unbequem war. Aber da konnte Gottlob bei einem Widerspruch recht heftig werden. »Man muß doch auch manchmal von oben herunter sehen, und nicht allemal nur hinauf,« eiferte er, und jedesmal nahm er seine Geige mit, ob er droben zum Spielen kam oder nicht. »Ich will eben, daß sie dabei ist!«

Dieses »Ich will« hörte man jetzt viel öfter aus Gottlobs Munde als früher. Das war bis jetzt die einzige eigentliche Veränderung, die man an ihm wahrnahm. Ein gewisser Eigensinn und eine aufbrausende Erregung, wenn man nicht tat, was er wollte, traten bei ihm hervor. Man tat alles, um das letztere zu vermeiden, und außerdem war jedermann, wo die Künstlergesellschaft hinkam, hingerissen von des Knaben gutherziger und liebenswürdiger Art.

Der einzige Mensch, der wirkliche Kämpfe mit Gottlob zu bestehen hatte, war Angelika. Mit den Lernstunden, die die Schule ersetzen sollten, hatte es seine großen Schwierigkeiten, und es zeigte sich auch hier wieder, daß bei allem, was nicht regelmäßig geschieht, keine Freudigkeit und kein Erfolg ist. Ein regelmäßiges Lernen war einfach nicht möglich. In den Morgenstunden mußte Musik geübt werden, oder es fanden Proben statt, und des Nachmittags war man eingeladen, oder man besah sich ein bißchen die Stadt, und vor der Aufführung durfte der Bub nicht ermüdet werden. So blieben nur da und dort erhaschte Stunden, oft auf der Fahrt von einem Ort zum andern oder zwischen zwei Einladungen oder ganz in der Frühe, wenn Gottlob noch im Bett lag. Freilich sollte er eigentlich ausschlafen, denn der kleine Kerl kam ja selten vor elf oder halb zwölf zu Bett, und zu jeder Zeit, wo Angelika es versuchte und in redlichstem Wollen mit Büchern und Heften kam, war es ungeschickt. Beim Fahren hieß es: »O Engele, nicht lernen! Laß mich doch zum Fenster hinaussehen, ich bekomm' sonst Kopfweh!« Oder: »Ich will doch noch schlafen! Ich mag nicht schon die Augen aufmachen! Ich kann zwischen all das andere hinein ganz gewiß nicht rechnen – ich bring's nicht zusammen! Du glaubst mir's nicht, Engele, aber ich kann wirklich nicht behalten, was in den Büchern steht!«

Angelika war oft ganz verzweifelt, denn sie selber hatte stets gewissenhaft gelernt. Gottlobs Lehrer hatte ihr alles aufgeschrieben und einen Plan gemacht, wie der Bub mit seinen Altersgenossen weiterkommen könne, und dann klang ihr auch beständig Herrn Steiners Ermahnung in den Ohren: »Vor allem Schulbildung, dann erst das andere!«

»Laß doch das Buberl in Ruh! Alles kann der Mensch nicht erzwingen,« beschwichtigte Frau Janauschek, und das letztere war richtig. Aber Angelika machte doch immer wieder Versuche. Der Herr Stadtpfarrer und die Mutter mahnten beständig dazu, und so mußte eben versucht werden, was möglich war. –

Der dreiundzwanzigste Dezember war da, und diese Nacht sollte es heimwärts gehen.

Angelika und Gottlob hatten miteinander in der Nähe des Hotels, in dem sie wohnten, Geschenke eingekauft, und nun saßen sie in der Dämmerung beisammen und sahen, ob auch alles stimmte.

»Also für Mutter den schwarzen Wollstoff zu einem Sonntagskleid, und von dir die weiße Spitzenbarbe dazu!« sagte Engele und strich befriedigt über das weiße Gewebe.

»Frau Maier erhält die schwarzseidene Schürze, die Hälfte von dir und die Hälfte von mir,« fuhr Engele fort. »Das Bild mit der Sixtinischen Madonna und den zwei Engeln, das wir in Dresden gesehen, bekommt Gertrud. Für Willi hab' ich ein Buch gekauft, das er sich schon lange wünschte, und für Herrn und Frau Direktor hat Frau von Werder eine hübsche Schlummerrolle besorgt.«

»Und diese Büste von Beethoven kriegt mein Herr Steiner, und hier ist ein Notizbuch für Werner und ein Perlmuttermesserchen für Wanda. Alle, alle sollen was kriegen,« jubelte Gottlob und hüpfte von einem Bein aufs andere, was er eigentlich nicht tun sollte, denn das linke war immer noch zu schonen.

»Sei gescheit, Gottlob, und mach keine dummen Sachen,« mahnte Angelika lachend. Hätte sie aber nicht die Gegenstände zusammenpacken müssen, so wäre sie am liebsten selber mit dem Buben herumgetanzt, so sehr freute auch sie sich nach Hause.

Es sollte besonders nett werden. Diesmal brauchte nicht gesorgt und ängstlich gespart zu werden. In einer Brieftasche, die Angelika um den Hals trug, waren wieder ein paar schöne blaue Scheine, welche sie Mutter einhändigen konnte, und von denen diese noch nichts wußte.

Wie viel hatten sie seither erlebt, und was gab's alles zu erzählen! Gertrud und ihre Eltern waren solch dankbares Publikum, und dann – wie hübsch, daß auch Willi gerade in Ferien wieder daheim war!

Angelika wickelte eben das für ihn bestimmte Buch in ein schönes, rosa Seidenpapier, als Frau Janauschek mit einer Depesche in der Hand eintrat und, nachdem sie sie gelesen, sich ganz aufgeregt in einen Stuhl fallen ließ.

»Na, Kinder, da hört doch alles auf!« sagte sie und schaute bestürzt von einem zum andern.

»Ist doch um Gotteswillen kein Unglück geschehen?« rief Angelika, und beide Geschwister drängten sich herzu.

»Ein Unglück nicht, aber etwas, was uns um unser ganzes Christkindlvergnügen bringen wird. Da, lest es selber!«

Drei Köpfe beugten sich in Aufregung über das Blatt Papier, das Frau Janauschek noch in der Hand hielt. Es war von einem Musikleiter in Berlin und enthielt Folgendes:

»Besonderer Umstände halber muß Ihr auf Mitte Januar hier geplantes Konzert vorgeschoben werden. Einzige Möglichkeit am dritten Weihnachtsfeiertag. Habe sofort alles eingeleitet und erwarte Sie baldmöglichst hier.«

Die drei Köpfe gingen langsam wieder auseinander, und eines sah wie hilfesuchend das andere an.

»Ja, Kinderle, das schaut verflixt dumm aus. Wegen ein paar Tagen heimreisen, geht jetzt natürlich nicht, und ich fürchte, wir müssen gleich heute noch statt nach Süden, nach Norden zu fahren,« sagte Frau Janauschek. »Das erste wird sein, daß ich meinem Mann telegraphiere, denn in Berlin muß er bei uns sein. Du, Angelika, studierst mir inzwischen ein bisserl das Kursbuch, und das Buberl räumt zusammen, was ihm gehört. Viel Zeit zum Nachtzug wird wohl nicht bleiben!«

Frau Janauschek eilte hinaus. In ihrer leichtlebigen Art hatte sie sich schnell in das veränderte Programm gefunden. Aber hinter ihr brach ein großer Jammer aus.

»Engele, sag, ob das heißt, daß wir nicht heimfahren?« fragte Gottlob ganz verstört. Und als diese traurig sagte: »Ich fürchte, daß es so ist!« da brach der Bub in ein Weinen aus, das sich in den nächsten Stunden kaum stillen lassen wollte. Selbst beim Eisenbahnfahren – der Zug war in der Frühe um ein Uhr gegangen, und Gottlob sowie die andern waren vorher zu keinem Augenblick Ruhe mehr gekommen – ließ er sich durch gar nichts zerstreuen und ablenken, sondern schluchzte immer wieder von neuem: »Ich komm' jetzt eben nicht zu meinem Mutterle, und es ist doch kein Weihnachten, wenn man nicht beinander ist! Und Mutterle hat sich so gefreut, und jetzt ist sie ganz allein, und ich habe mich auch so gefreut!«

Frau Janauschek wußte sich gar nicht mehr zu helfen mit dem Buben und Angelika auch nicht, denn wenn sie glaubten, ihn ein wenig getröstet zu haben, so ging der Jammer wieder von neuem los: »Ich hab' mich eben so sehr gefreut!«

»So war er noch nie,« sagte Angelika. Obgleich ihr selber das Herz schwer war, unterstützte sie doch Frau Janauschek, die Gottlob die schönsten Sachen für morgen abend in Berlin versprach, auch alles das, um was der Bub klagte, natürlich mit Ausnahme des Mutterles.

»Ist ganz gewiß eine Kirche dort, wo die Lichter durch die bunten Scheiben so schön scheinen, und wo man nach der Bescherung hinübergeht? Und läutet das Silberglöcklein auch Nachts um zwölf Uhr vom Turm? Und bekomm' ich auch ganz gewiß meinen eigenen Baum mit dem Christkindlein oben und Lebkuchen und Springerle daran?«

»Ja, ja, freilich, freilich!« wurde nur immer gesagt, um das Kind zu beruhigen, aber erst kurz, ehe man in Berlin einfuhr, war es gelungen, und nun gab es keine Zeit mehr zum Schlafen.

Wie überall, wo man ankam, wurden die Reisenden von Kunstgenossen und Freunden an der Bahn empfangen und ins Hotel geleitet. Und dann kam der ganze Trubel von Geschäftlichem, der heute noch viel größer als sonst war, weil jedermann strebte, bald fertig zu sein und nach Hause zu kommen. Da die Festtage folgten, mußte sofort geprobt werden; es reichte kaum zu einem ruhigen Mittagbrot. Im Laufe des Nachmittags kam dann Herr Janauschek an, und alle wurden von einem Musikfreunde, einem reichen Herrn Kommerzienrat, für den Abend zu der Bescherung in seinem Hause eingeladen.

Gottlobs Jammer war von neuem losgebrochen, als der Herr Direktor ihm eine Schachtel mit den in der Eile zusammengepackten Geschenken der Mutter übergab. Da der Bub wirklich ganz haltlos war und es doch gerade am hiesigen Orte galt, daß alles tadellos verlief, so mußte Herr Janauschek zum ersten Mal Strenge anwenden und sehr energisch mit Gottlob sprechen. Angelika fürchtete, daß es nun gar nicht gehen werde, denn sie sah, wie der Knabe unter den ungewohnten Worten zusammenzuckte. Sein Gesichtchen wurde blaß und so ernst, wie sie ihn nie gesehen. Dann faßte er sich gewaltsam. Schande wollte er keinem machen, nicht dem Herrn Direktor, nicht Angelika, nicht vor allem der Mutter. Und er hielt sich wacker, obgleich der heilige Abend nicht nur die Sehnsucht nach daheim in sich barg, sondern auch gar nichts von all dem brachte, was Gottlob verheißen worden war. Kein Baum, nicht einmal einen kleinen für sich selbst! Wo hätte man die Zeit dazu hernehmen sollen? Keine Nähe einer Kirche, geschweige denn ein Besuch in derselben. Bei Kommerzienrats war große Gesellschaft, genau so, wie sonst auch bei all den reichen Leuten, die einladen, nur mit dem Unterschied, daß eine riesige Tanne mit elektrischen Flämmchen brannte, deren Grün man kaum sah vor lauter goldenem und buntem Zeug, und daß Gottlob eine große Schachtel voll Marzipan bekam, das wunderschön aussah, das er aber nicht essen durfte, weil ihm derartiges nicht gut bekam.

Zum Glück nicht gar zu spät, denn alle waren sehr müde, wurde ins Hotel und zu Bett gegangen. Frau Janauscheks Baum und Geschenke sollte das »Buberl« morgen bekommen. Angelika hatte ihren Lobele noch eingebettet, und sie hätte gern ein Weihnachtslied dabei gesungen, für ihn und für ihr eigenes Herz, aber Frau Janauschek, mit der sie schlief, rief nach ihr, weil sie meinte, es sei besser, den Benedikterl nicht mehr aufzuregen. Dieser aber tat nur so, als ob er ruhig schliefe. Trotz seiner großen Müdigkeit lauschte er in die helle Nacht, ob denn nirgends ein Silberglöcklein oder ein Choral von einem Turm ertönen würde. Erst als er endlich vor lauter Horchen und Enttäuschung einschlief, da war's ihm, als hörte er von irgendwoher das Lied: »Stille Nacht, heilige Nacht,« aber es war nicht langsam und feierlich, sondern im Tempo seiner ungarischen Tänze. Und er geigte es nach, immer schneller und schneller, bis er nicht mehr konnte und die Mutter ihm die Geige aus der Hand nahm und sagte: »Jetzt ist's genug, Lobele, jetzt sei ruhig!« –

Daheim in St. klangen wie sonst am heiligen Abend Glockengeläute und Posaunentöne über die Dächer der alten Stadt hin, und eine schmerzlich enttäuschte Mutter saß allein neben dem geschmückten Bäumlein, dessen Lichter unangezündet blieben.

Das war ein jähes Ende der Freuden gewesen, als gestern abend spät der Herr Direktor durch die Magd sagen ließ, wie es stehe, und daß Frau Lindenmaier ihm, so sie recht rasch packen würde, etwas für die Kinder mitgeben könne.

»Recht rasch!« Ach, das war leichter gesagt als getan, denn Nane hatte alle Gedanken verloren, und in die Schachtel, die sie in größter Eile nun füllte, tropfte manche Träne. Wie schön aufgebaut war schon der Tisch gewesen! Nun war er geleert, die Gaben fuhren in alle Welt hinaus, und nicht sie, die Mutter, sondern fremde Leute würden die Freude der beiden mit ansehen über das, was sie so mit Liebe zusammengetragen.

Am andern Morgen erfuhren die Freunde von der großen Enttäuschung, und Gertrud lief vom Brezelbacken weg hinüber, um das Nähere zu hören und mit zu jammern, und sie und Frau Maier drangen in Nane, doch den Abend nicht allein zuzubringen, das wäre ja schrecklich. Aber diese hatte sich nun ein bißchen gefaßt, und da sie ihr Lebtag gewöhnt war, das Ungerade mit sich und ihrem Herrgott allein ins Reine zu bringen, so dankte sie aufs entschiedenste. Auch Willi, der außer sich über die verhunzte Freude, wie er sagte, war und in der Dämmerung noch einmal einen Sturm versuchte und Nane ohne weiteres mitnehmen wollte, mußte erfolglos wieder abziehen.

»Ihr müßt mir's nicht übel nehmen, aber ich bin ein bissel betrübt, und das gehört nicht unter andere!« sagte sie.

»Glaubst du vielleicht, wir seien nicht auch betrübt?« erwiderte Willi voll Aerger. »Nicht nur betrübt, sondern wütend bin ich, daß es so ging, und daß, während ich erwartungsvoll hier sitze und mich freue, die zwei nun in Berlin sind und ich auch dort nichts von ihnen habe. Ich möchte am liebsten auf und davon und den ganzen Urlaub schwimmen lassen!«

Nane hatte den stillen, gelassenen Willi noch nie so außer Rand und Band gesehen, aber sie wußte ihm auch nichts anderes zu sagen als: »Jetzt ist's halt einmal so, und auf und davon kannst du nicht, dazu ist die Reise zu teuer und die Freude der Deinigen, daß du da bist, zu groß!«

Als Willi verstimmt fortgegangen war, kam Frau Maier ebenso verstimmt herauf und sagte in schlechtester Laune: »Ich geh' gleich wieder, Sie dürfen keine Angst haben. Aber wenn der Mensch keine Freude haben soll, so darf er doch wenigstens ein bißchen schimpfen.«

Nane schüttelte den Kopf, sagte aber dann sehr freundlich, der Hausfrau den Stuhl hinschiebend: »Bleiben Sie doch, so ist's ja nicht gemeint, nur unter viele Menschen passe ich heute nicht!«

»Fällt mir nicht ein, daß ich zu Ihnen sitze! Es wäre ja lächerlich, zwei alte Leute wie wir und das glitzrige Zeug an dem Baume da ansehen.« (Frau Maier hatte das glitzrige Zeug all die Tage her aus tiefster Seele bewundert!) »Hab' nur noch sagen wollen, daß dieses Berlin wirklich ein modernes Babel zu sein scheint, wie ich neulich in der Zeitung gelesen. Hätten jetzt die da drinnen nicht eigene Musikanten und Leute nehmen können, die ihnen was aufspielen, statt daß sie fremde Menschen um ihren Christtag bringen? Statt daß man sich vergnügt gegenseitig beschert, wird man ganz wild und bös in seinem Innern und –«

»Frau Maier, 's ist heiliger Abend!« mahnte Nane und bot nochmals den Stuhl an. Aber die Hausgenossin war zu ingrimmig gegen das Schicksal, als daß sie sich hätte beruhigen lassen.

»Ich setz' mich nicht, ich hab's schon einmal gesagt, und geh jetzt noch in meinen Laden, und dann um acht liege ich ins Bett. Gute Nacht!«

Frau Maier war schon unter der Tür, um fortzugehen, als sie sich nochmals umdrehte: »Ich tät mich an Ihrer Stelle auch gleich legen. Was wollen Sie noch lange denken? Und morgen mittag kommen Sie zu mir, – ich will dann nimmer so ärgerlich sein wie heute abend!«

Nane nickte freundlich bejahend und leuchtete dann mit der Lampe die Treppe hinab, bis der gewichtige Besuch, unter dessen Tritt jede Stufe krachte, glücklich unten angekommen war.

Noch einmal kamen Gäste. Es waren Kinderfüße, die die Treppe herauf trippelten und stolperten, und wispernde Kinderstimmen, die vor der Türe hörbar wurden. Auch im Schloß drüben hatten sie mit großer Teilnahme von dem geänderten Plane erfahren, und es waren Wanda und Werner, die Frau von Werder noch mit einem Korb voll Orangen, einem Primelstock und einem schönen, bunten Wandspruch herüberschickte.

»Du sollst nicht so traurig sein, läßt die Mama sagen!«

Nane kamen beim Anblick der Kinder wieder von neuem die Tränen, aber doch tat ihr der Besuch sehr wohl. Sie konnte den freundlichen Boten auch etwas geben – Schnitzbrot und Krapfen, die sie gestern gebacken, und die in der Schachtel keinen Platz mehr gefunden. Und dann geleitete sie die beiden zurück bis an den Schloßeingang und wünschte ihnen noch viel Vergnügen und alles Schöne.

»Das ist zu dumm! Jetzt kann ich Gottlob meine Burg nicht zeigen,« sagte Werner, und Wanda erzählte von einem Spielwerk, das sie bekommen, und das sie nur halb freue, wenn Lobele es nicht höre.

Der kurze Gang über den Platz erfrischte Nanes trauriges Gemüt. Wie glitzerten die Sterne! Man glaubte bis tief in den Himmel hineinsehen zu können. Und plötzlich überkam die einsame Frau trotz allem ein weihnachtliches Empfinden. Mit ihrer gewohnten Energie, die sie heute ganz verlassen hatte, eilte sie wieder in ihre Wohnung, und nach einer Viertelstunde war sie mit dem Baume, dessen Anblick ihr so weh getan, und mit dem Rest der Krapfen und einigen von den herrlichen Orangen auf dem Wege zu den armen Schustersleuten um die Ecke, wo der Vater schon lange krank lag. Und auf dem Rückweg schob sie das schöne, vor Fett und Weiße glänzende Gänslein, dessen Anblick ihr heute auch so viel Herzeleid verursacht, ungesehen in die Küche des Stadtpfarrhauses mit einem Zettel dabei: »Aus inniger Dankbarkeit einen Festbraten für morgen!«


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