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Beim Marterlmaler

Erstes Kapitel

»Sie kommen!« – »Gelt, Großmutterl, nicht auseinandergehen?« – Die Großmutter im Souffleurkasten. – Was sagt die Welt dazu?

»Also in Gottes Namen, 's ist jetzt Zeit, zur Bahn zu gehen! Nicht wahr, Sie sind so gut und sehen einmal nach dem Ofen, daß, wenn die Kinder kommen, es auch gewiß recht warm ist. Werden ohnedies durchfroren sein, die armen Tröpfle!«

Frau Friedemann, eine etwa fünfzigjährige Frau, sagte dies zu einer jungen Dame, der Mitbewohnerin in dem alten Hause am Marktplatz. Fräulein Bland, die eine beliebte Schauspielerin am Landestheater war, fühlte sich hingezogen zu ihrer Hausfrau. Sie hatten beide zwei Zimmer inne im dritten Stock. Bei ihr, die sich oft auch einsam fühlte, konnte sie ihr Herz ausschütten, wenn Arbeit und Beruf ihr Schweres brachten. Fräulein Bland hatte auch treuen Anteil genommen, als vor einem Vierteljahr Frau Friedemanns Gatte, ein Kunstmaler, nach langem, schwerem Leiden gestorben war. Und als nun vor kurzem erst die erschütternde Nachricht gekommen war, daß in Bayern, wo die einzige Tochter von Frau Friedemann verheiratet gewesen, diese und ihr Mann bei einer Bergpartie verunglückt waren, da hatte Fräulein Blands warmer, tröstlicher Zuspruch der armen Mutter sehr wohl getan. Frau Friedemann war damals sofort, nachdem ihr das Unglück mitgeteilt worden war, nach Bergwies, dem kleinen Städtchen im bayrischen Gebirge, zu den drei der Eltern so jäh beraubten Enkelkindern gereist. Es hatte eine lange Beratung gegeben, was mit diesen im Alter von vier bis sieben Jahren stehenden Kleinen anzufangen sei. Der Kaufladen, den Frau Friedemanns Schwiegersohn geführt hatte, war in letzter Zeit recht gut gegangen; aber Vermögen war noch nicht vorhanden, und die Großmutter brachte sich knapp selber durch. Pfleger und Vormund machten allerlei Vorschläge von Waisenhaus, Unterbringung durch die Zeitungen usw. Frau Nandl Hinterhuber, die Nachbarin und Bürgermeisterin, hätte schrecklich gern das Kleinste, das blondlockige Miezel, zu sich genommen, aber ihr Mann wollte vorerst nichts von einem fremden Kinde wissen. Auch ein Fleischer, der im Gemeinderat saß, erwog ernsthaft, ob ihm das siebenjährige Lenerl wohl durch Austragen der Waren schon so viel einbringen würde, daß er die Kosten der Ernährung und Kleidung an sie rücken könne. Für den sechsjährigen Fritz meldete sich vorderhand niemand.

Frau Friedemann blutete das Herz bei all diesen Vorschlägen. Und als sie nach der Verhandlung in das verwaiste Haus zurückkam und ihr die drei Kleinen entgegenliefen und weinend riefen: »Großmutterl, Großmutterl, gelt, du leidest nicht, daß man uns auseinanderreißt? die Wirtshausmarie sagt, das tue man ganz gewiß!« da war plötzlich ein fester Entschluß über sie gekommen.

»Nein, Kinderle, nein, ich leid's nicht! Die Männer, die eure armen Eltern gefunden haben, haben ja gehört, daß euer Mutterle sterbend noch gesagt hat: ›Die Großmutter wird sorgen!‹ So will ich's auch tun. Zu mir gehört ihr, und zu mir sollt ihr kommen. Und wenn ich jetzt auch noch gar nicht weiß, wovon wir miteinander leben sollen, so wird der liebe Gott mir schon einen Gedanken dazu geben. Gesund und frisch bin ich ja auch noch, irgendeine Arbeit wird sich finden, und jedenfalls muß es einmal versucht werden.«

So sagte sie andern Tages auch zu den Herren auf dem Rathaus, und diese waren froh, die Frage auf solche Weise erledigt zu sehen. »Eine Großmutter ist halt eine Großmutter, und wenn das Geschäft verkauft und alles beglichen ist, wird schon noch ein kleines Sümmchen für die Kinder herausschauen«, meinten sie.

Und so war's auch. Frau Friedemann mußte nach ein paar Tagen wieder heimreisen, weil Fräulein Bland ihr schrieb, sie glaube einen Beruf für sie gefunden zu haben, sie müsse sich aber gleich dazu melden. Bekannte und Freunde von dem verstorbenen Ehepaar nahmen die Kinder auf, bis alles Geschäftliche sich erledigte, und nun war heute der Tag, wo Frau Friedemann ihre drei Enkelein erwartete, und um sie abzuholen, eilte sie jetzt zur Bahn. Vorher aber warf sie noch rasch einen Blick in das Nebenzimmer, wo je ein Bett, sauber und behaglich anzuschauen, oben und unten herüber dicht neben dem ihren stand. Es waren die von den Eltern, die mit etlichem anderem Hausrat bereits vor einigen Tagen angekommen waren. Auch die Spielsachen der Kinder waren darunter, die sollten sie bei ihrer Ankunft vorfinden. Das Lenerl, die Älteste, sollte in Zukunft auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Eng und klein war alles beieinander, aber doch nett eingeschachtelt, und machte einen heimeligen Eindruck.

Als Frau Friedemann gegangen war, eilte Fräulein Bland rasch in ihre Wohnung hinüber und holte einen Kuchen. Sie stellte ihn auf den Tisch, wo drei Kinderschüsselchen standen, und in dem Ofen harrte ein guter, warmer Kakao der Ankömmlinge.

Die drei Kleinen reisten allein; dem Lenerl hatte man alles schriftlich mitgegeben, was unterwegs dienlich sein konnte. Sie verwahrte auch ängstlich die Fahrkarten und den Gepäckschein in einer kleinen Tasche, die man ihr fest umgebunden hatte. Erst nachdem diese abgegeben, begrüßte sie die Großmutter, die inzwischen die zwei Kleinen in Empfang nahm, sie in dem Gedränge fest an der Hand hielt und ihre kalten Händchen in den ihrigen wärmte.

»Habt ihr gefroren unterwegs? Ist die Fahrt recht lang gewesen?«

Nachdem ein Gepäckträger den bescheidenen Koffer der Kinder übernommen hatte und von Frau Friedemann aus ihrem bescheidenen Beutelchen entlohnt worden war, setzte sich die Großmutter mit ihren Enkelkindern in die Straßenbahn, denn es war schon dunkel und ziemlich weit bis zu ihrer Wohnung. Die drei sagten noch nicht viel, denn es war alles so überwältigend: das Fahren, die vielen Lichter, das Getriebe auf den Straßen. Erst als sie oben in dem durch eine Lampe freundlich erhellten großmütterlichen Zimmer ankamen und aus ihren verschiedenen Hüllen gewickelt worden waren, lösten sich die Zungen, und sie fingen an zu erzählen.

»Ganz dunkel ist's noch g'wes'n, wie wir auf d'Bahn g'fahr'n sind«, sagte Fritz, der dunkeläugige Bub.

»Aber die Nandl hat uns noch Milch warm g'macht und Kuchen gegeb'n, und uns noch warm eing'wickelt«, sagte die Miezel.

Und das Lenerl berichtete altklug, daß die Nandl auch vorerst den Kaufladen übernommen und jedem von ihnen noch eine Tüte voll Zuckerkandel und Süßholz mitgegeben habe, »daß wir auch noch was von daheim hätten, hat's g'sagt.«

Der Großmutter und Fräulein Bland traten die Tränen in die Augen, und die Großmutter schloß nun jetzt erst so recht die Kinder an ihr Herz, und die Kleinen drängten sich an sie. Dann aber ward tapfer dem warmen Tranke zugesprochen und große Stücke von dem Kuchen verzehrt. Ein Jubel entstand, als die Kinder in einer Ecke des Wohnzimmers ihre Spielsachen entdeckten: Fritzels Pferd und den kleinen Mädchen-Puppenwagen mit Insassen. Und in Großmutters unterstem Schrankfach waren noch andere kleine Schätze der Kinder untergebracht.

Als kurz darauf die müden Kinder gewaschen und ausgezogen in ihren Betten lagen, da meinte der Fritz bereits: »Großmutter, bei dir g'fallt's mir!«

Das Lenerl aber sah immerhin etwas sorglich drein. Über ihr junges Herz war in der letzten Zeit so viel gegangen, daß es sich noch nicht so recht freuen konnte, wenn auch immerhin ein Gefühl des Geborgenseins schon über sie kam.

Für Großmutter aber war dieser Abend noch besonders wichtig. Spät, recht spät, erst nach Schluß des Theaters, wo sie zu spielen hatte, war Fräulein Bland noch einmal zu ihr gekommen und die beiden Frauen hatten eine bedeutsame Unterredung. Frau Friedemann war damals die freigewordene Stelle einer Souffleuse angetragen worden, und heute sollte sie sich entschließen, ob sie sie annehmen wolle oder nicht. Fräulein Blands Fürsprache allein verdankte sie es, daß dieser Antrag an sie kam, denn gewöhnlich wurden nur ältere, verdienstvolle Schauspielerinnen dazu verwendet. Frau Friedemann hatte, was die erste Bedingung war, eine klare, wohllautende Stimme, eine deutliche Aussprache sowie ein feines Verständnis für Literatur. Früher als junge Frau hatte sie wohl manchmal zum Vergnügen mit Freunden und Freundinnen kleine Stücke mit verteilten Rollen gelesen und aufgeführt und Beifall dabei geerntet. Aber trotzdem war ihr das Herz schwer, und sie hegte große Bedenken, denn das Theater stand ihr doch recht fern, und sie hatte seither in einem ganz anderen Kreise gelebt. Schüchtern und etwas ängstlich machte sie dies wiederholt bei Fräulein Bland geltend. Das feinfühlende Mädchen verstand sie, und noch einmal erwogen die beiden andere Pläne und Möglichkeiten des Erwerbs, denn verdient mußte werden, soviel als irgend möglich, zumal jetzt, wo diese vielköpfige Familie zu erhalten war. Aber was konnte eine fünfzigjährige Frau tun? Zum Bügeln waren ihre Füße zu schwach, das Nähen wurde zu schlecht bezahlt, und für Laden- und Kontorarbeit brauchte man junge Leute. Kinderfrau zu werden, hätte Frau Friedemann am meisten zugesagt; aber das war nun auch unmöglich geworden, und so mußte sie es als großen Glücksfall ansehen, daß ihr hier eine feste Stellung geboten wurde mit einer wenn auch sehr bescheidenen, doch sicheren Einnahme. Seufzend mußte sie dies zugeben.

Da aber sagte Fräulein Bland entschlossen: »Friedemännchen, jetzt passen Sie einmal auf! Wohl ist das, was künftig Ihr Beruf sein soll, etwas Absonderliches, und manche Ihrer seitherigen Bekannten werden die Nase darüber rümpfen. Aber ich sehe die Sache anders an. Ich behaupte, eine gute Souffleuse ist die Hauptperson, und von ihr hängen sämtliche guten Aufführungen ab; denn wenn sie ihre Pflicht nicht richtig erfaßt hat, so geht alles schief. Und dann, ist es nicht auch schön, in jedes Wort unserer großen Dichter verständnisvoll einzudringen? Denn das müssen Sie! Ist es nicht schön, denen, die die Gestalten der Dichtungen verkörpern sollen, das Schwerste abzunehmen, damit sie leicht und beschwingt vortragen können? Sie sind die Stütze der etwa Wankenden, durch Ihre Hilfe werden talentvolle Anfänger sicher gemacht und Ihre Sicherheit teilt sich dem Ganzen mit.«

Fräulein Bland hatte sich ordentlich in Eifer geredet, und Frau Friedemanns Bedenken waren nun überwunden.

»Sie wissen einem die Sache wahrhaftig so schön darzustellen, daß man glauben muß, was Sie sagen. Und nun schreiben Sie also in Gottes Namen den Herren, daß ich dankbar sei und die freie Stelle nächsten Monat übernehmen werde. Aber das sage ich Ihnen: raten und beistehen müssen Sie mir am Anfang. Und wenn ich meine Sache nicht gut mache und die ganze Geschichte dann wackelt, so sind Sie auch ein bißchen mit schuld, – Sie liebe, gute Helferin und Vermittlerin!«

Ein paar Tage nachher hatte Frau Friedemann noch einmal einen schweren Kampf zu bestehen. Da waren ein paar ihrer Freundinnen – Beamten- und Bürgersfrauen – bei ihr gewesen zu einem einfachen Kaffee. Sie wollten sich die Enkelein ansehen, wie sie sagten, und hatten auch wirklich warmes Interesse für die vom Schicksal so schwer Heimgesuchten. Alle freuten sich über die herzigen Kinder, über die frischen Antworten, die sie gaben, über die bayrische Mundart, die sie sprachen, und da die meisten selber Kinder oder Enkel hatten, so wußten sie auch gute Ratschläge zu geben wegen der Schule. Als aber etliche meinten, die herzigen »Mäderl« müßte man doch in eine feinere Schule schicken, es sei in der jetzigen Zeit halt doch recht wichtig, daß auch Mädchen viel lernten, da mußte Frau Friedemann gestehen, daß das über ihre Mittel ginge, daß sie vorerst die Absicht habe, das Lenerl und den Fritz in die Volksschule zu schicken, die Miezel aber in einen Kindergarten. Denn jetzt müsse sie ihnen doch mitteilen, daß sie vom nächsten Monat an einen Beruf ergreifen werde, der es ihr überhaupt möglich mache, die Kinder bei sich zu behalten. Und mit etwas stockender Stimme trug Frau Friedemann den Freundinnen ihren Entschluß vor.

Da ging's aber nun gerade so, wie Frau Friedemann es im voraus geahnt hatte. Einige der Freundinnen riefen sofort: »Das wirst du doch nicht tun! Das ist ja unter deiner Würde!«

Eine der Frauen sagte: »Ja, wenn's wenigstens eine Stellung auf der Bühne wäre. Aber da drunten in dem Kästchen zu sitzen, das ist doch einfach undenkbar.« Und in diesem Sinne ging es weiter. Als aber Frau Friedemann sehr ernst ihnen auseinandersetzte, wie sie einfach gezwungen sei, ihr Brot zu verdienen, da verstummten, wenn auch gar nicht befriedigt, die meisten.

Eine der älteren aber, eine Lehrersfrau, die gab Frau Friedemann die Hand und sagte: »Recht hast du, und richtig ist's, wenn du's tust! Jede Arbeit kann durch die Persönlichkeit geadelt werden, und wir alle müssen die größte Achtung vor dir haben.«

Wenn auch Frau Friedemann nicht ganz hiervon überzeugt war, so tat ihr doch dieser Ausspruch tief im Innersten wohl, und auch die andern überwanden sich nun so weit, daß sie sie ihrer fortdauernden Freundschaft versicherten.


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