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Neuntes Kapitel

Wie Fritz die Großmutter fast erdrückt und die Nandl glückselig ist. – Im Elternhaus und beim Marterlmaler. – Auf dem Kirchhof und der Rodelbahn. – Von Postkarten und einem Brief, der Herzweh verursacht. – Jule sagt: »Alles kommt vom lieben Gott!«

Gegen Weihnachten war in dem kleinen Kreis im Hause am Marktplatz ein neues Element hereingekommen. Fräulein Bland hatte die Freude, daß ihr Bruder, der bisher gereist war, nun eine feste Stellung in einem Stoffgeschäft der Stadt erhielt und dadurch manchmal für ein Stündchen oder an einem freien Abend zu ihr kommen konnte. Erich Bland war ein frischer junger Mensch, immer vergnügt und vollauf befriedigt von seinem Beruf. Manchmal sagte er zu der Schwester: »Siehst du, wenn es nach deinem Willen gegangen wäre und ich studiert hätte, so würde ich dir noch immer am Beutel hängen, während ich jetzt mit vierundzwanzig Jahren eine gute Stellung mit festem Gehalt habe und eine Beschäftigung, die mich freut.«

Die Schwester lächelte und mußte dem, was Erich sagte, recht geben. Aber ganz in der Stille regte sich doch immer noch ein kleines Bedauern in ihr, daß der Bruder nicht in dem Berufe der Eltern und Voreltern geblieben war. Als Erich aber einmal schlagfertig hierauf erwiderte: »Du bist es ja auch nicht, du bist ja doch auch etwas anderes geworden als eine gewöhnliche Beamtentochter!«, da konnte Fräulein Bland nichts mehr sagen als: »Schlingel! Immer weißt du was zu erwidern und bringst einen herum!«

Der Großmutter war es gelungen, seit der Kinder Verdienst dazu gekommen, den Haushalt so durchzuführen, daß es wenigstens ohne Schulden abging. Hauptsächlich Lenerls Einnahmen spürte man gewaltig. Aber was nun, da diese wieder aufhörten? Diese Frage drückte auch Fräulein Bland gewaltig für die Hausgenossin, auch sie wußte diesmal keinen Rat. Und doch mußte sie ihre Ansicht festhalten, daß die Zeit der Kinderrollen nun zu Ende sei.

Aber nun bedrückte Frau Friedemann auch noch etwas anderes. Fritz, der bisher so frische Junge, litt seit einer überstandenen Halsentzündung an Müdigkeit und Schwäche. Er war in der letzten Zeit sehr gewachsen, und das mochte wohl auch schuld daran sein, daß sein Lerneifer noch geringer wurde als bisher, und daß der Lehrer meinte, wenn es so fortgehe, werde er ihn im Frühjahr nicht versetzen können. Auch an nichts anderem hatte Fritz so eine rechte Freude, und meist langweilig und mißmutig saß er des Abends da, höchstens daß er die Giebel der gegenüberliegenden Häuser abzeichnete oder den Kirchturm oder die Spatzen, die vor dem Fenster die ihnen hinausgeworfenen Brosamen aufpickten. Dabei klagte er wieder von neuem, wie fad und dumm es sei, daß es hier keinen ordentlichen Schnee gäbe, und wenn endlich einmal einer gekommen, so sei er im Handumdrehen ganz schwarz, und sofort kehre man ihn wieder hinweg. Als Erich Bland, der die Kinder natürlich nun auch hatte kennenlernen, diesen Erguß mit anhörte, schilderte Fritz ihm in den glühendsten Farben die Berge und die Wälder und den Schnee von daheim. Der Bub hatte von den dreien die alte Heimat am tiefsten im Herzen und Gedächtnis behalten. Jedesmal, wenn die Nandl, die in gleichbleibender Treue und Anhänglichkeit dann und wann schrieb oder ihren Gugelhopf schickte, den Satz wiederholte: »Wenn doch die Kinderle einmal kommen dürften, das täte uns so herzlich freuen«, da gab es immer mit Fritz den größten Kampf, der eben so furchtbar gern der Aufforderung gefolgt wäre.

Heute, es war noch in den Feiertagen nach dem stillen, bescheidenen Weihnachtsfest, hatten die Kinder wieder die alljährliche Sendung von Nandl bekommen. Sie schrieb:

»... Was Ihr mir von Eurem Theaterspielen erzählt, verstehe ich nicht so recht. Wenn es aber so ist wie in Oberammergau, wo ich schon zweimal war, so ist es etwas sehr Schönes, und Eure Großmutter wird ja auch wissen, was recht ist. Daß der Fritz nicht ganz wohl war, tut uns leid. Ich glaube, der würde bald wieder rote Backen bekommen, wenn er hier wäre und mit den Dorfbuben den Waldkogel herunterrodeln könnte. Aber ich weiß ja, daß es nicht möglich ist, darum will ich lieber nichts mehr sagen! ...«

»Warum sagt sie dann überhaupt was?« murrte der Bub, als die Großmutter den Brief vorlas. Und der junge Herr Bland, der mit seiner Schwester gerade dabei war, sagte: »Was ist denn das für eine dumme Nandl, die dem Buben so unnötig das Herz schwer macht?«

Als man ihm aber erklärte, wer die sei, und der Bub eifrig rief: »Die ist nicht dumm, die ist einfach goldig lieb, und wenn ich wieder einmal zu der dürfte, da wollte ich so springen, daß der Boden bricht, und hundertmal wollt' ich Juchhu schreien und ...!«

»Halt ein!« lachte die Großmutter. »Bei solch gräßlichen Verheißungen ist es schon recht gut, daß das nicht sein kann.«

»Wenn's sein könnte, tätest du dann auch besser lernen?« fragte Lenerl, worauf ein kurzes, aber bestimmtes »Ja!« erfolgte.

Der Bub mußte doch wirklich nicht ganz wohl sein.

Erich Bland hatte der ganzen Unterredung mit Interesse zugehört. Dann war er einen Augenblick ganz still geworden. Auf einmal aber richtete er sich auf, – er saß bei den andern am Tisch, – schüttelte seinen dunklen Lockenkopf und faßte den Buben, der schon wieder recht trübselig dasaß, leicht an der Schulter und sagte: »Fritzle, was meinst du, wollen wir zusammen einen Ausflug in die bayrischen Berge machen? Ich hab' frei und du hast frei, acht Tage liegen noch vor uns, und wenn du magst, so schlag ein, – ich nehm dich als Gast und kleinen Reisebegleiter mit!«

Erich Bland hatte dem Buben die Hand hingehalten, aber vorerst schlug dieser nicht ein, denn er war einfach starr.

Als aber die Großmutter sagte: »Herr Bland, jetzt machen Sie mit dem Buben Spaß. Reden Sie lieber nicht so, er versteht's nicht und könnte es für Ernst nehmen!« da sagte Erich Bland eifrig: »Ja, es ist mir auch Ernst, voller Ernst, Frau Friedemann, und ich möchte Sie wirklich bitten ...«

Nun war Fritz jäh aufgesprungen und schrie so laut »Juchhu, juchhu!« daß alle Anwesenden wahrhaft Angst bekamen, er könne seine Prophezeiung, hundertmal Juchhu zu schreien, wahr machen. Die Frauen hielten sich die Ohren zu und baten lachend: »Fritz, halt ein um's Himmels willen, halt ein, wir werden sonst taub?«

»Ist der Vorschlag denn wirklich ernst zu nehmen?« fragten nachher alle Anwesenden durcheinander. Aber Erich Bland lachte gar nicht mehr, sondern sagte: »Natürlich ist es mir Ernst, und wenn Frau Friedemann es richten kann, so fahren wir am besten noch heute abend mit dem Schnellzug, dann gewinnen wir einen Tag, vorausgesetzt, daß Fritz mit will, denn das hat er mir noch immer nicht gesagt.«

Ob der Fritz wollte! Gesagt hat er es, glaube ich, nicht, aber ganz glühend rot ist er geworden, dann ganz blaß, und dann ist er aufgesprungen und hat geschrien: »Großmutterl, wo ist mein Rucksack, Großmutterl, wo sind meine Lederhosen und mei G'wand?« Leider erwies sich beides als vollständig ausgewachsen, nur den Hut und die Wadenstrümpfe konnte Fritz noch brauchen.

»Sie werden dir, über die andern angezogen, gut tun während der Kälte. Und was deinen übrigen Anzug anbelangt, den du anhast, so ist der ja ganz gut und warm, das ist jetzt die Hauptsache. Ich habe ja auch keine Tracht!« tröstete Herr Bland.

Wie in einem Ameisenhaufen ging's an diesem Nachmittag bei Frau Friedemann zu, und es war das größte Glück, daß sie keine Probe hatte und alles zusammenholen und richten konnte. Als Wichtigstes legte Fritz obenauf sein Zeichenbüchlein und all die losen Blätter, auf die er schon gezeichnet, und die in einer kleinen Mappe waren. Auch kam die Großmutter dazu, wie er im größten Eifer aus Schulheften leere Blätter riß. »Was tust du um's Himmels willen da? Du verdirbst ja alles!« schalt Frau Friedemann.

Fritz aber verteidigte sich und sagte: »Ich muß doch so viel weißes Papier haben, daß ich alles dort, was mich freut, abzeichne » kann, dann hab' ich es und kann's euch zeigen, wenn ich wieder fort muß!« – –

 

Zwei junge Wanderer, ein kleiner und ein großer, stampften mutig durch den Schnee die Straße entlang, die von der Haltestelle nach Bergwies führte. Auf den Rücken hatten sie außer den Rucksäcken Schlitten geschnallt, in den Händen hielten sie feste Bergstöcke. Der Weg war immerhin mühsam, und ein bißchen besorgt schaute der Ältere auf den Jüngeren, ob es ihm nicht zuviel wäre. Wer der schien nichts davon zu empfinden, denn in einem fort drehte er den Kopf von rechts nach links, deutete mit der Hand da und dort hin, und beständig hieß es: »Dort ist der Gamskogel!« – »Dort ist die Hochwies!« – »Dort ist dem Niederbauern sein Haus!« – »Dort ist der Hochkogel!« – »Und jetzt – o Erich, steh doch nur einmal, da ist der Kirchturm und gleich daneben ist des Bürgermeisters Haus, wo er und die Nandl wohnen!«

Mit beflügelten Schritten gingen die beiden, Erich und Fritz, die nun nichts mehr von den Strapazen der Nachtfahrt spürten, auf das kleine Städtchen zu, und bald darauf standen sie vor dem stattlichen, mit bunten Bildern aus der biblischen Geschichte bemalten Hause des Bürgermeisters und bemühten sich, an dem an der Haustüre stehenden Besen ihre Füße vom Schnee zu reinigen. Von innen ward die Haustüre aufgemacht, und ein mit buntem Tuch umwickelter Kopf schaute heraus.

»Ja du mein, wer kommt denn da daher? Der Herr und der Bub! Ja grüß dich Gott, Fritzel! Ist denn endlich mal eins von euch gekommen? Ist's endlich wahr word'n?« Und die Nandl, denn sie war es, zog die beiden in den Hausflur herein und nachher in die warme Stube.

»Wacker, wacker müßt ihr g'laufen sein. Hab' euch erst in einer halben Stunde erwartet. Aber das Essen ist schiergar fertig, – wartet nur ein klein wenig noch, – i kimm schon glei wieder!«

»Vatter!« rief die Nandl ins Nebenzimmer hinein. Sie nannte ihren Mann immer so, obgleich die beiden keine Kinder hatten. Auch der stattliche Bürgermeister im warmen, wollenen Wams und mit dem Hauskäpplein, die Pfeife im Munde, empfing freundlich die beiden Ankömmlinge.

»Dös ist recht, daß wir auch einen Winterb'such krieg'n. Stadtleut sind gar schon manche komm'n und lauf'n auf den Brettln von den Berg'n runter, aber net zu uns. Und so ein junger Gast wie der Fritz, is, glaub i, no koaner da!«

Der Bürgermeister half den beiden beim Abschnallen der Schlitten und beim Herunternehmen der Rucksäcke. Dann kam die Nandl und stellte die Suppenschüssel auf den schon vorher gedeckten Tisch in der Herrgottsecke und sagte: »G'seg'ns euch Gott!«

Der Knecht und die Magd kamen und setzten sich unten an und sagten zu dem Buben: »Schön is, daß d' auch wieder da bist, Fritzel!«

Die warme Suppe war herrlich und das Rauchfleisch noch herrlicher, ebenso die Dampfnudeln nachher, von denen die Bürgermeisterin solche Teller voll aufhäufte, daß Erich Bland mit beiden Händen abwehrte und der Fritz, obgleich er sein möglichstes tat, die Hälfte stehen lassen mußte.

»Ja, was ist denn mit dir, Buberl? Wirst doch net krank sein, daß du das Futter verweigerst? Willst mir nicht so recht g'falln mit deinem schmalen G'sichterl!«

Erich Bland erzählte, daß der Bub seit einiger Zeit nicht so recht beieinander sei, und die Nandl sagte darauf: »Das ist vom Wachsen, das werden wir bald wieder weg haben!«

Und mütterlich sorgsam strich sie dem Buben über seine kurzgeschorenen Haare. Wie wohl war es diesem in der ganzen Umgebung! Alles heimelte ihn so an! Und als gegessen war und die Nandl gesagt hatte: »Jetzt ruht's enk ein bisserl auf der Ofenbank aus, werdet wohl müde sein«, und Fritzens Begleiter der Aufforderung gerne Folge leistete und sich behaglich der Länge nach hinlegte, da faßte der Fritz die Nandl am Rock und sagte schüchtern: »Ins Haus möcht i nüber, wo Vater und Mutter waren!«

»O mei, bist du ein gutes Buberl! – Natürli, glei wer'n wir es mach'n«, sagte sie und holte sich geschwind ihren warmen gestrickten Janker und dem Fritz seine Mütze. Dann gingen die beiden zusammen über den knisternden Schnee ins Nachbarhaus, den Weg, den die Kinder einst so oft hin und her gemacht hatten. Die Ladenfenster waren gefroren, aber ein bißchen sah man doch hindurch. »Unser Mohr, – ach, Nandl, schau doch, unser Mohr ist ja noch da und die Büchsen mit Gerstenzucker und Bärendreck auch!« rief Fritz.

Die Nandl faßte den Buben fest mit ihrer warmen Hand und führte ihn in den Laden, wo die Leute, die diesen nun schon seit einigen Jahren betrieben, keine sonderliche Rührung empfanden bei der Vorstellung des Fritz, daß dieser der einzige Bub von den Vorgängern, den Moosbruggerleuten, sei, der auf Besuch gekommen wäre. Fritz bekam wohl eine Hand, aber die Leute hatten zu tun, und keines forderte ihn auf, in die oberen Räume zu kommen, wohin der Bub doch so gerne gegangen wäre. Sehnsüchtig stand er draußen im Flur und schaute die Treppe hinauf. Ihm war's, als müsse man da noch wie einstens hinaufrennen können, als müsse da eins von den Eltern herunterkommen und ihm sagen: »So, bist auch wieder da?«

Aber nichts von dem geschah, und die Nandl faßte den Buben an der Hand und sagte: »'s ist halt jetzt anders, als es damals war, und morgen gehe ich mit dir auf den Friedhof, wenn der Schnee net gar zu tief liegt.«

Sachte und zaghaft – die Nandl ging voran – strich Fritz nur noch geschwind wie liebkosend über das Treppengeländer. »Mutterl, Vater!« sagte er ganz leise vor sich hin und folgte dann der Frau. Die erste Einkehr in das einstige Elternhaus hatte das nicht gehalten, was er sich eingebildet hatte.

Auch am nächsten Tag, als die Nandl über ihre Haustracht wieder den dicken Janker anzog, die Pelzmütze aufsetzte und mit Fritz durch den hohen Schnee hinauswanderte zum Grabe der Eltern, hatte der Bub nur ein bedrückendes Gefühl. Nicht einmal der Friedhof und die Grabhügel waren so, wie er's in der Erinnerung hatte. Eine dichte, starre, weiße Decke lag über allem, und nur das schwarze Holzkreuz, auf dem die Namen der Eltern standen, zeigte an, wo sie lagen. Der Bub fror und die Nandl auch, und nach einem Vaterunser, das die Nandl laut und andächtig gebetet hatte, ging's wieder nach Hause zurück. Aber daheim dann hinter dem warmen Ofen, da erzählte die einstige Nachbarin, während sie kochte, wie brav und fleißig Vater und Mutter gewesen wären, und wie gern sie ihre Kinderl gehabt hätten, und noch manches Geschichtchen von diesen, wie sie klein waren.

Erich Bland war schon am frühen Morgen mit seinem Rodelschlitten den Höhen zugegangen. Hochbefriedigt kam er zum Essen heim, und am Nachmittag nahm er Fritz mit sich. Der Bub war ganz glückselig, als er den Waldkogel hinaufging. Und wie dann die beiden in sausendem Lauf hinabfuhren, da sagte er: »Gelt, Erich, das ist was anderes als in der Stadt? Gelt, jetzt verstehst, warum ich immer von daheim gesprochen hab' und vom Wald und von meinen Bergen?«

Ja, das war zu verstehen. Wie wunderbar leuchtete der Schnee, höher, immer höher, bis hinauf zu den höchsten Firnen, die im Abendrot brannten. Blauschwarz lagen die Schatten der überzuckerten Tannen auf der glitzernden Fläche, gerade so, wie der Bub es vor Jahren geschildert hatte.

Am Abend saß man wieder um den viereckigen Tisch in der Ecke. Die Nandl und die Magd spannen, der Knecht machte Holzspechtelein, der Bürgermeister erzählte allerlei von Land und Leuten, und der Bub saß mit aufgestütztem Kopf eifrig zuhörend dabei. Es kamen auch noch Nachbarsleute – der Gamswirt und der Lehrer –, und sie ließen sich wiederum von Erich erzählen, der schon ziemlich weit herumgekommen war. Der Lehrer hatte eine Freude an Fritz und ließ sich von ihm sagen, wie weit die Buben »dort draußen, wo er her«, seien. So ganz behaglich war Fritz gerade diese Frage nicht, und bei des Lehrers Urteil: »Da scheinen ja meine Buben hier fast fortgeschrittener zu sein als ihr!« hatte der Fritz ein etwas schlechtes Gewissen.

Was ganz Besonderes aber war es, als der Bürgermeister schon an einem der ersten Tage seine beiden Gäste zu dem Marterlmaler Prentl brachte. Das dünkte nun Fritz das Schönste zu sein, was er in seinem Leben je gesehen. Prentl war eigentlich Zimmermaler, – er strich Häuser und Stubendecken an, – aber daneben hatte er in seiner Werkstätte allerlei bunte kleine Bilder, von ihm selbst erfunden und gemalt, – Marterl oder Votivbilder nannte man sie. Die stellten gar wunderbare Sachen vor. Wenn ein Mann zum Beispiel beim Holzfällen verunglückte oder ein anderer im Wasser ertrunken war, so bestellten die Angehörigen ein Bild bei dem Alois Prentl, das den Vorgang recht lebhaft schilderte, und stifteten es für den Ort, wo das Unglück geschehen war.

»An dem Platzl, wo deine Eltern runterg'stürzt sind, fehlt auch noch eins!« sagte der Mann zu Fritz, der sich mit weit offenen Augen und offenem Munde die Bilder anschaute. Da waren auch noch andere: kranke Leute, die im Bett lagen und mit aufgehobenen Händen um Hilfe flehten, brennende Häuser, aus denen Flammen und Rauch schlugen, – und Herr Prentl erklärte, dies seien Bilder, die die Menschen, die eine Gebetserhörung erfahren, in eine Kapelle oder Kirche stifteten. Gar sauber und nett war alles gemalt. Fritz seufzte unwillkürlich auf und sagte: »Ja, wer so was machen könnte!«

Da erzählte Erich Bland, daß sich sein kleiner Begleiter auch schon oft versucht habe in Darstellung von Geschautem, und Herr Prentl sah sich den Buben an und sagte freundlich: »Wennst was da hast, so kannst mir's ja zeigen.«

Fritz strahlte, und doch war er recht zaghaft, als er am andern Morgen sein Zeichenbüchlein und seine losen Blätter in dem Mäppchen zum Marterlmaler hinübertrug. Der stand gerade oben auf einer Leiter und flickte einen Schaden am Türverschlag aus.

»Wart nur ein wengerl, i kimm glei!« rief er dem Buben zu, und dieser konnte sich einstweilen so recht gründlich in all das Bunte, das in der Werkstätte zu sehen war, vertiefen. Als aber dann der Meister herunterkam, sich an den Tisch setzte, seine Brille zurechtrückte und das Mäpplein aufmachte, da schlug dem Fritz gewaltig das Herz, denn vor so einem, der so Schönes machte, konnten ja unmöglich seine kleinen Schmierereien bestehen. Alois Prentl sagte auch recht wenig; nur dann und wann beim Durchblättern fragte er: »Hast du das ganz allein gemacht? Hat dir niemand geholfen?«

Als er ihm das Büchlein und die Mappe wieder zurückgab, sagte er nur: »'s ist recht; aber laß dir's nur ja net einfall'n, a Maler werd'n zu woll'n. Hundertweis streichen's hier in der Gegend rum, und alle miteinander sehen's aus, als ob sie geradezu verhungern wollt'n!«

Nach Hause gekommen, erzählte Fritz dies dem Reisekameraden, und der meinte: »So ganz schlimm mag's wohl nicht sein, und ein paar ganz große Maler, denen's gut geht, gibt's schon noch. Aber recht hat der Prentl im ganzen doch! Wenigen gelingt's, und was deine Großmutter von ihrem Mann erzählt, klingt auch nicht gerade ermutigend.«

»Und doch möchte ich auch einmal einer werden!« sagte Fritz zum ersten Male auf das bestimmteste. »Aber am liebsten so einer wie der Herr Prentl, das gefällt mir! Und wenn ich was kann, dann mal' ich ein schönes, großes Gedenktaferl für meine Eltern.«

Zwei Postkarten mit Ansichten von Bergwies hatte die Großmutter schon erhalten, und das Lenerl und die Miezel stritten sich darum für ihre Sammlung. Vorerst wollten sie die hübschen Bildchen in ihren Klassen zeigen und dabei sagen: »Das ist unsre Heimat,– da, wo's so prächtig ist, da sind wir her!« –

Neujahr war vorüber, und die Ferienzeit nahm rasch ein Ende. Morgen erwartete man die Reisenden zurück. Und nun – es war nach dem Frühstück – hielt die Großmutter einen Brief in der Hand, diesmal nicht von der Nandl geschrieben, sondern von dem Herrn Bürgermeister selber. Und in dem Brief auf großem Format stand geschrieben:

Liebe Frau Friedemann!

Ich ergreife die Feder, um Ihnen etwas Wichtiges zu schreiben. Wohl haben Sie damals, als meine Frau und ich gerne die Miezel behalten hätten, indem daß wir keine eigenen Kinder haben, uns gesagt, daß Sie keins von den Enkeln hergeben wollen, und man holt sich nicht gern zum zweiten Male einen Korb. Aber der Herr Bland meint, das, was ich schreiben will, sei doch etwas ganz anderes als damals. Und da wir den Fritz gern haben und er hier ganz rote Backen bekommt und selber sagt, daß er so viel lieber auf dem Land sei als in der Stadt, und weil der Lehrer sagt, daß die Schule hier nicht schlechter sei als die, in welche der Fritz geht, so möchte ich anfragen, ob Sie uns den Buben nicht hierlassen wollen. Aber wegen noch etwas ist es, was ich auch als Vorschlag schreibe. Herr Dekorationsmaler Alois Prentl hier, der die Bilder von dem Fritz sich angeschaut hat, sagt, aus dem Buben könnte er etwas Rechtes machen. Und weil der Fritz den ganzen Tag drüben in der Werkstatt steckt und von gar nichts anderem mehr redet als vom Zeichnen und Malen, so hab' ich halt gedacht, ob er nicht könnte hier nach der Schule in die Lehre gehen und später sein Brot mit dem Handwerk verdienen. Wenn er dann auch noch Gedenktafeln wie der Alois malen lernt, so wäre das ja auch ganz recht. Im übrigen aber bin auch ich immer mehr für das Handwerk als für die Kunst. Läßt sich beides aber vereinigen, so ist's ja recht.

Werte Frau Friedemann! Die Nandl und ich sehen nun Ihrer umgehenden Antwort entgegen, damit man den Buben nicht umsonst die weite Reise machen läßt. Daß wir einen braven, gottesfürchtigen Menschen aus ihm machen wollen, versteht sich von selber.

Achtungsvollst
Ihr ergebener
Christoph Hinterhuber, Bürgermeister in Bergwies.

Diesem Brief lag noch ein Zettel bei von Herrn Bland, auf dem stand: Ich kann nur sagen, daß es hier einfach herrlich ist, und daß ich mir nichts Besseres für meinen kleinen Freund wünschen könnte. Nicht nur die Gegend, sondern auch die Menschen sind frisch und echt. Wenn's Ihnen auch schwer fällt, ich tät' doch ja sagen! Selbstverständlich weiß der Bub noch von nichts.

Erich Bland.

Außerdem kam mit derselben Post eine Karte von Fritz, in der er in den begeistertsten Worten von allem in Bergwies sprach und sich ganz unglücklich darüber äußerte, daß es nun so bald wieder fortgehen heiße.

Was war da zu machen? Immer wieder las die Großmutter alles durch, immer wieder klang's in ihrem Herzen: Beisammen bleiben! Und nun sollte es ein Auseinandergehen geben? Und doch, und doch brachte dieser Vorschlag, so unerwartet er kam, wiederum eine Lösung für so vieles, was der Großmutter Herz bedrückte. Freilich bedeutete es, wenn sie ja sagte, ein völliges Hergeben des Enkels. Aber war er nicht dort unter guter männlicher Aufsicht, die hier doch oft recht fehlte? Und auch für sein weiteres Fortkommen eröffnete sich schon ein Weg.

Fräulein Bland war nicht zu Hause, aber die Jule, die eben geschwind herüberkam, um das Sonntagsblättchen zu bringen, die war, als sie erfahren hatte, worum es sich handle, sofort für die Sache.

»Frau Friedemann, das ist vom lieben Gott, der da einen Ausweg schickt. Das Büble wird uns freilich arg fehlen, aber da darf man jetzt nicht daran denken, sondern daran, ob's zu seinem Besten ist. Und der Brief gefällt mir, und die Frau Nandl, die immer so getreulich der Kinderlein gedachte und ihnen so gute Sachen schickte, gefiel mir überhaupt schon lange. Ich tät's – ich tät's! Und nebenbei wär's doch auch eine Erleichterung, wenn Sie nur noch für zwei zu kochen hätten anstatt für vier; denn der Bub hat, solange er gesund war, einen doppelten Hunger gehabt. Und die Sorgen mit dem Lernen sind Sie dann auch los. Ich sag' noch einmal: Das ist eine Hilfe von unserem Herrgott!«

Eine Hilfe vom lieben Gott! Frischweg freudig konnte Frau Friedemann es vorerst noch nicht auffassen. Wer als Fräulein Bland auch aufs entschiedenste dafür war, da setzte sie sich eben in Gottes Namen hin und schrieb dem Ehepaar Hinterhuber, daß sie ja sage und ihr so herzliches Anerbieten annehmen wolle, aber leicht falle es ihr nicht, das könne man ihr nicht übelnehmen. Und daß alles gar so schnell gehe und sie nicht einmal Abschied von ihrem Buben nehmen könne, das falle ihr sehr schwer, und sie bitte herzlich darum, man möge ihr doch künftig so oft wie möglich Nachricht geben, wie es gehe. Und was die Zukunft anbetreffe, so stehe ihr selber die Kunst natürlich höher als das Handwerk, schon wegen des Andenkens an ihren seligen Mann. Aber sie sehe ein, daß letzteres eher einen goldenen Boden habe, und so wolle sie eben der Sache ihren Lauf lassen. Nur nicht ganz fremd solle ihr der Fritzel werden. Das könnte sie nicht ertragen!

So war der entscheidende Brief abgegangen, und drei Tage darauf brachte Erich Bland einen solchen von Fritz, der so glückselig und jubelnd klang, daß der Großmutter darüber das Herz wehtat. Sie sagte: »Der infame Schlingel!« Aber Fräulein Bland tröstete: »So sind Kinder – scheinbar undankbar, und doch beweist gerade der Fritzel am meisten, wie tief und warm er die Seinigen in Erinnerung behalten kann.«

Das Lenerl und die Miezel hatten geradezu hinausgeschrien, als die Großmutter ihnen sagen mußte, der Bruder kehre gar nicht mehr zurück. »Das kann doch nicht sein! Der muß doch wieder hierher in die Schule! Der gehört doch zu uns!«

Dies Wort traf die Großmutter am tiefsten, aber sie erklärte nun den Kindern alles, wie und warum es so gekommen. Wenn auch Miezel, die sich doch immer mit dem Bruder gestritten, bitterlich zu weinen anfing und das Lenerl hinausging, weil es nicht zeigen wollte, daß auch ihm die Tränen kamen, so trösteten sich die beiden Schwestern doch bald, und der Kartenwechsel, der sofort zwischen den Geschwistern eintrat, entschädigte sie für vieles.


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