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Im Kinematographen. – Von gelben Männern mit geschlitzten Augen und einem fliegenden Elefanten. – Eine Schachtel mit Spitzen und seidenen Bändern. – Von einer altväterischen Großmutter und einer wahren Freundin. – Mariele hat ihre Ann-Ann noch nicht vergessen.
Die Wirtin hatte gesagt, sie sollten das Alsterbassin mit den Schwänen ansehen und dann nach St. Pauli hinausfahren, das sei eine Vorstadt, wo es allerhand Sehenswürdigkeiten gäbe, und hatte ihnen notiert, mit welchen Trambahnen sie zu fahren hätten. Aber der Mut war den beiden nun gänzlich entfallen, und doch wollten sie noch nicht wieder nach Hause zurückkehren.
Da las Philipp über dem Eingang eines großen Hauses das Wort »Kinematograph«. Das war das Richtige. So etwas hatte er einmal daheim in der Hauptstadt gesehen, und das hatte ihm gefallen. Da kannte man sich doch auch schon aus und wußte, was einen erwartete. Rasch entschlossen nahm er ein paar der gelb und blauen Zettel entgegen, die ein Türhüter mit dreieckigem Hut und großen goldenen Knöpfen am Rock ihnen anbot. Philipp zahlte für sich und Kathrine je fünfzig Pfennig und für die Kinder die Hälfte, obgleich es damals in der Residenz nur zwanzig Pfennig gekostet hatte, und gleich darauf saßen sie auf Klappstühlen in einem dunkeln Raum. Die Musik spielte im Hintergrund einen Marsch, und auf der Bühne marschierten eine Menge Soldaten vorüber. Das freute Philipp, der auch gedient hatte. Eine Parade wurde dargestellt, die der Kaiser abnahm, und Kathrine gefiel ganz besonders, wie die Kaiserin und ihre Tochter in einem Wagen sitzend mit verschiedenen Herren auf tänzelnden Pferden sich unterhielten. Der Peter aber wollte vor Vergnügen gar nimmer sitzen bleiben, als Kavallerie und Kanonen kamen, und einmal über das andere rief er: »Siehst, Vaterle, die vielen Gäul? Vaterle, wo sind jetzt auch die Erbsen, mit denen man schießt?« Er strampelte und hüpfte in hellem Entzücken von einem Bein aufs andere. Als die Sache aber vorüber war und er sich wieder setzen wollte, da war der Sitz seines Stuhles inzwischen in die Höhe geschnellt, und der Peterle lag am Boden. Geschadet hatte es ihm nichts, aber doch recht weh getan, und ziemlich mißmutig sah er dem weiteren Verlauf des Spieles zu. Es kam auch etwas, was man gar nicht verstehen konnte: lauter Frauen mit ganz langen Röcken und Herren, die mit diesen sprachen, aber man wußte ja doch nicht, was. Und dann gab's Händel, und dann wieder küßten sie sich, und auch die Mutter sagte schließlich: »Horch, Philipp, von der ganzen Geschichte verstehe ich gar nichts, und mit dem Geflimmer vor den Augen herum wird's einem ganz dumm!« Das Mariele begehrte auch einmal übers andere: »Fot, fot!« Es war ihm unbehaglich in dem dunkeln Raum. Und als nachher noch geschossen wurde und ein Mord nach dem andern vorkam, da hatte auch der Philipp genug, und sie gingen wieder zusammen auf die Straße hinaus. Er meinte: »In Stuttgart ist's schöner gewesen, mich dauert das Geld, das wir für all das dumme Zeug ausgegeben!«
Da standen sie nun von neuem, und Kathrine sagte: »Was meinst du, wollen wir's riskieren und nach dem St. Pauli hinausfahren?« Sie schämte sich ein bißchen vor der Wirtin, so unverrichteter Sache wieder heimzukommen. Als sie aber an dem auf dem Zettel bezeichneten Kreuzungspunkte der Trambahnen ankamen und damit wieder in das ärgste Gewühl, da faßten sie den Entschluß, doch lieber in ihr Wirtshaus zurückzukehren und dort ein wenig auszuruhen. »Wenn man solch eine große Reise vor sich hat, so ist's doch eins, ob man das bißchen Hamburg gesehen hat oder nicht.«
Dies sagten sie auch der Wirtin, die sie bei ihrer Zurückkunft fragte, wo sie gewesen seien. Diese lächelte allerdings, hatte aber Ähnliches wohl schon oft erlebt. »Nur,« sagte sie, »den Hafen, den müßt Ihr Euch heute sicher noch ansehen, – so was gibt's nirgendswo wie hier!«
Und der war auch nicht weit entfernt, und verschiedene andere Auswanderer, die auch in dem Gasthaus logierten, gingen gleichfalls des Nachmittags hin. Wohl hatten die beiden schon Bilder vom Meer und von Schiffen gesehen, daß aber eine solche große Anzahl beisammen sein konnte, das wußten sie nicht. Das waren ja keine Schiffe mehr, das waren ja ganze Paläste mit vielen Stockwerken! Und daneben all die Hunderte von kleinen Schiffen und Barken und die vielen bunten Wimpel, auf jedem Schiff wieder andere. Und all die fremdartigen Menschen, die da herumschwirrten! Kathrine erschrak zu Tod, als sie einmal, sich umwendend, plötzlich dicht neben sich einen Neger stehen sah, einen kohlschwarzen mit fletschenden weißen Zähnen. Ach, wenn die drüben so aussahen, wie würde das so schrecklich sein! Aber Philipp tröstete sie und sagte: »Dort sind ja gar keine Neger, sondern Indianer, und die sehen nicht schwarz, sondern rotbraun aus. Und du weißt doch, wie der Onkel geschrieben hat, daß das keine Indianer sind wie in den Geschichten, wo sie den Feinden den Skalp abziehen, sondern daß es ganz friedliche, fleißige Leute sind!«
Nun rief Peter: »Gucket auch nur, was da kommt!« Und es war ein Trupp kleiner, gelber Männlein mit geschlitzten Augen, – Japaner. Und von der andern Seite her kam ein Chinese in blauer Jacke und gelbem Hut. Und dann, – nein, so etwas hatte man wirklich nicht gewußt, daß es sein könnte: da war ein riesenhaft großer Kran oben mit einem Haken, der senkte sich auf eines der Schiffe hernieder, und dort wurde ein Elefant, ein leibhaftiger, großer Elefant, an Riemen, die er um den Leib hatte, eingehakt und in die Höhe gezogen. Ganz zum Fürchten war's, wie das großmächtige Tier in der Luft schwebte, den Rüssel gerade hinausstreckte, und wie es dann langsam auf eine Stelle am Landungsplatz herabgelassen wurde. Dort standen wieder fremdländische Menschen mit brauner, bloßer Brust und weißen Turbanen, die nahmen das Tier in Empfang. Und dieses, das seine Wärter wohl schon kannte, ließ sich willig von ihnen in einen Riesenwagen hineinschieben, der dann sofort auf Schienen zum Güterbahnhof gebracht wurde. Der Elefant sollte dann irgendwo in einer fernen Stadt in einer Menagerie gezeigt werden. Auch Pferde wurden auf solche Weise ausgeschifft, und Kathrine und die Kinder wären wohl nicht zum Fortbringen gewesen, wenn nicht einer der Mitauswanderer vom Gasthaus zu Philipp gesagt hätte: »Kommen Sie, wir wollen uns doch auch einmal das Schiff ansehen, dem wir uns morgen anvertrauen sollen!«
Sie schoben sich durch das Gedränge auf eine andere Seite des Hafens, und hier war zwischen vielen andern ein großer Ozeandampfer, der den Namen »Esperanza« trug. Philipp wußte schon, daß sein Schiff diese Bezeichnung haben würde, es freute ihn aber, als der Mann ihm erklärte, das Wort sei spanisch und heiße auf Deutsch »Hoffnung«. Hoffnung! Ach ja, das konnten sie brauchen, denn ihre ganze Zukunft war ja auf Hoffen gestellt. Voll Neugierde, die wohl aber auch mit etwas Angst gemischt war, besahen sie sich das Riesengebäude, in dessen untere Räume jetzt schon Waren aller Art eingeladen wurden. »Damit wir nicht verhungern unterwegs,« scherzte Philipp.
Aber über Kathrine war plötzlich eine große Unruhe und Bangigkeit gekommen, und sie sagte: »Wir haben jetzt genug gesehen, – wir wollen nach Hause gehen!« Es überfiel sie wie mit Zentnergewicht: »Jetzt, heute noch kann ich sagen ›nach Hause gehen‹, wenn's auch nur in ein fremdes Wirtshaus ist. Morgen schon gibt's das nicht mehr! Und wer weiß, wo und ob man das überhaupt wieder einmal wird sagen können! …«
Alle waren nun recht müde, die Kinder verlangten bei Tag schon ins Bett, und für die Eltern verging der Abend mit allerlei Richten, auch noch mit Einkäufen. Der Agent war noch einmal gekommen, und auch die Wirtin des Auswanderergasthofs, die wirklich ein warmes Herz für ihre Gäste hatte, riet noch, dies und das, was praktisch sei, mitzunehmen, so unter anderem noch mehr Wolldecken, Kopftücher und einige große Ledertaschen, wie die beiden noch nie welche gesehen. »Zu was sind denn die auch?« fragte Kathrine zweifelnd und war nicht so ganz befriedigt, als die Wirtin nur einfach antwortete: »Ihr werdet schon sehen, wozu Ihr die brauchen könnt, und dabei an mich denken!«
Recht spät, viel später, als sie gewollt hatten, nahmen die zwei ihr Nachtessen unten in der Wirtsstube ein, und da überkam's Kathrine, nun man endlich einmal saß, daß sie ja eigentlich fast den ganzen Tag noch nicht an daheim gedacht habe, und jetzt war sie fast zu müde dazu. Es war wohl auch besser, nicht zu denken. Und auch Philipp sagte vor dem Einschlafen nur: »Ich hab' dem Hannele noch gesagt, daß sie der Großmutter allemal abends vor dem Schlafengehen noch ein Gläschen von dem vorjährigen Träubleswein einschenken soll, – der gibt Kraft!« Dann aber schliefen die beiden übermüdeten Menschenkinder fest und traumlos in ihren fremden Betten bis zum Morgengrauen des Tages, der sie der deutschen Heimat entführen sollte …
Ein grauer Nebeltag war es, als die Großmutter daheim zu Hannele sagte: »Ich hoffe nur, daß sie auf dem Wasser helleres Wetter haben als wir, damit der Kapitän auch sieht, wo er hinfährt!« Wenn die beiden Zurückgebliebenen von den Fortgegangenen sprachen, so war es meist mit »sie«, denn ihre Gedanken weilten ja doch fortwährend bei den fernen Lieben.
Als Hannele am Morgen nach dem Abschied aufgewacht war, hatte sie die allerbesten Vorsätze gefaßt, gescheit und vernünftig zu sein. Als sie aber in die Schule kam, da umringten sie alle Kinder, und ein jedes wußte etwas anderes: »Dauerst du mich, daß du hast zurückbleiben müssen!« … »Hannele, hast du verschwollene Augen! Glaub's wohl, du wirst grausig Heimweh bekommen!« … »Hannele, wenn nur an dein Mariele nichts kommt auf der großen Reise! Bei der argen Hitze da drinnen sterben die Kinder viel, viel leichter als bei uns!« – »O Hannele, wie wird's dir auch gehen bei deiner ernsthaften Großmutter, die so wenig lacht! Bei der möcht' ich nicht wohnen, die gönnt dir gewiß kein bißchen Lustigsein!« Letzteres sagte des Schuhmachers Gret, ein überlustiges Mädchen, das sich schon lange an Hannele machen wollte, dessen Umgang aber die Großmutter nicht mochte.
All das Gerede, wenn's auch vielleicht gut gemeint war, wühlte Hanneles kaum unterdrückten Schmerz wieder auf, und es war gut, daß die Stunde begann und sie sich zusammennehmen mußte. Ihre Kameradin, die Karline, die in der Schule neben ihr saß, flüsterte ihr noch zu: »Nimm's nicht schwer, was die reden, und komm heute nachmittag zu uns. Wir haben die Nähsophie, die macht mir ein neues Kleid, das schau dir an. Fein wird's, sag ich dir, und dann kannst du dir gleich von dem Stoff, den deine Mutter dir noch gekauft hat, das gleiche machen lassen!«
Die Karline hatte recht, man mußte nicht alles so furchtbar schwer nehmen, und das mit dem Kleid, das wäre wirklich nett. Daran zu denken war jetzt doch auch etwas Angenehmes!
Lehrer Ritter, der heute Hannele mit Fragen verschonte, weil er sich dachte, daß ihre Gedanken wohl wo anders weilten, wäre wahrscheinlich erstaunt gewesen, wenn er gewußt hätte, daß Hanneles Zerstreutheit augenblicklich einem Kleide galt. Vor Schulschluß reichte er ihr noch die Hand und sagte: »Lydia erwartet dich in der Dämmerung, und die Buben freuen sich auch, dich zu sehen!« In der Dämmerung, das war geschickt, so konnte Hanne vorher nach der Nachmittagsschule noch zur Karline gehen. Es regnete, und man konnte nicht auf den Acker hinaus, und die Großmutter erlaubte gern, daß Hannele die beiden Besuche machte. Ihr und dem Mädchen tat Ausruhen heute recht gut.
Als Hannele nach vier Uhr ins Kaufmannshaus kam, hatte die Näherin, die bucklige Sophie, eben den letzten Besatz an Karlines Kleid geheftet. Es war ein guter karierter Wollstoff, aber vornherein am Ausschnitt waren viel falsche Spitzen und seidene Bändelein garniert. Dasselbe wiederholte sich an den Ärmeln. Das war doch einfach prachtvoll, und Hannele, das bisher nur ganz schlicht gemachte Kleider ohne jeglichen Ausputz gehabt hatte, lief ganz erfüllt von dem Gesehenen zur Großmutter hinüber. Die Sophie hatte nämlich gesagt, sie sollte gleich wissen, ob Hanneles Kleid auch so gemacht werden würde, wegen des Spitzenstoffes und der Bänder, die sie sonst wieder in die Stadt zurückschicken müsse.
Zuerst freute sich die Großmutter, als Hanneles Gesicht nach langer Zeit wieder einen fröhlichen Ausdruck zeigte. Aber als diese, sich überstürzend, mit lebhaften Worten schilderte, um was es sich handelte, da schüttelte die Großmutter bedenklich den Kopf. »Horch,« sagte sie, »das gefällt mir nicht, was du mir da vormalst! Weiß wohl, daß die modernen Mädchen, die aus der Stadt kommen, solche Firlefanzgeschichten tragen. Habe auch schon so durchsichtige Herzvorstecker gesehen und dabei jedesmal gedacht, wie unsolid das Zeug sein muß, und wie bald es schmutzt. Und vollends an den Ärmeln vorn, da kann man ja absolut gar nichts mit schaffen! Nein, Hannele, das schlag dir aus dem Sinn, so was paßt nicht für ein Bauernmädle, das du bist. Geh nur gleich wieder hinüber und sag dem Sophiele, sie soll deinetwegen ruhig das feine Zeug wieder zurückschicken. In der nächsten Woche aber laß ich sie bitten, daß sie für einen Tag zu uns kommt und dir dein neues Kleid macht – sauber und nett soll's werden, das verspreche ich dir.«
Hanneles Gesicht war auf einmal wieder ganz lang geworden, und in recht unguter Weise sagte sie: »Was die Karline hat, kann ich doch auch haben!« Aber als die Großmutter mit einem kurzen Nein erwiderte, da wußte sie, daß sie nichts mehr erreichte, und recht mißmutig berichtete sie ihren Mißerfolg im Kaufmannshaus.
»Hab' mir's gleich gedacht, daß deine Großmutter dir diese Freude nicht gönnt!« sagte die Krämerin.
Die bucklige Sophie aber meinte: »Die Frau Aldinger ist halt eine altmodische Frau, die nichts vom Feineren versteht, da kann man nichts machen!« Etwas ärgerlich wickelte sie den Rest ihrer Bänder, den sie gerne angebracht hätte, zusammen.
Eine altmodische Frau! Ja, so nannten gar viele im Dorf die Großmutter. Aber ein anderer Teil Menschen, und das war nicht der schlechtere, sagte: »Die Frau Aldinger, das ist noch eine Frau vom alten Schlag, von echtem Schrot und Korn! Ja, wenn alle Leute so wie sie wären, da wär's noch gut um die Welt bestellt, und die Schreiner-Philipps haben ruhig ihr Hannele bei ihr lassen können. – Wenn die der Großmutter einmal nachartet, dann wird was Rechtes aus ihr!«
Ernst, freilich, so hatten das Leben und jetzt vollends die letzten Ereignisse die Großmutter gemacht. Aber tief im Innern hatte die alte Frau einen Frieden, der mehr wert war als die lauteste Fröhlichkeit der Jungen. Und wie innig war ihr Wunsch, die Enkelin nicht nur zu einem wackeren Menschenkinde zu erziehen, sondern ihr auch ihre Jugend so viel als möglich fröhlich zu gestalten und ihr das Opfer zu vergelten, das sie und die Eltern ihr brachten!
Als Hannele wiederkam, ward das Kleiderthema nicht mehr berührt, und die Großmutter sagte: »Jetzt geh zu der Lydia, und wenn sie dich haben wollen, so kannst du den ganzen Nachmittag dort bleiben; ich brauch dich nicht!«
Hannele ging fort, aber gar nicht mehr so vergnügt, wie sie ein paar Stunden vorher sich dachte. Die Kleidergeschichte spukte ihr noch immer im Kopf.
Die Lehrersfamilie empfing sie aufs herzlichste. Frau Ritter reichte ihr die Hand und sagte: »Das ist recht, daß du uns besuchst,« und Lydia gab ihr einen festen Kuß mit den Worten: »Wir wollen uns nur gleich behaglich setzen. – Hab' schon viel heut und gestern an dich gedacht, Hannele, – aber davon wollen wir nachher reden.«
Lydias Brüder kamen, zwei halbwüchsige Buben, die ins nahe Städtchen in die Schule gingen, und brachten einen Riesenhunger mit. Frau Ritter schenkte aus der großen braunen, dickbauchigen Kaffeekanne ein, und Lydia goß Milch dazu. Dann gab's zu Ehren des Besuchs statt Brot Butterkuchen, der in große Streifen zerschnitten wurde, und Herr Ritter fragte Hannele, ob sie am End' schon eine Postkarte bekommen habe. Als diese verneinend den Kopf schüttelte, tröstete er: »Wenn noch keine da ist, so wird sicher bald eine kommen!« Und nun sprach Herr Ritter ganz ruhig und natürlich von den Reisenden, von dem, was sie von der Heimat weggetrieben hatte, und von dem, wie's wohl drüben sein werde.
Hannele, die bis jetzt ängstlich vermieden hatte, über all das zu reden, war's nun fast eine Wohltat, davon zu hören. Herrn Ritters Art zu sprechen war so ruhig und verständlich, und auch nicht so, daß man gleich wieder darüber ins Weinen kommen mußte. Die Buben freilich, die sagten einmal übers andere: »Schad' ist's, Hannele, daß du nicht mitdurftest!« und der Jüngere meinte: »Autsch, wenn ich mir denke, daß deine Leute wirkliche, echte Indianer zu sehen kriegen! – Ich glaub', ich hätt' mich an deiner Stelle hinten an den Zug angehängt, nur um mitzukommen!« Aber alle mußten lachten, als Herr Ritter sagte: »Da wär' unser Hannele nicht weit gekommen, und ich glaube, wir hätten sie bald als zerquetschtes Zwetschgenweiblein auflesen müssen.«
Nach dem Kaffee setzten sich Lydia und Hannele zusammen hinaus in die Laube, und erstere schlang den Arm um die jüngere Freundin und sagte in innigem Ton: »Weißt, Hannele, ich fühl' dir alles nach, wie dir's zumute ist, daß du deine Leute hast hergeben müssen und deinen Peterle und dein Mariele!«
Bei letzterem Namen füllten sich Hanneles Augen sofort mit Tränen, und Lydia sagte: »Ja, wein' du nur! Ich sag' noch einmal, leicht ist's nicht, und daß du Heimweh kriegst, ist natürlich. Ganz im Kleinen weiß ich auch, wie's tut, wenn die Residenz auch nicht Amerika ist, und wenn ich auch von Zeit zu Zeit die Meinen sehen kann. – Ein wenig zu kämpfen hab' ich auch. Die Mädchen in der Nähstunde sind so ganz anders als die hiesigen, und sie lachen mich recht oft aus wegen meines bäurischen Sprechens, und daß ich nicht so Staat mache wie sie. Da will mir's auch manchmal schwer fallen, die Tante aber sagt, ich solle mir nichts daraus machen, ich gefalle ihr viel besser in meinem frischgewaschenen Kattunkleid und der schwarzen Schürze, als die andern mit ihren falschen Bröschlein auf den unsauberen Spitzenblusen.«
Da erzählte Hannele nun von dem, was sie vorhin bekümmert hatte. Als Lydia aber herzlich darüber lachte, da erschien ihr die ganze Sache auch nimmer so wichtig, nur wiederholte sie den Satz von Karline und sagte: »Weißt, Lydia, alles wär' recht, wenn die Großmutter nur nicht gar so altväterisch wäre und bei allem sagen würde: ›So war's eben in meiner Jugendzeit, und so sollt's noch sein.‹«
»Denk' dir nur, Hannele, gerade so sind mein Onkel und meine Tante, die können sich auch gar nimmer in die jetzige Jugend hereindenken, und manchmal wird mir's auch ein bißle schwer. Aber wenn ich dann so abends bei ihnen sitze und sie von der guten alten Zeit erzählen und schildern, wie damals alles so einfach war, da muß ich manchmal denken, behaglicher und gemütlicher muß es gewesen sein, und sie haben recht, man könnte noch viel draus lernen. Und weißt, Hannele, eine schöne Aufgabe hast du doch jetzt eineweg. Für deine Großmutter ist's doch fast noch ärger, daß deine Leute mitsamt den herzigen Enkelein fort sind. Und für all das hat sie jetzt nur noch dich, auch zum Schaffen und zum Helfen. Wirst's wohl jetzt auch so machen müssen wie ich, wenn mein Onkel und meine Tante oft ein bißchen verstimmt und mürrisch sind, daß ich ihnen dann eben ein heiteres Gesicht zeigen muß, wenn's mir auch nicht gerade leicht ist. Alt sein ist an und für sich kein Vergnügen, sagt Mutter.«
Hannele schmiegte sich fest an Lydia an; was diese sagte, war immer gut und wohltuend. »Das alles ist schon recht, und ich will's auch beherzigen, und ich hab' ja auch die Großmutter von Herzen lieb. Und es wird ja wohl auch nicht gar zu lange währen, bis ich den Meinigen nachkommen darf, – Vater hat mir das fest versprochen. Aber wenn sie mir nur mein Mariele gelassen hätten, mein Herzblättle, mein goldiges! Ich hätt's ja gepflegt und behütet, gewiß so gut wie die Mutter, und hätt's dann, wenn ich hinkomme, mitgebracht.«
»Aber eigentlich, gelt Hannele, gehört das Mariele doch mehr deiner Mutter als dir?« erwiderte Lydia in leicht scherzendem Tone. Und nun kamen die Buben mit Körben und Obstbrechern in der Hand, und alles ging in den Obstgarten, um einen Spätbirnbaum zu leeren, und Hannele bekam ihre ganze Schürze voll Früchte zum Mitnehmen.
Großmutter stand unter der Haustüre und rief schon von weitem: »'s ist eine Karte da, Hannele, eine Karte aus Hamburg!« Und dann setzten sie sich zusammen auf die Bank am Hause, und die Großmutter sagte: »Lies mir vor, Hannele.« Und auf der Karte mit dem Bild vom Hafen und den Hunderten von Schiffen stand, von der Mutter eng geschrieben:
Liebe Großmutter, liebs Hannele!
Bis hierher sind wir glücklich gekommen, und in einer Stunde gehen wir aufs Schiff. Als wir so mächtig lange auf der Eisenbahn fuhren, und manchmal auch hier in all dem Menschengetue und Getreibe hab' ich denken müssen: Wie steht's jetzt daheim, – wird's der Großmutter nicht zu viel werden? Hilft mein Hannele auch tüchtig? Und jetzt, heut werdet Ihr wohl den Apfelbaum leeren, und der Vetter soll Euch helfen, damit keins von Euch einen Schaden nimmt. Laß überhaupt den Vetter so oft kommen, als es möglich ist, Mutter, und spart das Geld nicht. Sowie wir drüben sind und verdienen, schicken wir, was wir erübrigen können. Das sagt auch Philipp. Wir haben hier noch allerlei kaufen müssen, was die Wirtin riet, das wir noch brauchten. Und jetzt geht's aufs Schiff, und ich hab' grausige Angst vor der Seekrankheit. Betet für uns, daß alles gut geht! Der Peter ist wie aus dem Häusle, seit er aus seiner Ordnung gekommen, das Mariele aber ist zufrieden, wenn's nur sein Schoppele hat. Eben sagt's so herzig: »Ann-Ann!« und guckt sich dabei um. Es hat sein Hannele noch nicht vergessen. Und jetzt behüt' Euch Gott tausendmal! Philipp ist unten in der Wirtsstube und zahlt.
Eure ewig getreue
Kathrine.
Oft und oft wurde an diesem Abend immer wieder das Bild betrachtet und der Mutter Worte gelesen, und unzähligemal sagte Hannele: »Glaubst du, Großmutter, daß mein Mariele wirklich sich nach mir umgeschaut hat? Glaubst du wirklich, Großmutter, daß es noch ein bißle an mich denkt? Weißt, ich mein' eben, so denkt, wie so ein ganz, ganz kleins Kindle es kann? Und was meinst du, wenn ich einmal hinüberkomme, wird's mich noch wiedererkennen?«