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Estancia Schwaben. – Jocko hat seinen bösen Tag, und Onkel Joseph wird ungeduldig. – Von zwei amerikanischen Schwestern. – Hilflos im neuen Erdteil. – Wie Kathrine reiten muß und Mariele sich müde schreit. – Die weite Pampa. – Wo ist denn die Hanne?
Weit, weit im fernen Westen von Südamerika, da, wo der Rio Negro – der Rhein von Argentinien – breit und mächtig dahinfließt, auf unermeßlich sich ausdehnendem Steppenland liegt eine ansehnliche Besitzung, eine Estancia, wie sie auf Spanisch heißt. Es war etwa vierzehn Tage später, nachdem der Brief unserer Auswanderer nach der schwäbischen Heimat abgegangen war, und der Berechnung der dortigen Bewohner nach mußten sie jetzt in Buenos-Aires, der Hauptstadt der großen Republik Argentinien, angekommen sein. Das Haus, in dem Vetter Joseph – José hier genannt – wohnte, hatte für europäische Augen ein sehr fremdländisches Aussehen. Ein langgestrecktes, niederes Parterre mit einem flachen Dach darüber, das war alles. Die Fenster waren klein und teilweise ohne Scheiben, die Türe niedrig und schmucklos. Nur etliche Bänke, rechts und links an der Hauswand angebracht, machten einen einigermaßen anheimelnden Eindruck. Die vier oder fünf Innenräume hatten nur aus Lehm gestampfte Böden, rohe Balkenwände und niedere Decken. Aber die Böden waren doch hie und da mit Teppichen und Fellen belegt, und im größten der Räume, der Wohnstube, standen überraschend schöne Möbel: ein Diwan mit hellem, wenn auch etwas schmutzigem Seidenstoff überzogen, ein Glasschrank mit allen möglichen Raritäten darin, und in der einen Ecke, querüber gestellt, befand sich sogar ein ganz moderner Flügel. Auch in den Schlafzimmern Don Josés und seiner Gemahlin Elvira sowie in dem ihrer zwei halberwachsenen Töchter Christina und Isabella waren elegante Pariser Betten mit bunten Seidendecken. Es gab auch Spiegel und Putztischchen mit allerlei Odeurs und Schminkgeräten. Aber die hübschen Sachen kamen nicht zur Geltung wegen der vielen herumliegenden Dinge und der Unordnung, die infolgedessen herrschte.
Neben dem Hause standen lange, schuppenartige Gebäude, Ställe für die Pferde, einzelne Kühe und Schweine. Hinter ihnen befand sich ein ziemlich großer Blumen- und Obstgarten mit etlichen Bäumen und Sträuchern. Hinter diesem, unvermittelt, dehnte sich die unermeßliche, mit hohem Riedgras bewachsene Pampa aus, nur hie und da von dunklem Buschwerk durchsetzt.
Onkel Joseph kam aus den Ställen, gefolgt von Christina und Isabella, zwei dunkeläugigen Mädchen von etwa zwölf und dreizehn Jahren. Neben Christina lief ein wolfsartiger Hund, den sie fest am Halsband hielt. Auf Isabellas Schultern saß ein halbgroßer Affe, der von Zeit zu Zeit Grimassen gegen den Hund schnitt oder auch einmal versuchte, mit der behaarten Hand Christina in die Haare zu fahren. Auf einen Schlag Isabellas hin zog er die Hand zurück, aber der Vater sagte im Weiterschreiten etwas ärgerlich: »Jocko scheint heute wieder seinen bösen Tag zu haben, nehmt euch in acht. Ich mag's überhaupt nicht, wenn du den Kerl so frei, ohne Kette auf der Schulter hast, Isabella!«
Diese antwortete nichts darauf, denn Jocko legte eben zärtlich seinen Kopf an ihre Wange, und sie flüsterte ihm allerlei Kosewörtlein zu.
Die drei gingen zu einer hügelförmigen Erhöhung unweit des Hauses, und Onkel Joseph zog aus seiner Rocktasche ein kleines Fernglas und setzte es an die Augen. »Nichts,« sagte er kurz und steckte das Glas wieder ein. Er ging zurück dem Hause zu, während die Mädchen, die Augen mit der Hand beschattend, noch immer hinaus in die Ferne blickten.
»Wirklich nichts,« sagte Christina. »Und wir haben ihnen doch die guten Pferde geschickt, – da hätten sie doch jetzt zum Mittagessen da sein müssen!«
»Ich kann's eigentlich erwarten,« sagte Isabella, die Ältere. »Wer weiß wie diese Cousine Hannele mit ihrer Mutter ist, und wie sie zu uns auf die Estancia passen! Nun, eins wird ja immerhin gut sein, daß sie arm sind und uns deshalb Arbeit abnehmen werden. Mutter sagt, sie habe sich nun jahrelang genug geschunden, nun sollen auch einmal andere arbeiten. Und von uns wird Vater jetzt hoffentlich auch weniger Hilfe verlangen, wenn die kleine Deutsche da ist!« …
Bei Tisch, wozu Donna Elvira, die Mutter, in einer vertragenen, hellgelben, mit Spitzen besetzten Jacke erschien, wurde das Gespräch in obigem Sinne fortgesetzt, bis der Vater, der in einer großen Zeitung gelesen hatte, diese plötzlich niederlegte und sagte: »Nun hört einmal auf mit eurem albernen Gerede! Ein für allemal laßt es euch gesagt sein, daß meine Verwandten allerdings zu unserer Hilfe herüberkommen – Mammina und ich haben uns redlich bemüht und möchten's nun gerne leichter haben! Ihr beiden aber seid noch jung und sollt nie die Idee aufkommen lassen, daß die Verwandten irgendwie zu eurer Hilfe und Bedienung da seien. Ich denke, die Älteste wird euch eine angenehme Gefährtin werden, – im übrigen wird sie genug zu tun haben, ihren Eltern den Anfang zu erleichtern! Was die zwei kleineren Kinder anbelangt, – ich weiß nicht genau, in welchem Alter sie sich befinden, – so könnt ihr eure Kurzweil mit ihnen haben, – so was hat euch doch bis jetzt immer gefehlt!«
»Eigentlich hat mir nie etwas gefehlt, wenn ich meine Pferde und meinen Jocko habe!« sagte Isabella und warf die Lippen auf, während Christina meinte: »Kleine Kinder sind etwas Nettes, nur dürfen sie nicht zu viel schreien und müssen parieren!«
Donna Elvira aber, nach Schluß des Essens gähnend und sich streckend, sagte beschwichtigend: »Erhitzt euch nicht! Die neuen Menschen werden eben genau so anfangen müssen wie wir einstens. Und solange wir ihnen dabei helfen, werden sie auch die Pflicht haben, uns wieder zu helfen, – das ist doch klar!« Damit holte sie aus einem kleinen Lederetui eine Zigarette hervor und zündete sie an einem auf dem Tisch stehenden brennenden Flämmchen an. Die drei Damen legten sich nach Tisch immer zur Siesta nieder.
Don José, der sonst auch gerne ein wenig nach den großen Ritten, die er meist des Morgens machte, rastete, fühlte heute dazu keine Ruhe in sich. Kaum hatte er eine Zigarre fertig geraucht, als er wieder aufstand und hinausging. Ein Weg, aber nur ein von vielen Pferdehufen ausgetretener, nicht künstlich gemachter, führte in der Richtung der nächsten Stadt, die etwa eine Tagereise weit entfernt war, und von dieser Richtung her erwartete er die Ankömmlige. Es war ihm heute so eigen zumute. Über zwanzig Jahre waren's schon her, daß ihm die argentinische Steppe zur zweiten Heimat geworden, mehr und mehr hatte er auch schon durch seine Heirat mit einer Spanierin die Art und Ansicht des Landes angenommen, nur selten noch drangen Nachrichten von drüben zu ihm herüber. Aber nun war's doch ein ganz eigenes Gefühl zu wissen, es kamen Leute, die er in seiner Jugend als Kinder gekannt, – Blutsverwandte von ihm, eine Tochter der Base Christine, bei deren Vater er einst in die Schule gegangen, und nach der er seine Jüngste genannt hatte, Menschen aus dem Dorf, wo er daheim war, wo er seine ersten Jugendjahre verlebt hatte. Und er sollte wieder heimische Laute hören, von alten Zeiten mit ihnen sprechen können! … Man wird hart, wenn man drüben jahrelang um sein Brot gerungen hat, und es bleibt nicht mehr viel Raum im Herzen für Gefühle und weiche Regungen. Aber ganz hinten, da regt sich doch zuweilen die Erinnerung an einst, und das machte, daß Don José heute von neuem Ausschau hielt und dann in den Stall ging, sich einen Gaul sattelte und aufs Geratewohl hinausritt zu einer etwaigen Begegnung der zu Erwartenden …
Das war keine gute Reise gewesen, die Philipp und Kathrine vollends hatten. Schlechtes Wetter und viel Sturm ließen sie beide aus der Seekrankheit nicht hinauskommen. Und als sie endlich im Hafen von Buenos-Aires festen Boden unter die Füße bekamen, da erschien dieser ihnen lange Zeit noch als gar nicht fest, sondern alles war noch wankend, der Kopf, die Glieder, der Magen. Und nun das ganz völlig Fremde, die andere Sprache, das andere Aussehen, das plötzliche Treiben und Gewoge einer überseeischen Stadt!
Und wo war der Abgesandte, den Onkel Joseph versprochen hatte zu schicken? In Hamburg war doch der Agent schon nach ein paar Minuten dagewesen. Aber hier standen sie nun, nachdem die langen Formalitäten des Ausschiffens erledigt waren, auf dem Trottoir einer breiten Straße, dicht am Ausschiffungsplatz und warteten und warteten. Wegen der vielen Pferde-, Ochsen- und anderen Fuhrwerke, der vielen Reiter und Autos hatten sie sich hier herüber geflüchtet und schauten jeden der braungebrannten Vorüberkommenden darum an, ob er sie wohl nicht anreden und begrüßen würde. Sie sahen sich auch die ländlichen Wagen an, die in Masse auf dem Platze hielten, denn in einem solchen würde wohl ihre Reise weiter vor sich gehen. Noch drei Tage und Nächte bis zur Estancia Neu-Württemberg von Don José Aldinger am Rio Negro, wie die Adresse lautete.
Ein ganz eigenartig aussehender, schwarzhaariger Mensch mit gelben Lederhosen und einem großen, schwarzen Filzhut, der, selbst reitend, noch zwei andere Pferde mit sich führte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Immer von neuem ritt er um den Platz herum und dann wieder an die Landungsstelle. Die Pferde fingen an, ungeduldig und wild zu werden.
»Da möcht' ich auch nicht droben sitzen,« sagte Kathrine, als eines derselben, ein Rappe, gar nicht weit von ihnen in die Höhe stieg, sich aber nach einem kräftigen Hieb des Führers bald wieder beruhigte. Plötzlich kam der Mann mit den Gäulen direkt auf sie zugeritten, und nachdem er die kleine Gruppe einen Augenblick mit scharfem Auge geprüft hatte, rief er mit fremdländischer Betonung: »Señor und Señora Werner? … Kommen aus Deutschland? … Aus Schwaben? … Wollen zu Caballero José Aldinger?«
Da riefen Philipp und Kathrine vereint mit lauter Stimme: »Freilich, freilich, das sind wir!« und Philipp zeigte seinen Paß und die Photographie des Onkel Josephs, wie es brieflich ausgemacht war, vor. Den Paß wies der Reiter mit einer verächtlichen Handbewegung zur Seite – es stellte sich später heraus, daß er nicht lesen konnte, – aber nach flüchtigem Ansehen der Photographie nickte er befriedigt, und dann sagte er in seinem mangelhaften Deutsch: »Bitte, Herrschaften, aufsteigen!«
Er begleitete seine Worte mit bezeichnenden Gebärden, Philipp und Kathrine sahen sich aber gegenseitig ganz erschreckt an. »Er wird doch nicht meinen, daß wir reiten sollen?« sagte Kathrine. Und Philipp versuchte nun auch mit Gebärden und Deuten auf etliche Wagen, die herumstanden, zu erfahren, wo denn der sei, mit dem sie zu reisen hätten.
Aber da schüttelte der Mann energisch mit dem Kopfe und sagte: »Nix coche, – nix Omnibus! In Pampa man nur kann reiten!«
Kathrine umklammerte Philipps Arm und sagte ganz entsetzt: »Das kann doch nicht im Ernst gemeint sein? Man wird doch nicht mir, die ich nie auf einem Gaul gesessen, zumuten, nur so ohne weiteres ins Land hineinzureiten? Und was soll denn mit den Kindern geschehen?«
Aber da hatte der Mann, der wohl ahnen mochte, um was es sich handle, auf eine Tasche, die auf der einen Seite des Pferdes angebracht war, gedeutet und gesagt: »Für Baby!«
Dann sah er sich um, und indem er die Finger zu Hilfe nahm, bedeutete er, es fehle ja noch ein Mensch. Drei Große und zwei Kleine müßten da sein.
Da fiel es Philipp von neuem schwer aufs Herz, daß er dem Onkel nicht noch extra vor der Abreise mitgeteilt hatte, daß das Hannele daheim bleibe, und er hielt gleichfalls etliche Finger in die Höhe und deutete auf sich und seine Frau: »Nur zwei Große und zwei Kleine!«
Nun drängte der Mann zum Aufsteigen und deutete nach dem Himmel, wo die Sonne nicht mehr hoch stand. Wahrscheinlich wollte er sagen, man dürfe sich nicht verspäten.
Philipp sagte nun, immerhin mit einigem Stolz: »Weib, 's ist nur gut, daß ich bei der Kavallerie gedient habe und reiten kann, und den Peterle werde ich vor mich auf den Sattel nehmen!«
Dazu nickte der Mann, der inzwischen abgestiegen war, befriedigt. Er hatte offenbar verstanden, was Philipp gesagt. Aber Kathrine! Sie mußte sich nun eben, so sehr sich auch alles vor Angst in ihr dagegen sträubte, von den beiden Männern in den Sattel heben lassen. Und auch noch vollends wie ein Mannsbild sollte sie droben sitzen! Das gehe nicht anders, bedeuteten die beiden. Und das Mariele, das vorher schon gar nicht von ihrem Arm herunter wollte, weil es sich vor all dem Fremden fürchtete, nahm der Mann nun eben rücksichtslos ihr ab und steckte es tief hinein in die Tasche, die er oben mit ledernen Schnürnesteln fest zuband. Ob das arme Kind schrie oder nicht, das war jetzt im Augenblick vollständig Nebensache. Auf jedes der Pferde rückwärts hinter dem Reiter oder vornherüber, wie es gerade paßte, wurde noch das Gepäck aufgeladen. Diese Rollen und Päcke gaben Kathrine aber immerhin ein etwas festeres Gefühl. Dann nahmen die beiden Männer sie in die Mitte, – jeder von ihnen hatte zu seinem Zügel ein Stück Leine von Kathrinens Pferd in der Hand, und nun ging es in Gottes Namen vorwärts.
Ob auch Kathrine zu Anfang um die Wette mit Mariele bei jedem Puff auf dem holprigen Pflaster und bei jedem unruhigen Tritt des Pferdes laut aufschrie und jammerte – es mußte gehen, und es ging. Als das Kind sich müde geweint und vergeblich in allen Tonarten: »Mam-mam, Pap–pap« und »An-an« zu Hilfe gerufen hatte, – (o wie hätte letzteres das ferne Hannele zu verzweifeltem Mitleiden gerührt!), – da wurde auch Kathrine stiller und stiller. Mutter und Kind lernten einsehen, daß es einfach keine Hilfe und keinen Ausweg gab, und daß man sich fügen mußte. Wie das aber drei Tage und drei Nächte so fortgehen sollte, das erschien Kathrine einfach unmöglich. Und so schwer es ihr auch oft auf dem Schiff gewesen war, so sehnte sie sich nun wahrhaft auf ihr Zwischendeck und selbst zu ihren polnischen Reisegefährten mit all ihrem Schmutz und Ungeziefer zurück. Da wurde man doch wenigstens nicht mit jedem Schritt gestoßen und gar in die Höhe geworfen, wie es geschah, als draußen hinter der großen Stadt die weite Ebene anging und Juan, wie er sich nannte, die Pferde traben ließ.
»Ach, du mein Gott, – ach, du mein Gott, so etwas!« Philipp sorgte sich sehr um sein Weib, und manchmal gab er ihren verzweifelten Blicken nach und ließ einen Augenblick halten, damit sie sich wieder einigermaßen zurechtsetzen und dem Mariele irgend etwas zum Essen, was sie in ihrer Rocktasche vorfand, ins zuckende Mündchen stecken konnte.
Der Vergnügteste der ganzen Gesellschaft war Peter, der fühlte sich sicher und wohl geborgen bei Vater sitzen. Und je lebhafter es weiterging, desto lustiger schrie er »Hü« und »Hott«! An dem hatte der braune Mann seine helle Freude. Als es aber gegen Abend ging, da wurde auch Peter sehr müde und schwankte beständig hin und her. Das Mariele war schon längst, ungeachtet seiner ungewohnten Lage, eingeschlafen.
Da fiel Kathrine auf einmal die Ledertasche ein, die sie auf der Wirtin Rat in Hamburg noch hatte kaufen müssen. Und als die kleine Gesellschaft einmal wieder hielt und sie ein bißchen absteigen konnten, – o welche Wohltat waren diese Pausen! – da knüpfte sie den Pack mit Bettstücken und Teppichen, der rückwärts auf ihrem Pferde sich befand, auf und holte eine dieser Taschen hervor. Vielleicht konnte Peter, der sich vor Schlaf nun kaum mehr zu halten vermochte, auch auf diese Weise untergebracht werden. Und Juan verstand sofort, um was es sich handelte, und nickte sehr befriedigt mit dem Kopf. Mit großem Geschick befestigte er den Ledersack an seinem eigenen Pferde, und Peter, der kaum mehr wußte, was mit ihm geschah, ward hier hereingesteckt.
Nach ein paar Stunden Ritt – Kathrine war nun nachgerade in einem gänzlich apathischen Zustande, hielten die Pferde vor einer kleinen Hütte, – Rancho hieß sie der Führer. Ein paar noch braunere Gesellen als er nahmen die Pferde in Empfang, und innen, in einem dunkeln Raum, fanden die gänzlich Erschöpften auf etlichen auf dem Boden ausgebreiteten Teppichen kurze Ruhe für die Nacht. Schon beim Morgengrauen, nachdem ein Frühstück von Bananen und Reis eingenommen worden war, wobei Kathrine vergeblich nach Milch für Mariele gebeten hatte, ging es weiter, genau in derselben Weise wie gestern, nur daß da noch Baumgruppen und hie und da noch angebautes Land zu sehen gewesen war, was nun ganz aufhörte. Soweit das Auge reichte, war Ebene und kleines Hügelland, alles bewachsen mit ziemlich hohem, gelblichem Gras, das wellenartig schwankte in einem kühlen, sanften Winde. Mit dem neuen Tag war Kathrinens Mut etwas gewachsen, und sie fühlte sich auch schon ein klein wenig sicherer auf dem Pferde, obgleich ihr alle Knochen weh taten. Peterle saß wieder beim Vater, und Mariele hatte sich nun auch ein wenig an ihren eigenartigen Sitz gewöhnt. Und wenn sie auch immer wieder von Zeit zu Zeit bettelte: »Auf – auf!«, so schaute sie im übrigen doch viel vergnügter in die Welt hinein.
Da und dort begegnete den Reisenden ein Trupp gleichfalls Reitender, oder sie sahen rechts und links Herden von Schafen, Rindvieh oder Pferden, so groß, daß Philipp des öfteren sagte: »Da könnte man ja das ganze Schwabenländle damit versehen!«
In großen Entfernungen gab es da und dort Hütten oder kleine Gehöfte, die so ganz anders aussahen, als die der Heimat.
Kathrine fragte immer wieder von neuem: »Gibt's denn gar keine Dörfer? Ach, kommen wir denn so weit weg von allen Menschen?«
Aber ihr brauner Begleiter konnte nicht antworten, denn er verstand die Fragen nicht. Noch einmal wurde wie am ersten Tage genächtigt, und hier gab's auch Milch, ganz frisch gemolkene, – ach gottlob, – denn das Kind fing an, doch recht matt zu werden, und das laute Schreien hatte es schon ganz verlernt, es weinte meist nur still vor sich hin.
Als der dritte Tag anbrach, hatte Kathrine des öfteren das Gefühl: Jetzt kann ich aber nicht mehr! Sagen tat sie aber nichts, was hätte es auch genützt? Und fast gerade so ging es Philipp. Wenn ihm auch das lange Reiten weniger ausmachte, so überkam ihn doch auch immer mehr der Gedanke: So weit, so weit! Das hätte ich nicht gedacht! Und den braunen Mann, der so gleichmütig und frisch wie am ersten Tage auf seinem Pferde saß, konnte man ja nicht einmal fragen, ob es denn noch lange so fort gehe.
Aber nun, gegen Mittag des dritten Tages, kam Leben in den Begleiter. Manchmal erhob er sich in seinem Sattel, legte die Hand vor die Augen und sah sich nach irgend etwas in der Ferne um. Dann folgten nacheinander etwas größere Hütten am Wege. Daß es immerhin ein Weg war, kam Philipp erst nach längerer Zeit zum Bewußtsein. Ein paarmal begegneten sie auch Männern zu Pferde, die Gewehre umhängen hatten und offenbar irgend einem Wild nachgingen.
Und nun, es mochte etwa drei Uhr nachmittags sein, da machte ihr Begleiter lebhafte Bewegungen, nachdem er wieder scharf ausgeschaut hatte. Er lachte mit dem ganzen Gesicht und wies mit der Hand nach der Ferne. »Don José, Don José,« rief er den neben ihm Reitenden zu, und dann welschte er lebhaft in seinen unverständlichen Lauten. Aber die beiden glaubten doch zu verstehen, daß das Ziel ihrer Reise nun heranrücke.
Und richtig, ganz hinten am Horizont sahen sie eine längere Reihe von niederen Gebäuden, und nun, nicht mehr sehr weit von ihnen entfernt, erschien ein Reiter, der etwas zivilisierter angezogen war als Juan und statt des im Lande üblichen großen Filzhutes einen breitkrämpigen Strohhut trug. Der Reiter fing an zu traben, als er der kleinen Truppe ansichtig wurde, und dann machte er Zeichen, und dann schwenkte er den Hut, und dann parierte er das Pferd dicht vor ihnen.
»Buenos dias, – buenos dias!« rief er mit kräftiger Stimme. Als ihm die beiden aber mit einem schüchternen »Grüß Gott« antworteten, da sagte er erwidernd auch: »Grüß Gott! Das ist etwas, was ich schon lange nicht mehr gehört und gesagt habe!«
Es war der Onkel Joseph, der ihnen hier entgegengeritten kam und ihnen sagte, daß sie nur noch etwa zehn Minuten bis zum Ziele hätten.
»Werdet froh sein, was? – Das ist kein Spaß, nicht wahr, kleine Frau, so lange im Sattel zu sein, wenn man's nicht gewöhnt war? Und wie haben's denn die Kinder durchgemacht, wie? … Was, noch so ein ganz Kleines? … Eins, zwei, … ja, wo ist denn das Dritte, – das Mädel? Ihr habt doch noch eine Vierzehnjährige?«
Als Philipp und Kathrine ihm in Kürze mitteilten, wie es gekommen, daß sie das Hannele zu Hause gelassen hatten, da verfinsterte sich das Gesicht des Onkels, und er sagte: »Donnerwetter, das wird meine Mädels nicht freuen. Gerade auf sie haben die drei Frauenzimmer gerechnet!«
Philipp entschuldigte sich, daß er es nicht mehr geschrieben, es sei eben alles so furchtbar schnell gegangen, und er werde dem Onkel pflichtschuldigst, sowie sie angekommen seien, das für das Hannele geschickte Reisegeld wieder herauszahlen.
»Das wäre das Wenigste,« meinte der Onkel kurz. Hanneles Nichtmitkommen schien ihn zu verstimmen.
Aber nun kam die Estancia immer näher. Als der Onkel eine kleine Pfeife hervorgezogen und einen lauten Pfiff hatte ertönen lassen, da stürzten aus den Ställen ein paar halberwachsene Burschen und Männer heraus – sie sahen alle etwa so aus wie Juan. Aus dem Hause aber kamen Christina und Isabella, zwar etwas zögernd, aber doch sichtlich neugierig, während ihre Mutter, Donna Elvira, würdevoll unter der Haustüre stehen blieb. Sie hatte die gelbliche Morgenjacke mit einer hellblau seidenen vertauscht, die aber auch schon ihre erste Frische eingebüßt hatte.
Und nun halfen Onkel Joseph und die herbeigeeilten Männer den Angekommenen von ihren Pferden. Philipp setzte seinen Stolz darein und kam noch auf regelrechte kavalleristische Art herunter, obgleich er an allen Knochen steif war. Kathrine aber mußte man vom Pferde heben und auf den Boden stellen, und auch da hatte sie kaum noch die Kraft, sich aufrecht zu halten. Alles an ihr zitterte und bebte, und das nicht nur wegen der körperlichen Anstrengung. Mit aller Macht nahm sie sich aber nun zusammen, es war ja schrecklich, die Leute sollten doch nicht glauben, daß sie ein so elendes, schwaches Geschöpf sei. Das Mariele auf dem Arm, während Philipp den ganz verschüchterten Peter an der Hand führte, überschritten sie die Schwelle der so oft von ihnen im Geiste aufgesuchten Estancia.
Als Kathrine Donna Elvira erblickte, sah sie fragend zum Onkel empor: »Ist das die Base?« Und dann streckte sie ihr treuherzig die Hand entgegen. Diese schlug ein, aber in ihrem ganzen Wesen war doch eine große Zurückhaltung, obschon sie gleich darauf mit einer großartigen Handbewegung die Angekommenen aufforderte, sich an den Tisch zu setzen. »Wollen Sie essen?« Und sie bot Philipp und Kathrine Früchte und Gebackenes an, während Isabella den Tee einschenkte.
Christina aber, ihren Hund Pischa auch hier beständig an der Seite, fragte plötzlich wie der Vater: »Wo ist denn die Hanna?«
Als Philipp und Kathrine, die sich schrecklich beengt fühlten und trotz ihres Hungers kaum zu essen vermochten, auch hier auseinandersetzten, warum sie ihre Älteste zu Hause gelassen, da war im ersten Moment eine peinliche Stille. Dann aber, als Onkel Joseph seiner Frau, die nicht alles verstanden, die Sache klar gemacht hatte, rief diese mit erschreckender Leidenschaftlichkeit: »Ja, das darf doch nicht sein! Gerade das Mädchen sollte doch kommen und mir helfen, mir und meinen Töchtern!«
Auch diese machten ganz verdutzte und gar keine lieben Gesichter, und Christina schmollte: »Du hast doch gesagt, Papa, daß, wenn diese Hanna käme, wir nicht mehr so viel im Haushalt schaffen müßten?«
Isabella aber warf einen schiefen Blick auf Peter und Mariele und sagte dann Spanisch zu ihrer Mutter: »Hätten sie doch lieber diese kleinen unnützen Dinger zu Hause gelassen! Bambinis haben wir wahrlich genug hier bei den Leuten!«
Daraufhin entspann sich ein sehr lebhaftes Hin und Her zwischen Onkel Joseph und seiner Frau, in das sich auch immer wieder die Töchter mischten, alles in der fremden Sprache. Aber so viel entnahmen Philipp und seine Frau doch, daß der Onkel und die Tante böse seien. Sie entschuldigten sich deshalb noch einmal recht und sagten: »Wir werden gewiß beide unser möglichstes tun, und der Onkel wird gewiß, wenn er nur am Anfang ein bißchen Geduld mit uns haben wird, nachher mit unseren Leistungen zufrieden sein.«