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Erstes Kapitel.

»Komm, Bibibi, komm!« – Hanneles Heim. – Von zinnernen Tellern und hartgesottenen Eiern. – Warum Peter zu spät zum Essen kommt. – »Der hat's nötig, vom Hungern zu sprechen!« – Wer die Großmutter ist.

 

»Gluck, gluck« – – »Gluck, gluck« – – »Komm, Bibibi!« – –

Eine Schar von Hühnern, vorne dran eine buntgefleckte Henne mit einem Dutzend kleiner Küchelchen, eilte aus ein futterstreuendes etwa zwölfjähriges Mädchen zu. Es hatte auf dem Arm ein kleines, vor Lust krähendes Schwesterlein. Mit der einen Hand hielt die Große ein Schüsselchen voll eingeweichten Brotes, und die andere warf das Futter dem fröhlich gackernden Hühnervolk vor. Als das Schüsselchen leer war, ließ sich das Mädchen mit der Kleinen auf ein Knie nieder, damit diese alles besser übersehen konnte, besonders die flachsgelben winzigen Dingerchen, die so lebhaft und eifrig mit den krummen Schnäbelchen darauf loshackten.

»Gelt, Mariele, wie nett? Siehst, wie die schon gescheit sind und schon springen können? Gelt, das kann unser Kleines noch nicht, springen und allein essen? Aber gescheit ist's doch auch, und gerade so helle Guckerle wie die Bibi hat es auch! … Wart, du Große, – gehst gleich weg und läßt die Kleinen zuerst fressen! … Gelt, Mariele, so eine Böse! Und da vorn das Bibi mit dem braunen Schwänzle, das ist auch so ein Gewalttätiges. Das muß man auch ein bißchen zanken!«

Bei dieser Wechselrede zwischen Kind und Tieren zappelte die Kleine mit ihren dicken, bloßen Beinchen, und aus ihrem halbgeöffneten Kirschenmäulchen kamen allerlei Laute: »Grrr« und »Mbah!« und »Dada!« Und Hannele, die Schwester, die das Schüsselchen auf den Boden gesetzt hatte, umfaßte fest das kleine, dralle Geschöpfchen, wiegte es scherzend auf dem Arme hin und her und sagte zärtlichst:

»Du bist doch das Allernetteste, das Allerliebste, das Allergoldigste auf der ganzen Welt! Da darf kein Katzenmulle und kein Biberle, kein Täuble und kein Hannele daneben hin!«

Die Gluckhenne gackerte und scharrte mit dem Fuß, denn ihre Kinderchen hatten wohl genug und wollten sich dahin und dorthin verlaufen. Auf der Mutter Ruf aber trotteten sie alle wieder zusammen und folgten ihr eilfertig auf die nahe Wiese, wo sie sich im warmen Sonnenschein unter den schützenden Flügeln duckten und bargen. Vom Hause her aber erscholl eine Frauenstimme:

»Hannele, – wo bist du? – Solltest auf das Essen aufpassen! – Ich muß noch auf die obere Wiese und beim Heuen nachsehen!«

Eiligst erhob sich das junge Mädchen von ihrer hockenden Stellung, nahm das Kind wieder fest auf den Arm, das leere Schüsselchen in die freie Hand, und mit flüchtigen Schritten ging sie dem Hause zu.

Dieses war nicht groß, hatte nur einen ersten Stock und einen Dachstock darüber. Es war nicht mehr neu, sah aber durch den frischen Anstrich und die grünen Läden immerhin ganz ansehnlich aus. Auf der einen Seite rankten sich Bohnen und Kapuziner empor, an der andern Ecke stand ein alter, hutzeliger Apfelbaum, der trotz seines knorrigen Astwerks doch noch überdeckt mit Früchten war. Eine einfach gezimmerte Bank stand unter dem Baum, eine Staffel mit zwei großen Seitenstufen hüben und drüben, auf denen sich's so prächtig sitzen und spielen ließ, führte ins Innere des Hauses, wo es direkt vom Flur aus in die große Wohnstube der Eltern ging. Von dieser aus führte eine Tür in die rückwärts gelegene, etwas dunkle Küche, in der in einem großen Topf Suppe brodelte und in einem andern Kartoffeln quollen. Hannele setzte die Kleine in ihren hohen Stuhl und gab ihr ein Kautschuktierchen, das sofort in den Mund wanderte, und eine kleine Klapper in die Hand.

»Recht brav sein, Mariele, ich komm gleich wieder,« sagte sie beschwichtigend.

Dem Kind gefiel die ganze Veranstaltung nicht, es wäre lieber auf dem Arm geblieben. Aber nach einigen Versuchen, das Mündchen zum Weinen zu bewegen, lachte es doch lieber, weil Hannele noch von der Tür aus ein paar lustige Grimassen machte, und wandte dann seine ganze Aufmerksamkeit dem hölzernen Klapperchen zu. Hanne als große Tochter wußte aber sofort, was in der Küche zu tun war. Sie ergriff den Rührlöffel und bewegte ihn energisch in der dicken Brotsuppe, fest auf den Grund hinabgreifend, damit die Suppe ja nicht anbrenne. Dann lüpfte sie den Deckel von dem Kartoffelhafen, ließ vorsichtig den heißen Dampf entweichen und schüttete für das Verdampfte etwas Wasser nach. Als das geschehen war, eilte sie aber rasch zu dem Schwesterlein zurück, das sofort bei ihrem Anblick wieder strampelte und die Ärmlein erhob: »Ann, – Ann!«

Das war Hanneles ganzer Stolz, daß die Kleine weder Mama noch Papa noch sonst irgend etwas sagte, sondern daß das allererste Lallen ihr, der Schwester, galt. Der Peter, der Bruder der beiden, war schon fünf Jahre alt und fing an, ein rechter Bengel zu werden, als noch das kleine Schwesterlein kam. Und das füllte nun Hanneles Herz und Denken so aus, daß die Mutter oft mahnen mußte, daß doch nicht alles darüber vergessen wurde. So auch jetzt. Hanne setzte sich zu der Kleinen hin; sie hob ihr beständig den heruntergeworfenen Wauwau wieder auf, sie holte das Millemille, ein junges Kätzlein, das in der Ofenecke sein Lager hatte, hervor und führte Marieles kleine Hand über der Mieze weiches Fell. Dann nahm sie das Mariele und die Mieze, jedes auf einen Arm, und führte mit ihnen Tänze auf, wobei letztere kläglich miaute, denn sie liebte nicht derartige heftige Bewegungen. Das Mariele aber krakeelte um so lauter und patschte mit Händen und Füßen.

»Hannele!« rief's da von oben herab. Es war die Großmutter, der das Haus eigentlich gehörte, die aber, seit sie verwitwet war und die Kathrine, ihre einzige Tochter, den Schreiner Werner geheiratet, in den Stuben oben hauste, während das junge Paar die Wohnung unten inne hatte.

»Hannele, paßt du auch auf?« rief's noch einmal, und Hanne, die zur Türe geeilt war, rief der alten Frau, die auf dem obersten Treppenabsatz stand, hastig zu:

»Ja, ich hab' schon umgerührt und nach allem geschaut.«

Aber in dem Augenblick drang ein recht häßlicher, brenzliger Geruch aus der Küche herein, so daß die Angerufene diesmal die Kleine ganz rasch auf den Boden setzte und an den Herd eilte. Die Suppe war aber bereits ein wenig angebrannt. Wie schnell das doch ging! Zum Glück war ein zweiter Suppentopf vorhanden, in den das junge Mädchen mit Aufbietung aller ihrer Kräfte die Suppe umschüttete, während sie das Angebrannte im andern Topf ließ. Daß man es so machte, wußte sie, aber es war keine kleine Arbeit. Auch ging ein guter Teller voll dabei verloren, und da Hanne gewissenhaft war, so tat's ihr schrecklich leid. Eben kam die Mutter auch wieder von ihrem Gange zurück, – so ganz hatte sie ihrer Großen doch noch nicht getraut. Es mußte ja heute nicht nur für die Familie, sondern auch für die Feldarbeiter gekocht werden. Aber auch die Großmutter, eine starke Sechzigerin, kam, angelockt von dem durchdringenden Duft, von oben herunter und nahm die Kleine, die zu weinen anfing, vom Boden auf, während die Mutter schalt und sagte:

»Natürlich, nicht aufgepaßt! Natürlich hast du wieder mit dem Mariele gespielt, – das kann ich mir schon denken!«

Als sie aber sah, wie umsichtig Hannele den Schaden schon wieder gut gemacht hatte, fügte sie nur noch bei:

»Na, 's hätte noch schlimmer sein können. Jetzt geh nur hinein und deck den Tisch. Der Vater und die Leute können alle Augenblicke kommen!«

Das Mariele verlangte sofort wieder zu ihrer Kanne, als sie sichtbar war. Aber diesmal widerstand diese der Versuchung, und die Großmutter sagte, lachend ob dem strampelnden Kinde:

»Kannst's wohl auch ein wenig bei deiner Ahne aushalten, du Tausendsassa!«

Hannele aber trug die zinnernen Teller herein, legte Löffel und Besteck neben einen jeden, holte den großen Brotlaib aus der Tischlade und das Salzfaß. Dann eilte sie in die Küche, um der Mutter beim Schneiden der Kartoffelrädlein zum Salat behilflich zu sein, und während dieser nachher angemacht wurde, mußte Hanne neben einer Pfanne voll heißen Wassers, in das die Mutter eine Reihe Eier zum Hartkochen gelegt hatte, stehen und bis zweihundert zählen, damit sie richtig gar würden. Das tat sie nett und pünktlich, und als der Vater Schlag zwölf Uhr aus der Werkstätte kam und in die Stube trat mit den Worten: »Ich habe einen Mordshunger!« da trug sie mit der Mutter Suppe, Salat und Eier auf. Und auch die zwei Arbeiter, die beim Heuen halfen, waren gekommen, wischten sich mit dem Rand der Hand den Schweiß von der Stirn, und alles setzte sich zum wohlverdienten Mahl. Die Großmutter saß mit dem Kinde obenan – dem Alter gebührte die Ehre –, das war im Hause noch so Sitte, und nachdem sie sich zuerst Suppe herausgenommen hatte, ging der Schöpflöffel von Hand zu Hand, und ein jedes füllte sich seinen Teller bis an den Rand. Nun standen alle noch einmal auf, und die Großmutter sagte andächtig: »Komm, Kerr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast, Amen!« wobei sie mit ihren hageren, braunen Händen fest die kleinen, rosigen Händlein des Kindes zusammenhielt. Auch es sollte bald lernen, daß man die Hände falte, wenn es zum Essen ging. Ein Platz war noch leer.

»Wo ist denn der Peter?« – – »Ja, wo ist jetzt wieder der Peter, dieser Schlingel?« … »Ob der Kerl auch einmal Ordnung halten und zur richtigen Zeit kommen kann?« Der Vater sagte es in ärgerlichem Tone, wobei Hannele beschwichtigend meinte:

»Er ist wohl wieder bei seinen Hasen und hat nicht gehört, wie die Mutter zum Essen rief.«

»Das ist's ja eben, daß er nicht aufpaßt, und ist doch schon ein großer Bub, der bald in die Schule kommt!«

Im selben Augenblick stürmte etwas die Staffel herauf und in die Stube herein. Ein stämmiger, kleiner Bursche von etwa sechs Jahren mit dunkelm Strubbelhaar und hochrotem Gesicht schrie, was er nur schreien konnte:

»Vater, Mutter, – junge Hasen sind angekommen! Eins ist grau, das andere ganz schwarz, und ein paar Gefleckte sind auch da! Kommt nur alle gleich hinaus, daß ihr's sehen könnt!« …

Jetzt erst gewahrte das eifrige Männlein, daß alles schon beim Essen saß, und daß des Vaters Gesicht wie immer, wenn jemand nicht pünktlich war, sehr ärgerlich aussah. Peter wollte schnell noch einmal sagen, daß so schöne Häslein wie diese es noch gar nie gegeben habe, aber ein strenger Blick vom Vater beorderte ihn an seinen Platz neben Hanne.

»Die Hasen laufen nicht davon, und du kommst und bleibst und ißt ordentlich! Ein andermal werd' ich's dir schon klar machen, daß du besser auf der Mutter Ruf achtest!«

Peter verzog einen Augenblick den Mund zum Weinen, aber dann war die Freude über die Überraschung draußen doch zu groß, und indem er wacker seine etwas kalt gewordene Suppe hinunterlöffelte, erzählte er flüsternd der Schwester, wie flink das Graue schon sei, und was für helle Äuglein das Schwarze habe. Sie mußte ihm versprechen, sofort nach dem Essen mit ihm in den Stall zu gehen.

Des Vaters Stirn war inzwischen nicht heller geworden. Es war nicht allein der Bub, der ihn geärgert hatte, und Frau Kathrine sah ihn sorglich von der Seite an. Ihr Mann, der Philipp, war so selten recht vergnügt und zufrieden, und heute gerade konnte man sich doch so recht freuen über das prächtige Heu, das hereinkam, und das wohl mehr ausgab, als die Bläß draußen im Stall das Jahr durch bedurfte. Wie hart war's vergangenes Jahr, wo das Futter verfault war und man den besten Verdienst für Ersatz hinlegen mußte. Freilich, die Kuh im Stall, der kleine Weinberg und auch das ganze Haus gehörten ja noch der Großmutter. Etwas Eigenes hatten Kathrine und ihr Mann ja noch nicht, aber sie durften doch da wohnen, Kartoffeln, Obst und Gemüse wuchsen ihnen umsonst, und auch für die Milch berechnete Großmutter nichts. Aber das alles schlug der Philipp nicht sehr hoch an. Im Gegenteil, es bedrückte ihn, abhängig zu sein. Und wenn er auch kein Schlemmer war, und wenn sein Schreinerhandwerk ihm auch immerhin so viel eintrug, daß das, was man noch weiter fürs Leben benötigte, schuldenlos beschafft werden konnte, so schien's ihm eben doch immer zu wenig, und er haderte, daß es nicht noch mehr war.

»Hab' heute Fensterrahmen für den Neubau abgeliefert, aber natürlich, eine Mark fürs Stück haben sie mir wieder abgehandelt, die Herren,« sagte er in unmutigem Ton und schlug dabei so energisch auf die Schale seines harten Eies, daß nicht nur diese sprang, sondern ihm auch etwas von dem gelben Inhalt über die Hand lief. Er liebte es sonst, wenn die Eier nicht ganz hart, sondern wachsweich waren, heute aber war er in der Stimmung, dies zu tadeln, und Hannele lief schnell in die Küche, einen nassen Lappen zu holen, damit der Vater sich reinigen könne.

»Abzwacken tun sie einem, wo sie können,« sagte er von neuem. Und der eine der Arbeiter, ein junger Bursche, nickte dazu eifrig mit dem Kopf und bestätigte:

»Recht habt Ihr! Schinden soll man sich von früh bis spät, und nichts Ordentliches kriegt man dafür.«

Der andere Mann, der schon graue Haare hatte, schwieg dazu und schüttelte nur leise mit dem Kopf, indem er große Stücke Schwarzbrot in seinen Most brockte und mit sichtlichem Behagen die kühlenden Stücke dann herausfischte und aß. Die Großmutter aber vermochte nicht still zu bleiben, wenn es allemal aus dieser Tonart ging, und sie sagte:

»Ich meine, du habest gestern abend ausgerechnet, daß dir die Arbeit auch nach solchem Abzug doch noch genügend bezahlt sei?«

Da aber wurde Philipp böse und schrie, ob die Ahne denn glaube, daß man nur gerade fürs Hungersterben schaffe, – daß man nicht auch noch etwas fürs ordentliche Leben haben wolle, das ohnedem hungrig und schundig genug sei. Nun konnte die Kathrine wieder nicht schweigen, obgleich sie's für gewöhnlich zustande brachte, und sie beschwichtigte:

»Daß es schundig bei uns zugeht, Philipp, kannst du wirklich nicht sagen. Wir haben doch noch allezeit das gehabt, was wir brauchen.«

»Aber kein bißle mehr und drüber!« knurrte Philipp noch einmal auf. Aber dann war er doch etwas besänftigt und schwieg, denn im Grunde war er ja kein ganz Unzufriedener, und der Kathrine Art hatte jedesmal eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er erwiderte nichts mehr darauf, als der Arbeiter noch die Worte hinwarf: »Hungern muß das Volk, und die Reichen schlemmen!« wobei aber ein Berg von Kartoffelsalat nach dem andern in seinem Mund und Magen verschwand, ebenso wie drei Eier, zwei große Ranken Brot und mindestens zwei Schoppen Most.

»Der hat's nötig, von Hungern zu sprechen,« dachte die Großmutter, aber sie sagte jetzt nichts mehr; denn Schweigen zu seiner Zeit war doch das richtige, das hatte sie in einem langen Leben gelernt. Auch verhielt sie sich jetzt etwas ruhig, weil das Mariele auf ihrem Schoß über seinem Milchschoppen, den es glucksend ausgetrunken hatte, eingeschlafen war. Sachte übergab sie es dem schon lange nach ihrem Liebling sehnsüchtig ausschauenden Hannele, damit diese es ins Bett lege.

Nach einem kurzen: »Gott Lob und Dank für Speis und Trank, Amen!« war die Tischgesellschaft aufgestanden und ein jeder wieder an seine Arbeit gegangen. Der Peter aber zog das Hannele am Rock, kaum daß sie noch die Kleine ordentlich einbetten konnte, und riß sie mit sich in den Stall, wo wirklich neben den zwei alten Hasen vier kleine, herzige Junge lagen, die schnuppernd ihre Mäulchen bewegten und sich gar nicht zu fürchten schienen. Aber nicht lange durfte Hannele beim Anblick der reizenden Tierlein verweilen, denn die Mutter hatte ihr gesagt, sie müsse ihr beim Aufwaschen helfen, und dann wollten sie beide miteinander auch auf die Wiese gehen zum Zusammenrechen und Ausladen, denn ein Gewitter stand am Himmel, und man mußte sich eilen, das Heu trocken heimzubringen. Hannele durfte deshalb auch nicht, wie sie so gerne gemocht, das Mariele in ihrem Korbwagen mit hinausnehmen. Man konnte nicht auch noch auf das Kind achten, und die Großmutter wollte es inzwischen in ihre Obhut nehmen.


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