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Drittes Kapitel

Warum Fritz den Bürgersteig haßt und den Kindern das Wasser im Munde zusammenläuft. – »Du, hast kein Zuckerl für uns?« – Wie es kam, daß die Kinder die Jule trotz ihres Höckers schön finden, und warum Frau Friedemann schreien muß. – Was Fräulein Bland vom Theater zu sagen weiß. – Von Schattenbildern und Fingerknacksenlassen und vom Beten vor dem Einschlafen.

Fräulein Bland – wenn sie die nicht gehabt hätten, dann wären die Bergkinder wohl bald recht trübselig geworden. Aber so wehte immer wieder ein frischer Wind in die Stube. Und in der Schule, da war's ja so weit schon recht. Da gab's ja auch manches Nette und neben dem Lernen manch lustige »Gaude«. An vieles in der Stadt hatten sich die Kleinen jetzt schon gewöhnt, aber eins konnten sie immer noch nicht begreifen und verschmerzen, daß man hier nicht wie daheim alleweil nur so hinauslaufen konnte, wenn es einen gelüstete. Wohl war der große, weite Marktplatz nicht weit von ihrem Hause, aber da rasselten den ganzen Tag die Bierwagen, die Geschäftsautos, die Postwagen, die Hotelomnibusse und sonst noch allerlei Fuhrwerke über das Pflaster, und überall waren Verkaufsstände, Gemüse- und Obstfrauen, fliegende Händler und eingesessene Budenbesitzer, die den Kinderlärm nicht mochten und die Spielenden fortwiesen, wenn sie um ihre Stände herum lärmten. Immerhin konnte die Großmutter nicht verbieten, daß nach der Nachmittagsschule die drei hinuntergingen. Sie hatten aber den strengen Befehl, auf dem Bürgersteig zu bleiben und sich ja nicht unter die wilden Gassenkinder, die die Großmutter gar nicht liebte, zu mischen. Der Spielraum war klein und eng für die an Freiheit gewöhnten Kinder, besonders der kleinen Miezel fiel es schwer, die gegebene Grenze einzuhalten, und immer wieder hüpfte sie nur schnell und geschwind über den Bürgersteig hinunter und wieder herauf: gar zu gern übertrat sie ein wenig die erlassenen Verbote. Lenerl und Fritz unterhielten sich, indem sie die Schaufenster ansahen und sich dabei ausdachten, was sie kaufen würden, wenn sie einkaufen könnten. Ein Laden mit Spielsachen, vor allem mit Puppen und Soldaten, war eine nie zu erschöpfende Quelle des Interesses. Dann kam ein Hutladen: der wurde meist als »fad« übergangen, ebenso ein Wolleladen. Dann aber unten, im eigenen Haus, da war etwas, was man nie genug betrachten konnte. Es war ein Zuckerbäckerladen, hinter dessen Schaufenster die herrlichsten, leckersten Dinge lagen. Da gab es ganze Reihen Schokoladewürste und -Brezeln, ganze Berge von Eiszucker und Honigbonbons, ganze Ketten von Zuckerringelchen und Marzipanwürfelchen, die von oben herabhingen. Das schönste aber war doch, daß man durch die großen, hohen Scheiben so bequem ins Innere des Ladens sehen konnte, wo die Frau Lederer, die Besitzerin des Hauses, die im ersten Stock wohnte, die herrlichen Dinge abwog und für die Käufer in feine Tüten verpackte. Da lief einem vom Zuschauen das Wasser im Munde zusammen! Aber noch etwas anderes interessierte die Kinder sehr. An einem Seitentischchen in einer Nische, da saß Tag um Tag ein Mädchen mit weißer Schürze und weißen Überärmeln. Die hatte die Aufgabe, kleine, feine Sächelchen – Früchte, bunte Zuckerstückchen und mit Silber- und Goldpapier umwickelte Schokolädchen – in niedliche Schachteln und Körbchen zu legen. Sie arbeitete für den Versand, wickelte das, was sie geordnet hatte, in schöne weiße Papiere, band farbige Seidenbändchen herum und legte dann diese Päckchen in eine neben ihr stehende Kiste, die, wenn sie voll war, von dem Lehrling jeweilig auf die Post gebracht wurde. Mußte das eine lustige Arbeit sein! Das Fräulein war fleißig und sah kaum einmal in die Höhe. Es wäre ihr dies auch schwer gefallen, denn sie war ganz verwachsen, und der Kopf saß ihr zwischen den Schultern. Sie hatte eine große Nase und einen vorstehenden Mund, aber schöne, blonde Haare, und ihre Augen blickten gütig. Das hatten die Kinder vor ein paar Tagen bemerkt, als das Fräulein ihre plattgedrückten Gesichtchen an der Fensterscheibe vom Laden aus entdeckte. Sie hatte ihnen freundlich zugenickt, dann aber weitergearbeitet. Eine Stunde nachher hatten sie das Fräulein im Hauseingang getroffen, wie sie sich eben nach rückwärts wandte, um in das Hinterhaus im Hofe zu gehen. Wieder nickte sie ihnen zu, und Fritz hatte den Mut gefaßt und ihr aus einiger Entfernung noch keck nachgerufen: »Du, hast kein Zuckerl für uns?«

Sie mochte es wohl nicht mehr gehört haben, und als die Kinder von der Begegnung oben erzählten, schalt die Großmutter und sagte: »Das ist die Jule vom Hinterhaus, die so fleißig für ihren armen, alten Vater, der alleweil liegen muß, arbeitet. Laßt's euch aber nicht wieder einfallen zu betteln! Das tut man nicht, das ist eine Schande!«

Fritz verzog den Mund; er hatte sich schon im stillen ausgedacht, sehr bald bis zu dieser Jule im Hinterhaus vorzudringen und mit ihr Freundschaft zu schließen. So aber wäre das ja nutzlos. Nun, zusehen konnte man doch immer, das war ja nicht verboten. Einmal war auch – o Wonne! – die Jule, nachdem sie die Kinder bemerkt hatte, rasch aufgestanden, herausgekommen und hatte schnell jedem der Kinder ein wunderschönes rotes Zuckerstück in den Mund geschoben und gesagt: »Da! Damit ihr nicht immer so leer schlucken müßt.«

Ebenso rasch war sie wieder drinnen und an ihrem Platz. Kurz darauf war Mittagspause, und die Jule traf die eifrig lutschenden Kinder noch unten an der Treppe. »Hat's geschmeckt?« fragte sie freundlich. Und die Kinder nickten, denn sie hatten den Mund voll. Die Miezel nahm deshalb geschwind ihr Zuckerl heraus, und mit ihrem Ärmlein die Geberin umschlingend, sagte sie: »Brav bist!«

Da ging ein Leuchten über das unschöne Gesicht, und die Jule sagte: »Gelt, ihr wohnt im dritten Stock bei der Frau Friedemann und seid am Ende gar die Enkelein, die von so weit hergekommen sind?«

Da nickten die Kinder, und Lenerl sagte stolz: »Fast einen Tag lang sind wir auf der Eisenbahn g'fahr'n, – ganz allein!«

»Weil unsere Eltern abig'fall'n sind«, fügte Miezel pflichtschuldigst hinzu.

Da beugte sich die kleine, verwachsene Person zu dem Kind hernieder, nahm es in den Arm und sagte, indem sie auch die andern dabei liebreich ansah: »Arme Kinderle, habt schon so was Trauriges erlebt!« Dann aber stand sie rasch auf. »Muß zu meinem Vater gehen und ihm seine Suppe richten. Aber wenn's euch recht ist, dann wollen wir gute Freunde miteinander sein!« Freundlich nickend ging sie davon.

Das war ein Ereignis! Die Jule, die Zuckerjule, die in dem schönen Laden drin bei all den Herrlichkeiten ihnen ordentlich als etwas Höheres erschienen war, hatte gesagt, sie wolle ihre Freundin sein, und die Kinder überpurzelten sich fast die Treppe hinauf, um diese wunderbar schöne Nachricht der Großmutter zu überbringen.

Noch viel eifriger guckten die drei in den nächsten Tagen in den Laden hinein, aber so sehr sie sich die Nasen platt drückten, keine Jule war mehr zu sehen. Weg waren all die niedlichen Körbchen, die Schachteln und die Kiste. In den Erker hatte man ein Marmortischchen gestellt, und auf kleinen, runden Stühlen saßen fremde Menschen und tranken Schokolade.

»Großmutterl, jetzt ist sie nimmer da und hat doch versprochen, sie wolle unsere Freundin sein!« klagte das Lenerl, und auch die beiden andern standen ganz traurig dabei.

Da konnte die Großmutter aber berichten, daß die Fräulein Jule ihr heute früh begegnet sei und ihr erzählt habe, daß sie künftig ihre Arbeit drüben in ihrer Stube verrichten müsse. Der Platz unten im Laden sei zu kostbar, habe sie gesagt, und da der Herr Lederer wisse, daß es bei ihr drüben reinlich zugehe, so arbeite sie nun daheim.

Das wollte den Kindern nun gar nicht gefallen, und am Nachmittag, als die Großmutter vor der Probe noch bei ihnen saß und sie gemeinschaftlich Kaffee tranken, wurde von neuem über diese betrübende Tatsache gesprochen, und die Miezel sagte: »Wann's nimmer da is, na kann's uns auch nichts mehr schenk'n!«

Da klopfte es an die Türe, und beim »Herein!« trat Fräulein Jule über die Schwelle. Etwas schüchtern und umständlich, denn das lag in ihrer Art, entschuldigte sie sich, daß sie störe. Beim Packen komme es doch so dann und wann einmal vor, daß eines der seinen Bonbons zerbreche. Sie seien gewiß gerade noch so gut wie die ganzen, beeilte sie sich hinzuzusetzen. Aber da sie selber das süße Zeug nicht möge, so habe sie gedacht, sie dürfe vielleicht den Kindern etwas davon bringen. Damit stellte sie einen kleinen Papierteller mit, trotz kleinen Sprüngen und Fehlern, noch äußerst lecker aussehenden Bonbons auf den Tisch.

»Brav bist!« sagte die Miezel von neuem und steckte einen großen rosa Stern in das Mäulchen, Fritz nahm eine Quittenwurst, Lenerl ein kleines Marzipanherz. Die Großmutter bedankte sich sehr und bot Fräulein Jule einen Platz an. Dabei fragte sie, gleichfalls schüchtern, denn sie wußte nicht, was noch in der Kanne sei, ob sie ihr nicht eine Tasse Kaffee anbieten dürfe. Dafür dankte die Jule, sie habe drüben bei Vater schon getrunken. Aber ein bißchen dasitzen zu dürfen und die lieben, herzigen Kinderle anzusehen, das wäre ihr eine Freude.

Die Frauen sprachen nun allerlei miteinander, und Frau Friedemann äußerte dann bekümmert: »Das ist mir eben ein steter Jammer, daß ich die Kinder jeden Abend allein lassen muß. Sie sind zwar ziemlich lieb und versprechen mir, keine dummen Sachen zu machen, aber der Abend ist halt lang, und die Angst mit der Lampe – und das Wärmen der Milch – und daß sie allein ins Bett gehen müssen ...!«

Die Jule nickte verständnisvoll. Dann aber, schien ihr plötzlich ein Gedanke zu kommen: »Von sechs Uhr an habe ich Feierabend, und da ich jetzt den ganzen Tag bei Vater bin, entbehrt er mich leicht ein bißchen. Ach, wenn ich da manchmal ein Stündchen herüberkommen und bei den Kindern sein dürfte! Ich wüßte mir ja gar nichts Schöneres und Lieberes!«

Die Augen der kleinen Person leuchteten ordentlich, als sie dies sagte, und Frau Friedemann streckte ihr gerührt die Hand hin. »Wenn Sie das wollten, Fräulein Jule, ach, wenn Sie das wollten, das wäre mir eine große, große Erleichterung!«

»Ob ich's will! Ich habe Kinder so furchtbar gern. Und, Frau Friedemann, wenn Sie mich irgendwie einmal den Tag über brauchen können, – ich meine eben so, daß es Sie beruhigt, wenn jemand da ist, – so kann ich mein Geschäft auch hüben besorgen. Habe alles auf einem großen Brett. Muß hauptsächlich jetzt Bonbons einwickeln, und das ist so was Einfaches. Und Wasser zum Händewaschen gibt's ja auch bei Ihnen«, setzte sie lächelnd hinzu. »Das tue ich nämlich sehr oft wegen der Pünktlichkeit und Reinlichkeit.«

Die Kinder jubelten auf ob so einer herrlichen Aussicht. Nicht nur daß das freundliche Mädchen ihnen etwas so Gutes gebracht hatte, sondern es hatte nun auch noch versprochen, mit all den glänzenden und schönen Sachen zuweilen zu ihnen heraufzukommen.

Als die Jule sich verabschiedete, hängten sie sich an ihren Arm. »Gelt, du kimmst bald, – aber ganz gewiß bald!« sagte Fritz, und indem die Kinder sie hinabbegleiteten, plauderten sie mit ihr, als wäre sie eine alte Bekannte.

Frau Friedemann fiel am Anfang ihr neues Amt recht schwer. Schon das Hinunterklettern – es ging eine kleine, schmale Treppe hinab in den engen, finsteren Souffleurkasten – kostete keine kleine Überwindung. Klein und eng war's und dazu heiß und dumpfig, trotz der Winterkälte draußen. Und dann das Ungewohnte, bis sie die verschiedenen spielenden Herren und Damen kannte, bis sie sich mit ihren Stimmen vertraut machte, und bis diese sich an ihre Stimme gewöhnt hatten. Der Schein einer verborgenen kleinen Lampe fiel auf ihr Buch, und sie hatte, immer einen Satz voraus, das, was die Schauspieler sprechen oder die Sänger singen mußten, ihnen deutlich und verständlich vorzusprechen. Zu laut durfte es aber auch nicht sein, damit man es nicht im Zuschauerraum hörte, und leise und geflüstert auch wieder nicht. Ja, das mußte gelernt sein, und Frau Friedemann hatte manche ungute Bemerkung zu schlucken: »Deutlicher, – lauter!« – »Schreien Sie nicht so! – Leiser!« – »Bei mir schweigen Sie, ich kann das Soufflieren nicht ertragen!« – »Ich muß alles souffliert haben, sonst verliere ich den Faden!« – »Die Neue ist wirklich beschränkt und geht mir auf die Nerven!«

Solche und ähnliche Bemerkungen mußte Frau Friedemann über sich ergehen lassen, und es trieb ihr oft den Angstschweiß aus den Poren, wenn sie es trotz aller Mühe, die sie sich gab, so wenigen recht machen konnte. – Da war ihr einziges, daß sie sich immer wieder vorsagte: »Für die Kinder, – für die Kinder!«

»Großmutterl, warum bist du denn manchmal so traurig? Gar nicht mehr so heiter wie am Anfang?« hatte das Lenerl sie ein paarmal schon gefragt, und die Großmutter hatte geantwortet: »Kind, das verstehst du noch nicht.«

Da hatte aber das Lenerl, das durch all die Ereignisse über sein Alter hinaus gescheit war, mit seinem altklugen Gesichtchen gesagt: »Großmutterl, i versteh's schon, wenn du mir's ein bisserl erklären tust, was denn eigentli das Theater ist, und was sie da mach'n.«

Fräulein Bland war dazugekommen – es war an einem Sonntagabend gewesen, an dem sie nicht spielte, – und hatte versucht, dem Kinde und auch den mehr oder weniger aufmerksam zuhörenden anderen zu erklären, wohin die Großmutter alle Tage gehe, und was in einem Theater vor sich gehe.

»Das ist ein großes, schönes Haus«, sagte sie, »mit goldgemalten Wänden und roten Samtstühlen und vielen, vielen Lichtern. Da kommen abends Leute hin, die den Tag über sich recht müde gearbeitet haben, und denken: Jetzt möchte ich auch einmal für ein paar Stunden aus meinem Geschäft, aus meinem Büro, aus meiner Arbeitsstube heraus und etwas ganz anderes sehen und hören! Das ist genau so, als wenn ihr Kinder abends, wenn ihr eure Aufgaben gemacht und euch müde gesprungen habt, euch zu eurer Großmutter hindrängt, euch auf behagliche kleine Schemel und Stühlchen setzt und sagt: ›Großmutter, jetzt eine Geschichte! Großmutter, jetzt bitte ein Märchen!‹ Dort sitzen die großen Leute und warten. Und dann gibt's wieder solche, wie ich und die, die mit mir verbunden sind. Wir haben tüchtig gelernt, bis wir viele schöne Geschichten und Verse auswendig wissen. Und dann ziehen wir Märchenkleider an und treten auf die Bühne – so heißt man den großen Raum, wo wir uns bewegen, – und sprechen und spielen, tanzen und singen den Menschen etwas vor, das ihnen Freude macht. Da sollen die Ernsten einmal recht lachen und die Lachenden einmal ernst werden. Wir wollen auch, daß alle etwas lernen und erhoben und freudig dann nach Hause gehen.«

»Schön muß es sein!« sagte das Lenerl, das mit glänzenden Augen zugehört hatte, und atmete dabei tief auf.

»Aber 's Großmutterl, was tut denn dös dabei. – reden oder tanzen oder singen?«

Da mußten die beiden Frauen herzlich lachen, und Fräulein Bland sagte: »Eure Großmutter ist die wichtigste Person im ganzen Theater, das sag' ich ihr immer, weil unter uns manchmal welche sind, die ihre Aufgabe nicht gut gelernt haben. Darauf muß sie an einem stillen, verborgenen Plätzchen, wo niemand sie sieht, achten und aufpassen, und immer wieder denen nachhelfen, die sonst stecken bleiben würden.«

»Also einblasen?« fragte Fritz etwas zögernd, denn diese Rolle schien ihm nicht gerade die schönste zu sein. Aber Fräulein Bland sagte den Kindern, daß das etwas ganz anderes als in der Schule sei, und daß, wenn sie größer sein würden, sie auch einmal hinkommen und sich das alles ansehen dürften.

»Großmutterl, wann bin i groß?« fragte die Miezel, und alle drei Kinder redeten und besprachen miteinander, wann dieser Zeitpunkt wohl da sein werde.

Gleich am folgenden Abend, nachdem Jule ihr Versprechen gegeben hatte, rückte sie mit ihrem großen Holzbrett, das einen breiten Rand hatte, oben im dritten Stock an, wo die Kinder gerade mit ihren Aufgaben fertig waren und an dem runden Tisch unter der Lampe saßen und nicht recht wußten, was sie tun sollten. Jule stellte das Brett ab. Es war für ihren dünnen, schwachen Arm fast ein wenig zu schwer gewesen, und dann schüttelte sie einem jeden die Hand.

»So, da bin ich, und jetzt kann ich schon ein halbes Stündchen mit euch spielen, wenn ihr's haben wollt. Aber nachher muß ich noch schaffen.«

Was die Jule wohl zu spielen wußte? Erwartungsvoll sahen die Kinder sie an. War sie eigentlich jung, oder war sie alt? Das konnte man gar nicht recht herauskriegen. Sie hatte die Größe eines Kindes und die Kleider von einem Erwachsenen. Aber nette, lustige Sachen wußte die Jule. Da mußte man nur so in einem fort lachen und sich freuen. Aus den Schürzenzipfeln verfertigte sie zwei Hanswurste und ließ sie allerhand Verbeugungen und komische Bewegungen machen. Die Finger konnte sie knacksen lassen und die Ohren bewegen, und die Hände verschlang sie so kunstvoll, daß drüben an der Wand allerlei wunderbare Schattengebilde entstanden: Schwäne, Hirsche, Hunde. Vergeblich versuchten die Kinder es nachzuahmen. Dann aber sagte sie: »Kinder, jetzt muß ich schaffen!« Und sie nahm das Tuch von ihrem Brett hinweg. Ganze Berge von Gerstenzucker und Schokoladegebäck waren hier aufgespeichert, daneben lagen zugeschnittene Papierchen in Gold, Rot und Silber. Mit begehrlichen Augen schauten die Kinder auf die Herrlichkeiten, und Fritz rückte der Sache bedenklich nahe.

Da sagte Jule aber in ernstem Ton: »Jetzt will ich euch etwas sagen, Kinderle: wenn es euch recht ist, daß ich manchmal zu euch komme, so verspreche ich euch, daß ich jedesmal ein wenig Abfall von den guten Sachen mitbringe, dann müßt aber auch ihr mir versprechen, daß ihr euch nicht nach dem gelüsten lasset, was hier auf dem Brette liegt. Das ist für uns alle gar nichts zum Essen, sondern nur einfach Arbeitsmaterial, auch sind die Stücklein gezählt, und es darf mir keines fehlen, wenn ich sie abliefere. Gelt, Kinderle, ihr habt mich verstanden?« fügte sie herzlich hinzu, indem sie aus einer kleinen Tüte jedem der Kinder etliche Gutslein zuschob.

Nach dieser Rede ging Jule geschwind in die Küche hinaus und wusch ihre Hände. Sie tat dies gewiß im Tag zwanzigmal. Nachdem sie dann rasch die weiße Schürze und die weißen Ärmel angelegt hatte, machte sie sich an die Arbeit. Mit spitzen, geschickten Fingern ergriff sie ein Stückchen nach dem andern und wickelte es pünktlich und sauber in die glänzende Hülle, was sehr lustig anzusehen war. Dabei aber erzählte sie den Kindern allerlei Hübsches: wie in der Fabrik in großen Kesseln der Schokoladebrei gekocht würde, wie man auf Blechen in mächtigen Öfen die Tafeln trockne, wie eine Maschine die Stücklein in verschiedene Formen schneide und wieder eine andere sie mit allerhand Gutem – Mandeln, Likör, Creme – fülle. Sie erzählte auch, daß beim Verkauf, wenn man zum ersten Male helfe, die Herrin des Ladens sagte: »Eßt nur, soviel ihr wollt!«, daß man das aber bald bleiben lasse, denn das süße Zeug verleide einem nach kurzer Zeit.

»Mir tät es nie verleiden!« sagte Fritz, und Lenerl meinte: »Ich möcht einmal in solch einem Laden sein!« Die Miezel, die fast immer die letzten Worte ihrer Schwester wiederholte, sagte: »Ja, ich möchte auch in so einem Laden sein, und dann täte ich das ganze Brett und den ganzen Tisch und alle Teller leer essen an einem Tag!« Dabei klopfte sie sich auf ihren Magen und sah höchst behaglich aus.

Jule aber lachte und sagte: »Und tätest so furchtbar Leibweh kriegen, daß du am nächsten Tage hundert Tassen Kamillentee trinken müßtest, weil es dir so schlecht wäre!«

Als es halb acht Uhr war, hatte Jule den ganzen Berg aufgearbeitet. Schön nach Farben geordnet lag nun alles da. Sie deckte das Tuch wieder darüber und sagte dann: »So, Kinder, jetzt muß ich eigentlich hinüber zu meinem Vater, und ihr müßt ins Bett. Wenn es euch aber recht ist, so wärme ich noch geschwind vorher eure Milch und bleibe noch einen Augenblick da, bis ihr in die Federn geschlüpft seid.«

Das war zu nett, daß die Jule das tat, und die Kinder jubelten. Lenerl hatte immer ein wenig Angst gehabt, ob ihr die Milch nicht überlaufe, und nun tat es jemand für sie, und das war fein. Fritz und Miezel hatten immer noch lange allerhand Possen getrieben und waren nicht zu Bett gegangen, nun aber sagte die Jule: »Wer zuerst drin ist, hat es gewonnen!«

Und heidi! flogen die Röcklein und die Höslein herunter, und die Kleinen schlüpften unter ihre Decke, doch nicht eher, als bis ein jedes sich Gesicht und Hände gewaschen hatte.

»Das haben wir sonst nicht getan«, meinte Lenerl. Aber Jule stellte ihnen vor, daß das dann für morgen früh vorgeschafft sei, und das leuchtete ein. Noch etwas tat die Jule, was die Kinder auch nicht gewohnt waren – sie ließ sie ein Abendgebet sprechen.

»Was sagt ihr denn für gewöhnlich?« fragte sie, und als die Kinder verlegen meinten: »Daheim in Bergwies hat die Mutter uns manchmal das Vaterunser sagen lassen, aber nicht jeden Tag, weil sie oft wieder in den Laden hinunter mußte. Und Großmutter hat scheint's noch gar nicht daran gedacht!«

Die Jule sagte kopfschüttelnd: »Ja, Kinderle, man kann doch nicht gut einschlafen, wenn man sich nicht dem Schutze des lieben Gottes anempfohlen und ihm gedankt hat für das, was er den Tag über einem gegeben hat! Tut man's nicht, so wird er traurig und böse und sagt: So undankbare Kinder, die lasse ich morgen einmal hungern und frieren!«

Erstaunt hörten die Kinder zu, und als Jule schlicht und einfach sagte: »Lieber Gott, wir danken dir auch, daß wir heute so vergnügt und gesund haben sein dürfen, und gib, daß wir und unsere Großmutter gesund bleiben. Amen!« da hatten die drei in ihren Bettlein die Hände gefaltet und mit großen Augen zugehört.


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