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Blühende Glöckchen in goldener Luft. – Große Pläne und Vaters Lieblingslied. – Von himmelblauem Samt, schwarzen Lackschuhen, und warum Gottlob Lindenmaier kein schöner Name sein soll. – Ein Wiedersehen der Kinderfreunde und ein Probemusizieren im alten Schloß. – Abschied von Herrn Steiner, und wie eine Träne auf ein Kinderhaupt fällt. – »Ich habe sie nie von unserm Herrgott reden hören!«
Es war Winter und wieder Frühling geworden, und die blauen Glocken, die eben auf der Plattform des alten Turmes zwischen den Mauerritzen hervorwuchsen, bewegten sich wie läutend im linden Abendwinde. Sie selber gaben keinen Ton von sich, aber aus der Nische dort zwischen dem durchbrochenen Geländer und den herrlich geformten Steinarbeiten, die von unten aus wie das feinste Blätterwerk gegen den blauen Himmel sich abhoben, kamen Klänge, so schön und rein, als ob Silberglöcklein tönten, und Wilhelm, der eben von der Uhr herabkam, blieb einen Augenblick an der Treppe stehen, um zu lauschen, ehe er zu seinem jungen Weib in die Stube trat, um zu Nacht zu essen.
»Der kann's, der Gottlobele, das muß ich wissen, denn ich bin ja doch ein Musiker!« sagte er. Der neue Turmwächter hatte jahrelang die Posaune geblasen, und jetzt noch half er manchmal aus, wenn Not an den Mann kam. Die beiden saßen zusammen und aßen.
»Ja, aber ein merkwürdiges Büble ist er,« meinte die Frau, während sie eine Kartoffel an die Gabel steckte und schälte. »Wir haben ihm doch auf seine Bitten hin erlaubt, daß er da oben geigen dürfe, so oft er wolle, obgleich ich nicht begreife, daß er das nicht gerade so gut unten tun kann. Aber ob der Bub auch nur ein einzig Mal zu uns in die Stube hereinkäme, wo er doch hier geboren und aufgewachsen ist!«
»Vielleicht gerade deshalb nicht,« antwortete der Mann und horchte wieder hinaus, wo sich eben aus allerlei Phantasien heraus voll und klar die Töne des Liedes entwickelten:
Wer nur den lieben Gott läßt walten
Und hoffet auf ihn allezeit,
Den wird er wunderbar erhalten
In aller Not und Traurigkeit.
Wer Gott dem Allerhöchsten traut,
Der hat auf keinen Sand gebaut.
»Das Lieblingslied seines Vaters,« sagte Wilhelm. »Das Kind würde doch auch nicht ein einziges Mal da oben geigen, ohne mit dem zu schließen. Ja, ja, ich sag' schon, 's ist ein merkwürdiges Büble, und ich bin begierig, was wir noch alles an ihm erleben werden.«
Wilhelm ergriff das Tagblatt, um sich darein zu vertiefen. Die Frau aber horchte auf die leisen Kinderschritte, die draußen an der Tür vorbeihuschten. Sie stand rasch auf und öffnete einen Spalt: »Grüß Gott und adieu auch, Gottlobele!« sagte sie mit einem leichten Vorwurf in der Stimme. »Du kommst ja nur wie so ein Erdgeistlein, das auf einmal da und wieder fort ist. Könntest wohl auch einmal eintreten und uns ein bißle was erzählen! Sag', ist's denn wahr, was die Leute sprechen, daß der Herr Musikdirektor einen regelrechten Künstler aus dir macht, und daß er mit dir reisen will?« fragte sie neugierig.
»Laß ihn doch!« mahnte Wilhelm. Aber die lebhafte, etwas zudringliche Frau hatte schon die Türe ganz geöffnet und den Kleinen hereingenötigt.
»Jetzt erzähl' nur auch einmal! Die Frau Stadtpfarrer hat mir alles nur halb gesagt, und aus deiner Mutter ist ohnedem nichts herauszubringen. Sag nur, bist du denn nicht gräßlich stolz geworden nach dem großen Konzert in der Tonhalle vorige Woche, wo sie dich beinah zerrissen haben? Und in allen Blättern ist ja von dir gekommen, von so einem kleinen Männle, das noch nicht einmal neun Jahr alt ist!«
Die Frau hatte den Knaben auf die Bank genötigt und saß nun, ihr Strickzeug in den Schoß gelegt, erwartungsvoll ihm gegenüber.
»Ist's wirklich so, daß ihr nun herumreisen werdet von einer Stadt zur andern, und daß deine Angelika mitgeht? Was fängt nur da deine Mutter an, wenn ihr sie so ganz allein lasset?«
»Wir bleiben zuerst nur ein paar Tage fort,« erwiderte der Knabe zurückhaltend.
»Das wird schon gut sein, wo der Herr Direktor doch sein Amt hier hat.« Die Frau nickte befriedigt. So konnte sie sich's schon eher vorstellen.
»Wie's nachher wird, weiß man noch nicht, das ist alles unsicher!« sagte Gottlob widerstrebend und wollte rasch aufstehen und sich entfernen.
»Was ist unsicher? Ist's das, warum deine Mutter so oft weint?« fragte die Frau. Sie hätte fürs Leben gern noch ein bißchen mehr erfahren von dem, was in der ganzen Stadt gegenwärtig besprochen wurde.
»Laß doch den Gottlobele in Ruh!« rief Wilhelm ärgerlich und nickte über die Zeitung hinüber diesem freundlich zu.
In des Knaben Gesicht zuckte es aber auch schon lange wie verhaltenes Weinen: »Ich will heim, ich kann nicht mehr bleiben.«
Gutmütig, aber taktlos wollte die junge Frau Gottlob noch einmal zurückhalten, indem sie aus der Tischlade ein Stück Kandiszucker nahm und ihm in die Hand drückte: »Da iß, aber bleib doch auch einmal ein bißchen sitzen!«
Das Kind schob den Zucker auf die Seite, stürzte unter Tränen aus der Stube und lief, so gut es dies mit seinem kurzen Fuß vermochte, stolpernd die hölzerne, leiterartige Treppe hinab in das Innere des Turmes, wo es sich am Beginn der steinernen Wendeltreppe einen Augenblick setzte, schluchzend die Stirn an die Mauer drückend.
So fand es Wilhelm ein paar Minuten nachher, als er noch rasch mit einer Laterne in die Kirchenräume wollte.
»Jetzt sag, Gottlobele, was eigentlich mit dir ist, und warum du so weinst?« fragte der gutmütige Mann und strich ihm beruhigend über den Kopf.
»Weil – weil – weil das da droben unsere Stube ist – und weil Vaterle drin war – und weil's so schön war und – und –«
»Was und, Gottlobele? Du weißt doch, daß du jederzeit auf den Turm kommen kannst, und wenn du nicht magst, so brauchst du nie mehr in die Stube zu gehen,« sagte Wilhelm, indem er die Hand des Knaben faßte und langsam mit ihm immer rund um die Turmschnecke herum hinabging. Gottlob trug mit der andern Hand den Geigenkasten. Er schmiegte sich im Hinuntersteigen fest an Wilhelm, dem er vertraute, an.
»Ich hab' so Angst vor dem Fortgehen,« sagte das Kind leise. »Weißt, wenn's jetzt so schön auf dem Turm wird, wenn die Schwalben wieder herumfliegen und die Sonne ganz hinten auf den Bergen so goldig glitzert, daß man meint, die Welte höre gar nimmer auf – da ist's so traurig, nicht da zu sein! Und dann, wenn wir fortgehen, ist auch Mutter so allein!« fügte er noch schnell hinzu, denn sie waren eben unten angekommen und mußten sich trennen.
»Wenn's so weit kommt, Gottlobele, dann wird's auch schon recht werden, denk nur an das schöne Lied, das du allemal spielst,« tröstete der gutmütige Mann und schüttelte seinem kleinen Freund noch herzhaft die Hand. Als er aber eine Stunde nachher noch im Stadtpfarrhaus zu tun hatte, – der Turmwächter versah immer zugleich auch das Amt des Mesners, – da erzählte er der Frau Stadtpfarrer von dem Knaben, und diese sagte kopfschüttelnd:
»Das Kind ist schrecklich aufgeregt durch das viele Studieren. Ich wollte, es wäre ein bißchen weniger begabt und ginge einen mehr sicheren und schlichten Weg als diesen, von dem man noch gar nicht weiß, wo er hinführt, und von dem man es doch nicht abzuhalten wagt bei dem großen Talent, das es hat!«
Und so war es. Diese Gedanken, dieses Für und Wider, bewegten fast alle die Menschen, die sich für den kleinen Gottlob Lindenmaier und seine Familie interessierten, für den Geigenlobele, der nach und nach eine ganz bekannte und wichtige kleine Persönlichkeit in der Stadt geworden war.
Unter Herrn Steiners altmodischer, mehr langsam vorangehender Leitung wäre der Knabe wohl noch lange zurückgehalten worden und außer bei kirchlichen Aufführungen nicht so bald in die Oeffentlichkeit getreten. Aber kurz nach dem damaligen Gespräch zwischen den beiden Musikern erlitt der alte Herr einen Schlaganfall, der ihn unfähig machte, sich selbst seines Lieblings weiter anzunehmen, und von dem er sich nur langsam wieder erholte.
So hatte Herr Direktor Janauschek die Ausbildung des Knaben vollständig übernommen.
Mit größter Hingabe und Daransetzen aller seiner Kräfte hatte er Gottlob in anderthalb Jahren zum Staunen weit gebracht, das empfand jedermann. Aber auch das Kind hatte all sein Können daransetzen müssen, wie auch Angelika, von deren Fortgehen als Lehrerin von da an durchaus nicht mehr die Rede sein konnte.
»Wenn Sie mir das antun, Fräulein Angelika, daß Sie jetzt weglaufen, um dummen Kindern das A-B-C beizubringen, während zu Hause Ihrer eine große Aufgabe harrt, so weiß ich nicht, was ich von Ihnen denken soll!« hatte der Herr Direktor gesagt, und im stillen mußte sie ihm ja auch recht geben. Bei den vier bis sechs Stunden, die Gottlob nun täglich zu üben hatte, brauchte er sie ganz notwendig. Und wie froh war sie nun an dem Klavier im eigenen Zimmer! Die Begleitungen waren nicht immer leicht, und Angelika mußte auch ihren Teil gründlich durchstudieren. Aber dann war's eine wahre Freude, wie die Geschwister sich in jedem Ton und in jeder Note verstanden. Bald aber wäre für Gottlob sein Engele auch noch in anderer Hinsicht gar nicht zu entbehren gewesen. Bei dem Ziel, das sich Herr Janauschek gestellt, erwies sich der Schulbesuch für den Buben wirklich nicht mehr als durchführbar, und da war es nun wieder Angelika, die in ein- bis zweistündigem täglichem Unterricht das Brüderlein, soweit es eben anging, vorwärtsbringen mußte. Ein Segen und Glück war es, daß Frau von Werder ihr vorgeschlagen hatte, diesen Unterricht mit den Stunden, die Angelika Wanda und Werner gab, zu vereinigen, ein Glück wegen der Zeit, aber auch wegen des Verdienstes, denn dies war die einzige Einnahme, die Angelika augenblicklich hatte, ein Umstand, der sie oft schwer bedrückte. Jetzt nur endlich einmal fort, auf die eine oder die andere Weise, um der Mutter im Erwerb beistehen zu können, die sich die armen Gichtfinger fast wund reiben mußte, um den Unterhalt für die ganze Familie zu verdienen. An Aufträgen fehlte es ja nie. Die Stadt war groß und der Menschen viele, die Handschuhe trugen. Auch brachte sie niemand so schön hell und frisch und weich dabei – fast wie neu – zustande als Frau Nane. Aber daß die Mutter sich keinen Augenblick Ruhe gönnen konnte, kaum ein halbes Stündchen nach Tisch, und daß die Arbeit oft bis in die Nacht hinein ging, gehen mußte, wenn's zum Leben reichen sollte, das war's, was Angelika oft ernsthaft bekümmerte. Und Gottlob, so jung er noch war, sagte: »Wart nur, Mutterle, bis ich noch mehr kann. Herr Janauschek sagt, daß ich dann viel Geld bekomme, und dann sollst du's aber gut haben!«
»Wenn's nur dir gut geht, Gottlob, und dem Engele, das andere ist alles Nebensache,« sagte Nane. Sie machte sich innerlich große Sorge um die Kinder, und die Wendung, die die Sache genommen, war so gar nicht nach ihrem Sinn. Warum war's denn auch nicht so gegangen, wie es so schön eingefädelt war, daß Angelika als Lehrerin ihrem Berufe folgte und Gottlob einmal ein guter Meister zu Gottes Ehre, wie Herr Steiner, wurde? Frau von Werder und Stadtpfarrers, das wußte sie, dachten dasselbe, aber da waren wieder viele andere auch rechte Leute, die sagten: »Wenn der liebe Gott jemand ein solches Talent gegeben hat wie dem Gottlob, so muß dieser auch möglichst viel andere Menschen damit erfreuen.« Dagegen wußte schließlich niemand etwas einzuwenden, nicht einmal Schwester Martha von Thadden, die sich aber in der Stille dabei am meisten um Angelika sorgte.
Der Plan war, daß das erste Konzert in einem einheimischen Badeort der Herr Direktor selber leiten, und daß er die Mitwirkenden damit einführen wollte. Angelika sollte den Bruder auf dem Klavier begleiten. Wohl war ihr Spiel nicht künstlerisch, aber doch tüchtig und brauchbar, und die beiden gehörten nun einmal zusammen. Es machte sich gut und sah auch gut aus. Dieser letzte Grund war wohl mit maßgebend. Und dann kam der vollendet schöne Gesang von Frau Janauschek dazu. Diese war mehrere Jahre lang eine beliebte und bekannte Konzertsängerin gewesen, hatte Beziehungen in allen größeren Städten und lebte und webte in der Musik.
Der Herr Direktor mußte wieder zurück, denn er hatte seinen Beruf, aber seine Frau würde die Konzertrundreise weiterführen in verschiedene größere Badeorte, mit jeweiligen kurzen Besuchen daheim. Im Herbst sollte dann das erste große Konzert in der Residenz gegeben werden und dann der Flug auch über das Heimatland hinausgehen.
Mit der ganzen Warmherzigkeit, die Frau Janauschek besaß, war sie den Geschwistern Lindenmaier entgegengekommen, und selbst Nane, der anfangs die etwas laute und lebhafte Art der jungen Frau nicht so recht gefiel, hatte sie nach und nach lieb gewonnen.
»Das muß man sagen, die Frau Direktor ist seelengut,« wußte die Mutter immer wieder bei Frau Maier und im Stadtpfarrhaus zu berichten. »Wie besorgt ist sie um Gottlobele, daß er sich nicht erkältet, wenn er sich heiß gegeigt hat und dann im Kühlen heimgehen muß! Erst neulich hat sie ihm ihren eigenen Schal umgebunden, und zwischenhinein füttert sie ihn mit den besten Sachen, damit er ›fein kräftig bleibe‹. Wie manchmal schickt sie ein Stück Braten oder von den guten Wiener Mehlspeisen, die sie selber macht, für ihn herüber! Sie ist eine tüchtige Hausfrau neben all dem Musizieren, und Engele könnte darum viel bei ihr lernen.«
Frau Janauschek war lebenserfahren und unendlich gutmütig. Sie hatte Angelika wirklich in ihr Herz geschlossen und verfolgte bei ihren Plänen ehrlich und redlich auch das Wohl der Geschwister, nicht nur ihr eigenes.
»Siehst du, Herzerl, neben dem, daß gute Musik unter die Leute und nicht nur in die Stub'n gehört, braucht ihr doch und wir auch Geld, um ordentlich leben zu können. Wenn also unser Herrgott dem Buberl Gold in seine Saiten gelegt hat und mir in die Kehle, so wär's doch ein Unsinn, wenn wir's drin rosten ließen und du tätst dich dafür schinden und plagen bei fremden Leuten, von denen du nicht weißt, wie sie sind. Wie das sein kann, hast du jetzt schon einmal im Leben ausprobiert, und daß wir zwei zusammenpassen, das ist ja wohl sicher.«
Angelika schmiegte sich als Antwort an die so Sprechende innig an. Sie hatte Frau Janauschek herzlich lieb gewonnen.
»Dann gib acht, wie schön es ist, in die weite Welt hineinzureisen und die Leute jubeln zu machen!«
Das leuchtete Angelika am meisten ein, und sie fing nun auch an, sich auf die Konzertreise wirklich zu freuen. Hinaus, hinaus! Ach, wie hatte dieser Wunsch schon in ihrer Kindheit in ihr gelegen, wie hatte er sich wieder von neuem ausgewachsen in der Enge und Bedrängnis der letzten Zeit! Wie mußte gespart und eingeteilt werden, so sehr wie nie, solange der Vater noch gelebt hatte! Und nun lag auch die Sorge für die Ausrüstung zu der Reise wie eine Zentnerlast auf Angelikas Seele. Wohl waren ja zum Glück die Koffer vorhanden, auch an einfachem, aber gutem Weißzeug fehlte es den beiden nicht, aber wie vieles sonst wurde von Frau Janauschek für unumgänglich notwendig befunden!
»Ein hübsches, neues Reisekleid und eine Jacke nebst anständigem Hut mußt du haben,« entschied sie, nachdem sie Angelikas mehr als bescheidenen Kleiderbesitz gemustert, »und dann ein weißes, leichtes zum Auftreten. Wir nehmen ein ganz einfaches – die besseren kommen später – aber es muß bei einer guten Schneiderin gemacht werden. Spitzen und Bänder kann ich dir dazu geben. Wie gern, Herzerl, würde ich das Ganze auf mich nehmen, aber 's ist ein Elend, wie viel man selber braucht, und wie man halt nie ein übriges Geld hat!«
Angelika schaute mit größter Aengstlichkeit drein, aber zu ihrem Erstaunen sagte die Mutter mit fester Stimme: »So viel habe ich schon noch, um die Kinder anständig und wie sich's gehört in die Welt zu schicken!«
»Sie sind eine Goldfrau,« jubelte Frau Janauschek und umarmte stürmisch die sich wehrende Nane, während Angelika, noch immer zaghaft, leise fragte:
»Kannst du denn wirklich, Mutter?«
»Ja,« nickte diese, »ich kann! Mach dir weiter keine Sorgen darüber!«
Wie gerne ließ Angelika sich diese nehmen!
Und nun ward sofort eine Liste zusammengestellt von dem, was gekauft werden mußte: Handschuhe, Unterröcke, Gürtel. Dann aber wurde mit besonderer Gründlichkeit und Liebe Gottlobs Anzug besprochen. »Der muß vor allen andern ganz besonders fein und reizend sein,« sagte Frau Janauschek.
»Ich denke einen neuen Matrosenanzug, vielleicht mit einem hellblauen Kragen?« fragte die Mutter schüchtern.
»Was fällt Ihnen denn ein, Frau Lindenmaier? So etwas, was alle Kinder tragen? Wir dürfen nicht vergessen, daß unser Buberl was ganz Besonderes ist, und daß er auch deshalb ganz besonders fein und eigen aussehen muß. Seien Sie mir drum nicht bös, Frau Lindenmaier, daß ich schon eine Bluse und Höserln bestellt hab', so wie's halt sein muß. Ich sag' Ihnen, entzückend! Himmelblauer Samt, eine bunte Schärpe von weicher Seide und dazu ein umgeschlagener Kragen von Spitzen. Dann schwarzseidene Strümpfe und Lackschuhe! Ich freue mich nur auf den Augenblick, bis wir's ihm anziehen!«
»Himmelblauer Samt und seidene Strümpfe? Ja, liebe Frau Direktor, das ist ja ein himmelschreiender Uebermut, und das zieht Ihnen mein Gottlob auch gar nicht an, das weiß ich vorher. Keine zehn Gäule bringen den Buben dazu, daß er sich so sehen läßt!«
»Aber ich und sein Engele!« erwiderte lachend Frau Janauschek. »Wenn wir ihm sagen, daß es sein muß, dann tut er's auch, wie er sich auch gutwillig seit einem halben Jahr hat die Locken wachsen lassen, weil das zum Ganzen gehört.«
»Ja, der Strobelkopf, den ich jetzt mit keiner Bürste und keinem Wasser mehr zurechtbringe,« seufzte Nane. Ihr war auf einmal so schwer geworden.
»Aber noch etwas müssen wir jetzt festsetzen,« schloß Frau Janauschek, als sie und Angelika nun mit der Liste fertig waren.
»Nichts mehr, was Geld kostet, – beruhigen's Ihnen!« wehrte die Eifrige ab, denn sie sah Frau Nanes ängstlichen Blick, »'s ist nur noch, wie wir das Buberl künftig nennen sollen.«
»Nennen?« fragte Nane ganz verwirrt, und auch Angelika schaute erstaunt in die Höhe. »Er hat doch seinen Namen Gottlob, wenn ihn auch die meisten Menschen hier Lobele oder Gottlobele heißen! Das müßte freilich in Zukunft unter den fremden Menschen aufhören!«
»Selbstverständlich!« sagte Frau Janauschek. »Aber da unseres kleinen Geigenkünstlers Name künftig in allen Anzeigen und auf allen Zetteln obenan stehen wird, so werden Sie selber einsehen, liebe Frau, daß wir uns auf etwas anderes als Gottlob besinnen müssen. Ich bin gewiß für nichts Überspanntes, aber wie wäre es mit Edgar, Ottomar, Viktor oder auch Benedikt, d. h. der Gesegnete?« Frau Janauschek wollte harmlos noch weiter vorschlagen, daß es auch besser klingen würde, den Namen Lindenmaier zu kürzen und nur Viktor oder Benedikt Linden zu sagen, aber sie wagte es nicht mehr, denn schon über den ersten Vorschlag war die sonst so gelassene und ruhige Mutter ganz außer sich.
»Ich habe Ihnen in allem nachgegeben, Frau Direktor, selbst mit dem Lockenzeug und dem himmelblauen Samt, welch letzteres mir schwer aufliegt, aber daß mein Kind seinen ehrlichen Namen ablegen soll, den mein Mann und ich gewählt haben wegen seiner schönen Bedeutung, das darf nicht sein, da wäre auch gar kein Segen drin, das glauben Sie mir, Frau Direktor, wenn auch zehnmal der andere Name ›der Gesegnete‹ heißt!«
Nanes sonst blasses Gesicht war ganz rot vor Aufregung geworden, und es traten ihr Tränen in die Augen, was Frau Janauscheks warmes Herz peinlich berührte. Sie suchte sie mit all ihrer Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit zu beruhigen.
»Aber so seien's doch vernünftig Mutterl, und nehmen's nicht alles gleich so schwer! Was ist denn daran, wenn die fremden Leute einen anders heißen? Mich nennen die Meinigen daheim alle von klein auf Poldl, und für die Welt da draußen bin ich die Dina. Das verschlägt mir doch nichts, aber es klingt halt einmal besser!«
Warum Gottlob nicht gut klingen sollte, vermochte man Nane nun und nimmer beizubringen, und Lindenmaier gar erschien ihr als der schönste Geschlechtsname der Welt. Hatte doch ihr Mann selig so geheißen. Das einzige, was man schließlich in dieser Sache noch erreichte, war, daß Gottlobs zweiter Name, Peter, vorangestellt werden durfte, und so erschienen denn in nächster Zeit da und dort vorbereitende Artikel in den Zeitungen über den erst achtjährigen, neuentdeckten kleinen Geigenkünstler Peter Gottlob Lindenmaier, der im Verein mit Frau Leopoldine Janauschek eine Reihe von Konzerten geben werde. –
Und nun standen wieder die gepackten Koffer in Frau Nanes Stube, diesmal noch ein weiterer dabei, denn beide Kinder sollten ja ausfliegen.
Angelika und Gottlob waren noch zu Herrn Steiner vors Tor hinausgegangen, um von ihm Abschied zu nehmen. Die Mutter bügelte rasch noch ein frisches Kittelchen, das ihr Gottlob morgen auf der Reise tragen sollte. Da und dort fiel eine Träne zischend auf das glühende Eisen, und sie fuhr sich mit der Rückseite der harten Hand über die Augen. Was sie innerlich durchmachte bei all den Vorbereitungen, das ahnte kein Mensch, und wie sie künftig das einsame Leben würde ertragen können, das ließ sie mit aller Macht nicht an sich heran. Eine Hauptsorge war ihr, daß der Bub in den letzten Wochen wirklich schlecht und elend ausgesehen hatte. Aber seit gestern war eine Wandlung mit ihm vorgegangen. Herr Janauschek hatte ihm gesagt, wenn alles gut gehe und Gottlob seinen Erwartungen entspreche, so dürfe er vor dem großen Konzert, das Anfang November in der Residenz stattfinden sollte, ein paar Wochen wieder nach Hause kommen. Auch für Angelika werde es gut sein, sich in Ruhe vorher noch einmal tüchtig zu üben. Jetzt hatte man Anfang August, und somit war's ja keine zu lange Trennung.
In dieser frohen Stimmung waren die Geschwister gestern abend drüben im alten Schloß gewesen, wo Werders zum Abschied eine kleinere musikalische Gesellschaft geladen hatten. »Zur Probe,« wie Frau von Werder sagte. Aber es gab noch eine besondere Ueberraschung.
Der älteste Sohn des Hauses, der fröhliche Franzkarl, welcher nun auf der Universität seine Studien machte, war da, ebenso sein Jugendfreund Willi Reinhardt, der nach seiner Lehre in der französischen Schweiz nun in Berlin im Polytechnikum war und daneben in einer großen Möbelfabrik tätig war. Es war eine große gegenseitige Freude, als die jungen Leute alle sich wiedersahen. Da hieß es beständig: »Weißt du noch?« und: »Weißt du noch?« (das Siesagen war nach etlichen mißlungenen Versuchen wieder beiseite gelassen worden) und alle Kinderstreiche und Jugendgeschichten, die Gertrud und Engele und die Knaben einst zusammen erlebt, wurden aufgefrischt und unter viel Scherzen und Lachen durchgesprochen.
Außer Janauscheks waren noch Stadtpfarrers, dann eine Frau von Berthier mit ihrer Tochter Ursula und Bankier Steinbach, sowie Hauptmann Stein mit Töchtern geladen, letztere lauter Schulbekannte von Angelika, mit denen sie nach der Schulzeit zwar wenig verkehrte, die sich aber nun alle sehr für die Lindenmaierschen Kinder interessierten. Frau Nane, die von Frau von Werder selber aufs herzlichste gebeten worden war, auch zu kommen, hatte gedankt.
»Wo ich nicht hinpasse, da bleibe ich lieber weg,« hatte sie aufs bestimmteste gesagt und war dabei geblieben, obgleich diese Bescheidenheit zu weit ging und alle Anwesenden sich gefreut hätten, wenn die Mutter bei dem warmen Beifall, der ihren Kindern gezollt wurde, dabei gewesen wäre.
»Das ist ja unglaublich, was der kleine Kerl kann!« sagte Bankier Steinbach, der schon früher in der Stille dem Herrn Direktor eine wesentliche Summe beigesteuert hatte zu einer neuen Geige für Gottlob wie auch Herr von Werder und sonst ein paar musikliebende Menschen der Stadt.
Gottlob war so froh, daß diese Leute sich alle zufrieden zeigten. Im übrigen war's ihm ja ziemlich gleichgültig, ob die Menschen ihn lobten oder nicht. Angelika aber war umringt von den jungen Mädchen, die ihre Fortschritte im Klavierspiel bewunderten und sie beneideten, daß sie so schöne Reisen vor sich hatte. Franzkarl und Willi konnten auch eine gewisse Hochachtung vor Angelika nicht unterdrücken, und sie fühlten sich beide im voraus schon stolz bei der Aussicht, die Konzertgebenden einst in Berlin oder sonstwo als nahestehende Freunde begrüßen zu dürfen. Von Janauscheks waren alle, besonders die Jugend entzückt, und als die Geschwister um zehn Uhr nach Hause gegangen, war die allgemeine Ansicht die, daß man die Kinder ihnen ruhig anvertrauen könne. Nur Stadtpfarrers meinten:
»Lieber wäre uns der stille Weg gewesen.«
»Dasselbe schreibt Fräulein von Thadden,« sagte Frau von Werder. »Aber da weder Angelika noch Gottlob zur Eitelkeit neigen und wir auch nicht unterschätzen dürfen, daß sie auf diese Weise für die abgearbeitete Mutter und sich am besten ihr Brot verdienen können, so wollen wir alles Gute hoffen.«
»Sehr hervorragend spielt aber das Engele nicht!« kritisierte auf dem Heimweg Lilli Steinbach, die immer auf Angelika ein wenig neidisch gewesen war. Aber die andern überstimmten sie alle, und Gertrud Reinhardt sagte:
»Sie will ja auch gar keine Künstlerin sein, sie begleitet ja nur ihr Brüderchen, und das kann sie am besten!«
Herrn Steiner hatten die Geschwister in seinem Rollstuhl im Garten getroffen, und er war tief bewegt, als Gottlobele ihm sagte, sie kämen, um Abschied zu nehmen. Wie liebte er dieses Kind, dessen musikalisches Talent er zuerst entdeckt hatte! Welche Freude hatte er an dem kleinen, zarten Büblein gehabt auf Peters Arm! Wie hatten sie beide erstaunt gelauscht, wenn es, noch ehe ihm die Worte zu Gebote standen, mit seinem dünnen Stimmchen ganz richtig einzelnes nachsang! Und wie sorgsam hatte er nach dem damaligen Unglück mit dem Wägelchen den armen, kleinen, verkrüppelten Knaben, der ein paar Jahre lang nicht allein gehen konnte, neben sich an die Orgel gesetzt, was des Kindes größte Wonne gewesen. Dann waren die ersten Versuche auf der Geige gekommen nebst Gottlobeles und seinem, des Lehrmeisters, Glück darüber, und dann das richtige Lernen, das Studieren, die überraschenden Fortschritte. Und nach all dem das Getrenntwerden, die andere Leitung, das Führen auf Bahnen, die Herrn Steiner nicht die richtigen dünkten.
»Mein lieber kleiner, gottbegnadeter Bub, mein Lobele ein herumreisendes Wunderkind! Er mit seinem schlichten, warmen Herzchen dem launischen Urteil der Fremden anheimgegeben, mit seinem zarten, schonungsbedürftigen Körper bis aufs äußerste angestrengt!«
Herr Steiner sprach diese Worte nicht aus, aber sie bewegten sein Inneres, als die Kinder kamen. Gott sei Dank, der Knabe sah frischer aus, als all die Zeiten her. Herr Steiner zwang sich, fröhlich zu scheinen, längeres Sprechen fiel ihm aber seit seinem Schlaganfall schwer.
»Also da sind meine Wandervögel! Na, wann geht's denn fort? – Sitzen!« Er deutete mit der einen gesunden Hand auf zwei Gartenstühle neben sich. Gottlob blieb aber lieber stehen.
»Also morgen? – Na, Lobele, fest im Takt, was?« Der Bub nickte, und ein dunkler Schopf Haare flog ihm dabei auf die Stirne.
»Künstlerlocken!« sagte Herr Steiner wehmütig und strich Gottlob die Stirn frei.
Dann gab er ihm in abgebrochenen Sätzen noch gute Lehren: »Sie werden dir sagen, daß du was bist; vergiß aber nie, daß ein Kind erst werden muß! Wenn sie dich loben, bild' dir nichts ein. Wer ein Talent hat, hat's von oben, und er soll damit die Menschen nach oben ziehen. Dazu mußt du aber älter sein. Und bleib nicht stehen, Büble, tu aber auch nicht zu viel, besonders nicht aus Ehrgeiz, der bringt um das Schönste, um den Frieden. – Dir, Engele, ist viel anvertraut!« Er wandte sich gegen diese. »Wach' über das Kind! … Und nun behüt' euch Gott!«
Herrn Steiner drohte die Fassung zu verlassen. Er nickte nur, als Angelika ihm noch in Mutters Namen recht herzlich für alles danken wollte. Als aber Gottlobeles Kinderhand so fest und ehrlich die seine drückte, und als der Bub in seiner schlichten Weise sagte: »Vergelt's Gott für alles!« da beugte sich der weiße Kopf auf des Kindes Haupt, und etwas Heißes, Nasses fiel in die dunkeln Locken. –
Nane war mit allem fertig, als die Kinder kamen, und das blau und weiß gestreifte Kittelchen sowie eine Reisebluse für Angelika hingen in strahlender Frische am Fensterkreuz. Wie gern hätte sie den Abend vollends allein mit den beiden zugebracht! Sie hatte ja auch noch so viel auf dem Herzen, das auszusprechen es bis jetzt noch keine Zeit gegeben hatte. Aber Frau Maier hatte darauf bestanden, daß alle noch zum Nachtessen zu ihr kämen.
»Die Kinder sollen sich auch noch einmal recht herausessen, ehe sie in die Fremde müssen,« sagte sie. Für ihre unter Schmalz, Butter, Eiern und Nudeln sich herausbildenden Begriffe war »draußen sein« und »darben müssen« fast dasselbe, und der sauber gedeckte Tisch brach fast unter Schinken und Wurst, Kuchen und Wein. Gertrud, Frau Maiers Liebling, war auch gekommen und »beinah« die Frau Stadtpfarrer, aber sie war ihres leidenden Mannes wegen doch zu Hause geblieben. Frau Maier bot an, redete zu, legte vor, wo nach ihrer Meinung zu wenig gegessen wurde, und wo sie glaubte, ein annähernd betrübtes Gesicht zu sehen, da legte sie eine doppelte Portion auf den Teller.
Als Nane zum Fortgehen mahnte, da hatte auch die Frau Direktor noch den Kopf hereingesteckt, und es wurde von neuem angestoßen und Glück gewünscht und abermals sitzen geblieben.
Erst spät in der Nacht – Gottlobele war sofort eingeschlafen – stand die Mutter noch einen Augenblick an Angelikas Bett in der heißen, trotz der geöffneten Fenster sommerdumpfen Stube und sagte:
»'s wird euch gut tun, in eine frische Luft zu kommen. Da, wo ihr hinreist, sollen ja überall Wälder sein, das gönne ich euch! Daß du für den Gottlobele sorgen wirst, das weiß ich, und die Frau Direktor ist gut, sie tut's auch. An Nachrichten laßt ihr's auch nicht fehlen, und wenn's nur Karten sind. Aber was ich noch sagen wollte: Ich hab' die Frau nie von unserem Herrgott sprechen hören, und das macht mir Sorge. Haltet ihr um so fester an ihm, ich werd's zu Haus am Beten auch nicht fehlen lassen!«
Angelika reichte der Mutter die Hand. Viel sagen konnte sie heute abend nicht mehr vor Müdigkeit. Daß sie beide aber das Beten nicht vergessen würden, das war doch selbstverständlich, das brauchte man wirklich nicht erst zu versprechen.