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28. März.

Benedikta hat geplaudert, Graf Peter weiß alles! Mein Gott, was soll ich ihm sagen, wie soll ich ihm gegenübertreten? Die Frage wiederhole ich mir seit gestern ohne Unterlaß, und immer weiß ich noch nicht, wie mich zu verhalten.

Einerseits war ich gar nicht böse darüber, daß er die Wahrheit erfahren hat. Unklare Situationen sind mir von jeher unerträglich gewesen und ich erinnere mich sehr genau, wie ich als kleines Mädchen die Tante gebeten habe, mir lieber »zwei Ohrfeigen auf einmal« zu geben, statt irgend ein Strafgericht für den Abend aufzusparen. Da nun dieses Mal auch ein solches über meinem Haupte schwebte, war mir's gar nicht unlieb, mein Urteil etwas früher zu empfangen. Aber wie mich dabei anstellen, wie und womit meine Rede einleiten? Das wollte mir um keinen Preis einfallen, oder all meine Pläne entfielen mir wieder, sobald ich mich der verhängnisvollen Thür näherte.

Zehnmal wenigstens habe ich an diesem Nachmittag die Thürklinke in der Hand gehalten, und jedesmal packte mich im entscheidenden Momente eine solche Angst, daß ich sie schleunigst wieder losließ. Mein Verstand mußte sich offenbar ganz in der Bibliothek, die ich mir für jetzt zum Wohn- und Schlafraum erkoren, eingenistet haben, denn sobald ich dort war, flossen mir Gedanken und Worte nur so zu, ich bewegte mich edel und würdevoll, und Sätze, die auch ein steinhartes Herz erweichen mußten, traten mir ganz von selber auf die Lippen. Ich hielt förmlich Probe, stellte mich vor einen Diwan, auf welchem ich mir Herrn von Civreuse liegend dachte, und ergriff einen Zipfel des Kissens, wie ich mir vorgenommen hatte, seine Hand zu ergreifen.

»Mein Herr,« sprach ich mit zitternder, bewegter Stimme, »ich flehe um Vergebung! Meine That war die einer Wahnsinnigen, und wie ich jetzt nicht ohne das tiefste Entsetzen an dieselbe denken kann, so wird sie in meinem Gewissen für Lebenszeit einen Stachel zurücklassen. Ach! Sie sehen ja, wie unglücklich ich bin – o bitte, bitte, sagen Sie mir, daß Sie mir nicht zu sehr zürnen! Ehe ich dieses Wort von Ihren Lippen gehört habe, kann ich keinen Frieden finden, kann meinen eignen Anblick nicht mehr ertragen, denn die Vorwürfe, die ich mir selbst mache, sind viel, viel schwerer, als alles, was Sie mir sagen könnten!«

Das Kissen zog dann meine Hand an seine Lippen, küßte mir die Fingerspitzen und gewährte mir, ohne sich lange bitten zu lassen, volle Begnadigung. Daraufhin machte ich mich dann, ganz durchdrungen von der Kraft meiner Worte, auf den Weg, aber schon, wenn ich die Thür hinter mir schloß, wurde meine Rede etwas unklar; während ich durch das Vorzimmer ging, entfiel mir die eine Hälfte, und die andre kam an der feindlichen Thürschwelle abhanden, so daß ich mit leeren Händen am Orte der Entscheidung stand.

Dann kehrte ich mit einem Satze wieder in meine Verschanzung zurück, und wie ich mir die Hexerei erklären soll, weiß ich nicht, aber es stellten sich sämtliche Gedanken und Redewendungen unterwegs wieder ein; aus Schwellen und Getäfel schienen sie sich zu erheben und kehrten so willig und in richtiger Ordnung an ihren alten Platz zurück, derart, daß ich, bei dem symbolischen Sofa angelangt, wieder vollkommen Herr meines Denk- und Sprachvermögens war und aus dem Stegreif noch weit überzeugendere und ergreifendere Dinge vorbringen konnte als zuvor.

Schließlich mußte dem Zaudern ein Ende gemacht werden, es dämmerte stark und ich konnte doch Herrn von Civreuse nicht zu ewiger Nacht verdammen, aus dem einfachen Grunde, weil ich nicht wagte, mit der Lampe in sein Zimmer zu treten. Daß sich bei allem Besinnen und Vorbereiten nur immer jene lächerlichen Schwankungen wiederholen mußten, war offenbar, und so blieb mir nichts übrig, als mich selbst zu überrumpeln.

Gesenkten Hauptes, wie wenn ich jemand auf die Hörner nehmen wollte, trat ich ein und ging schnurstracks, ohne ein einziges Mal innezuhalten, auf das Bett zu, wobei ich mich meinem glücklichen Stern anvertraute, zu dem ich dieses Mal das schöne Vertrauen hatte, daß er mir das rechte Wort zu rechter Zeit eingeben werde.

Aber Herr von Civreuse fing, nachdem er mich gegrüßt hatte, an mit einer so seltsamen Beharrlichkeit und so auffallendem Interesse nach dem Hintergrunde des Zimmers zu blicken und zwar, indem er sich vorbeugte und das Auge zudrückte, um die Thür, durch die ich hereingekommen war, genauer zu sehen, daß ich mich trotz meines Herzeleids rasch umdrehte, um mich zu überzeugen, ob ich nicht irgend einen ungewöhnlichen oder drolligen Gegenstand etwa am Kleide nachschleppe. Es war nichts zu entdecken, und mein Erstaunen wahrnehmend, sagte er ruhig: »Ich glaubte, Sie würden von jemand verfolgt, gnädiges Fräulein.«

Sichtlich beruhigt sank er in seine Kissen zurück, wo er sich wieder sehr behaglich zu fühlen schien; mit halbgeschlossenem Auge und so der Ruhe bedürftig lag er vor mir, daß auch kühnere Seelen als ich den Mut verloren hätten, ihn mit irgend welcher aufregenden Erklärung zu behelligen und seinen Frieden zu stören. Regungslos, jeder Zug Verblüffung, immer mit den Lippen Worte bildend, die ich nicht aussprach, die Lampe in der Hand, ohne daran zu denken, sie abzusetzen, stand ich fürchterlich ungeschickt und verlegen vor ihm. Ach, wer mir nur zu einem Tausendstel von Herrn von Civreuses stolzer Haltung verholfen hätte oder nur wenigstens beigestanden hätte, Arm und Beine, deren ich noch nie so viele und so wenig lenksame zu besitzen geglaubt hatte, naturgemäß unterzubringen.

Er natürlich lehnte in den Kissen, majestätisch wie ein römischer Cäsar, er in seiner bequemen Lage hatte ja keine ungeschickte Bewegung zu fürchten und mit frevelhaftem Uebermut machte er diesen Vorzug geltend.

Lange konnte die Situation nicht dauern, sonst mußte sie unrettbar der Lächerlichkeit anheimfallen, und überdies wirkte diese herausfordernde Kälte wie ein Stacheln mit scharfem Sporn auf mich. Wenn er mir nicht zu Hilfe kommen wollte, so mußte ich eben aufs Geratewohl loslegen und ohne weitere Umschweife auf den Kern der Sache zusteuern.

Gesagt, gethan. Ich trat noch einen Schritt näher, stellte die Lampe auf den Tisch und: »Hier ist Ihre Lampe, Herr Graf,« begann ich rasch – leider stand mir im Augenblick keine originellere Wendung zu Gebot – »und ich bitte Sie, mir zu glauben, wie herzlich leid mir der bedauerliche Unfall thut, an dem Sie noch leiden, ach, es war wahrhaftig nicht meine Schuld!«

»Du lieber Himmel, mir kann man dieselbe doch auch nicht in die Schuhe schieben,« bemerkte er ganz ruhig, die Stirn etwas hinaufziehend und mich ansehend.

»Das meine ich ja nicht,« stotterte ich, schon außer Fassung.

Und als er mit dem Ausdruck: »Nun, das lassen Sie gut sein,« die Achseln zuckte, fuhr ich heftig fort: »Das heißt, ich weiß wohl, daß es meine Schuld war, freilich … ich wollte nur sagen, daß ich es nicht mit Absicht gethan habe.«

»Was ich Ihnen vollkommen glaube, mein gnädiges Fräulein,« versetzte er mit seinem spöttischen Lächeln.

»Denn,« sprach ich immer aufgeregter weiter, »wie habe ich denn denken können, daß jemand vor dem Hause stehe? Der Weg gehört uns und es kommt so selten vor, daß jemand hier vorbeigeht.«

»Ach, das ist ja so natürlich,« bemerkte er mit seiner unausstehlichen Ruhe. »Meine Anwesenheit war in jeder Hinsicht unberechtigt und unzeitig, und sobald ich den Fuß auf Ihren Grund und Boden gesetzt, waren Sie ganz in Ihrem Rechte. Auf seinem Sitze kann der Feudalherr schalten und walten nach Belieben, und braucht irgend einer von uns ›acht!‹ zu rufen, wenn er seine eignen Streitigkeiten ausficht, wie und wann und wo er will? Die, welche vorübergehen, sollen gefälligst in die Höhe sehen und dem Schlage ausweichen!«

»Ach, mein Herr!« rief ich, vor Entrüstung ganz außer mir. »Sie legen mir Dummheiten in den Mund, die ich, wie Sie ganz gut wissen, nie gesagt und nie gedacht habe! Ich komme, Sie um Verzeihung zu bitten, und Sie antworten mir mit nichts als Bosheiten.«

Ich fühlte, daß die Thränen sich nicht mehr lange zurückhalten ließen, so sehr ich auch dagegen ankämpfte, und wollte mich schleunigst aus dem Staube machen, er aber hielt mich durch eine Handbewegung fest und sagte, diesmal ohne die kühle Gelassenheit: »Gnädiges Fräulein, jetzt bin ich es, der um Verzeihung bittet! Ich bin ein Barbar gewesen und ich könnte mich hassen, meiner treuen, aufopfernden Pflegerin Thränen entlockt zu haben. Wollen Sie mir vergeben?«

Thränen hervorrufen und sie stillen, ist aber zweierlei, und wenn ich auch zu lächeln versuchte und bejahend mit dem Kopfe nickte und mir auf die Lippen biß und mein fest zusammengedrücktes Tuch auf die Augen preßte, daß es mich schmerzte, der Strom war einmal entfesselt und trotz all meiner Selbstbeherrschung war und blieb ich für eine gute Weile ein Springquell.

Zeichnung: E. Bayard

Herr von Civreuse wiederholte von Zeit zu Zeit seine Entschuldigungen, und ganz im geheimsten Herzensgrund freute es mich beinahe, dies kalte Auge endlich ein bißchen angstvoll und verlegen blicken zu sehen. Nach all dem Kummer, den ich seit vierzehn Tagen um ihn ausgestanden hatte, war das nicht mehr als billig. Uebrigens habe ich keinerlei Rache geübt, habe so bald als irgend möglich zu weinen aufgehört, denn ich sah wohl, wie peinlich ihm dies Abwarten wurde, und beide haben wir, sobald ich wieder zu sprechen im stande war, aus einem Atem gesagt: »Sie sind mir also nicht böse? Sie haben mir also wirklich vergeben?«

Ich streckte ihm die Hand hin, um mein früheres Programm doch einigermaßen festzuhalten, nur begnügte er sich, dieselbe leise zu drücken und mit einem Lächeln, das ausnahmsweise frei von Ironie war, zu sagen: »Also vollkommene Amnestie, auch für ihn, nicht wahr?«

Und dabei wies er mit dem Finger nach der unglückseligen Statuette meines Heiligen, die sich, ich weiß nicht durch welches Wunder, wieder in einer Ecke meines Zimmers vorfindet.

Natürlich wurde ich rot bis unter die Haare, was bei dem ohnehin schon zweifelhaften Zustande meines Gesichtes, in dem vermutlich eine geschwollene, anmutig leuchtende Nase zu sehen war, sehr traurig gewirkt haben muß. Da keine Antwort kam, fürchtete Herr von Civreuse offenbar, die Thränenschleusen möchten sich von neuem aufthun, und beeilte sich, hinzuzusetzen: »Seien Sie ganz ruhig, gnädiges Fräulein, über die Ursache Ihres Grolles bin ich vollständig im unklaren; ich kenne nur die Strafe des Heiligen, nicht seine Schuld.«

»Daran zweifle ich nicht, denn um die zu erfahren, müßten Sie Gedanken lesen können. Ich habe keiner Menschenseele etwas davon anvertraut.«

Er drang nicht weiter in mich, und ich eilte davon, um meine Augen mit frischem Wasser zu kühlen.

Eben ging der Doktor weg, ganz entzückt über die Verfassung, in welcher er die Stirnwunde gefunden hatte. Er sagt, daß die Heilung mit einer ans Wunderbare grenzenden Geschwindigkeit vor sich gegangen sei, teilte mir aber im Vertrauen mit, daß er bei dem Knie noch keine Besserung wahrnehmen könne, und daß viel Zeit und vollständig bewegungslose Lage allein eine gründliche Wiederherstellung möglich machen. Gebe der Himmel, daß Herr von Civreuse willens ist, diese bittere Medizin zu verschlucken.

Mir ist jetzt so leicht ums Herz und ich fühle mich unsäglich getröstet, wenn ich bei meinem Kranken bin. Keine peinlichen Erklärungen mehr fürchten müssen, das ist eine große Wohlthat, und wenn auch seine Stimmung dadurch nicht wesentlich gebessert ist, so ist mir doch um vieles wohler zu Mute.

Er ist immer ein wenig finster und düster, kühl und förmlich und bei jeder Gelegenheit zum Spötteln geneigt.

»Ich bin mit diesem Hang zum Brummen und Knurren auf die Welt gekommen,« hat er vorhin zu mir gesagt, »und, sehen Sie, weil kein Mensch daran gedacht hat, dies zarte Unkräutlein in meinem Lebensfrühling auszurotten, ist's nun ein kleiner Eichbaum geworden.«

»Und was sagen Ihre Freunde dazu?« habe ich gefragt.

»In der Regel finden sie sich drein, und wenn sie es müde sind, beschneiden sie ihm die Zweige ein wenig.«

»Ich muß sagen, da sind dieselben recht gutmütig,« konnte ich nicht umhin zu bemerken, »an ihrer Stelle würde ich anderswo Schatten suchen als unter dieser kleinen Eiche, der Platz scheint mir nicht ganz geheuer.«

Da hat er die Augenbrauen in die Höhe gezogen, wie er es immer thut, wenn er sich ärgert und nichts sagen will. Ich habe schon lange herausgekriegt, daß dies in deutlichen Worten nichts andres heißt als: »Mach, daß du fortkommst,« und fort ging ich und bin jetzt noch nicht wieder hineingegangen.

Schließlich muß ich sagen, daß es mir ebenso geht wie seinen Freunden und daß ich an diesem kräftigen, aber knorrigen Eichbaume sehr viel zu beschneiden finde.

 ,

Graf Peter an Jacques.

»Kennst Du ein alltäglicheres und dabei unwiderleglicheres Beweismittel als die Thränen? Es ist alt wie die Sünde, jeder bedient sich desselben, jedermann weiß, wie die Sache gemacht wird, und trotz alledem läßt sich jeder dadurch erweichen. Eva zuerst hat dadurch Vergebung erlangt und hat ihre erste Versöhnung mit diesem wohlthätigen Naß geweiht, und Fräulein von Erlan – ohne eine Aehnlichkeit zwischen den beiden Fällen aufstellen zu wollen – hat dieses Mittel soeben so erfolgreich angewandt, daß der Friede nicht nur geschlossen ist, sondern daß ich der um Gnade flehende Teil geworden bin.

»Kannst Du Dir eine lächerlichere und zugleich peinlichere Rolle vorstellen, als die eines Mannes, der einer Frau, und dazu einer ihm ganz fremden, Thränen erpreßt? Das Tuch vor den Augen, die zitternde Stimme, die stoßweise gesprochenen, von Schluchzen unterbrochenen Sätze, von denen man kaum die Hälfte versteht, das alles macht, daß man sich wie ein Henkersknecht vorkommt und nicht weiß, was für eine Miene man machen soll.

»Sie ansehen, wäre Mangel an Zartgefühl, den Kopf abwenden, ist frivol und gibt einem das Ansehen, als ob man sagen wollte: ›Pah, was scheren mich deine Thränen!‹ und so bleibt nichts, als zu schwören, daß man der verworfenste Sünder der Erde ist, und de- und wehmütig um Verzeihung zu bitten.

»Ich weiß nicht, ob es Dir auch so geht, aber ich finde, daß alles, was man selten empfunden und erfahren hat, einen weit mehr und tiefer erschüttert, als alles, was man an sich schon kennen gelernt. Wenn man mir von einer Fleischwunde oder einem Knochenbruch erzählt, so weiß ich, was das ist, ich habe es selbst durchgemacht; aber diese Thränen, dieser unaufhaltsame, ununterbrochene, ungestüme Strom hatte so wenig Aehnlichkeit mit den seltenen, immer vor aller Welt verborgenen Tropfen, die meine Augen je vergossen haben, daß ich mit dem unklaren Angstgefühl, das alles Unbekannte uns einflößt, darauf hinstarrte und mich vergebens fragte, wann und wie das enden solle, was hernach aus Fräulein von Erlan werden würde, und ob sie nicht in Gefahr stand, sich vollständig aufzulösen wie eine Najade, die einen rieselnden Quell speist! Selbstverständlich war ich bereit, auf alle Bedingungen einzugehen, und ganz glücklich, Leid gegen Leid abzuwägen und ihr meine vollste Verzeihung zu gewähren, wenn sie mir nur die ihrige zu teil werden lassen wollte.

»Herr, mein Gott! Ich, der ich so viel Aufhebens von dieser Unterredung gemacht, ich, der ich in meinem gerechten Zorn diesen kleinen Sprudelkopf so vollständig zu beherrschen und zu demütigen gewähnt, der ich mir haarklein alle die Wahrheiten zurecht gelegt hatte, die ich ihr sagen wollte und die zu hören ihr sicherlich äußerst heilsam gewesen wäre! Du lachst, Verräter!

»Dies Lachen ist sehr übel angebracht, kann ich Dir sagen, und nie war ich weniger in der Stimmung, Dir recht zu geben! Uebrigens ist bei unsrem Friedensschlusse von Abrüstung nicht die Rede gewesen – das gute Einvernehmen ist hergestellt, aber nur in Bezug auf einen einzigen Punkt. Wir werden von nun ab die Veranlassung dieses monatelangen Beisammenseins – ich denke mit Schaudern daran – nicht mehr berühren, aber es wird nicht an der Gelegenheit fehlen, über recht viele Dinge auseinandergehender Ansicht zu sein.

»Stell' Du Dir in allem und jedem die größten Gegensätze vor: Schwarz und Weiß, Wasser und Feuer, und Du hast unser Bild und brauchst Dir nur noch die große getäfelte Halle dazu zu denken, in der ich festgenagelt bin, wie irgend ein alltäglicher Gegenstand, in der ich wie ein zusammengeleimter Nippesgegenstand, der zum Trocknen aufgehängt wird, vor Anker liege.

»Aber halt, meine Schilderung stimmt nicht, von vollkommenen Gegensätzen ist nicht die Rede, denn sie hat Aehnlichkeit mit mir, und das gerade ist es, was ich Dir schon gesagt habe, was mir so unerträglich an ihr ist! Sie trägt Frauenkleider, hat eine Mähne, wie ich sie höchstens zur kriegerischen Zeit der Merovinger in Anspruch hätte nehmen können, und eine gewisse Taufrische von Reinheit und Unschuld, die mir entschieden abhanden gekommen ist, ruht noch auf ihr, aber abgesehen von diesen Unterschieden sind wir Zwillinge. Nun mußt Du zugeben, daß ein Mädchen sich ein besseres Vorbild hätte wählen können als Deinen teuren Freund, und daß jede Abweichung von demselben einen Gewinn an Anmut und Reiz bedeuten würde.

»Von allen Sorten der Weiblichkeit ist mir ›der gute Kerl‹ immer die wenigst anziehende gewesen, und leider muß ich Fräulein von Erlan in diese Kategorie rechnen. Ich würde sie weit lieber träumerisch, kokett, zimperlich, nervös, launisch, ach, alles was Du willst! haben und könnte dann diese gezwungene Klausur zu einer Studie nach dem Leben benutzen, die an Mannigfaltigkeit nichts zu wünschen übrig ließe. Statt dessen hat sie jene fröhliche, gutmütige Zutraulichkeit, die ihren Ausdruck in dem charakteristischen Händeschütteln findet, das die sehnigen Hände und die spitzen Ellbogen der Töchter Albions bei uns eingeführt haben, eine Untugend, die ich ihnen am wenigsten verzeihe! Vorhin, in ihren Thränen, war sie schon etwas weiblicher, wobei ich aber keineswegs behaupten will, daß ich mich in diesem Momente wohler gefühlt oder besser amüsiert hätte; allein ich klebe nun einmal an den alten Bräuchen und ich will ein junges Mädchen schüchtern, demütig, wenn's sein muß, sogar ein wenig feige und ängstlich, etwas schwärmerisch und idealistisch, kurz, so gut wie Frauen- und Männerstimmen verschieden sind, so will ich ihr ganzes Wesen eine Oktave höher als die unsre.

»Bei Lichte betrachtet, wird sie mir jedoch so, wie sie ist, mehr Zerstreuung verschaffen. Ich zog aus, um neue Länder, fremde Typen, Originelles in Land und Leuten zu studieren, und man behauptet ja, was der Franzose am wenigsten kenne, sei Frankreich! Studieren wir also denn Frankreich, mein Freund, da wir einmal daran sind, und nimm Du die Betrachtungen des Reisenden ebenso wohlwollend auf, als ob sie von den heiligen Ufern des Ganges und den nicht minder heiligen Gipfeln des Himalaya kämen; jedenfalls werden sie den Vorzug haben, neugebackener bei Dir anzukommen und nicht durch die Seefahrt an ursprünglichem Duft zu verlieren, und wenn man daran denkt, wie viel Hübsches Bernardin de Saint-Pierre auf einem einzigen Erdbeerblatte zu entdecken gewußt hat, so müßte ich doch wahrhaftig fürchterlich ungeschickt sein, wenn ich auf dem ganzen Morgen Landes, der mir zur Verfügung steht, nichts finden sollte.

»Da bin ich nun etwas abseits vom Wege gekommen und grase am Grabenrande philosophische Betrachtungen ab, wie ein fauler Esel, ohne zu bedenken, daß die Kutsche, in der Du Dich mir anvertraut hast, dabei etwas ins Humpeln geraten wird. Du willst Geschichte, Thatsachen, nicht wahr? Wir sind, soviel ich weiß, bei Fräulein von Erlans Thränen stehen geblieben, und da stellst Du Dir nun wohl vor, daß ich dieselben mit einem Worte gestillt, wie ich sie, zu meiner Schande sei es gesagt, mit einem Worte hervorgerufen habe – natürlich meinst Du, die Sache sei abgethan gewesen, sobald ich mich entschuldigt hatte, und gleich darauf sei die allererfreulichste Harmonie unsrer Seelen zu Tage getreten.

»O, mein Freund! Der Himmel behüte Dich davor, je im Leben Erscheinungen hervorzurufen, über die Du nach einer Sekunde schon nicht mehr Herr bist, denn das ist entsetzlich! Man sagt, der Mensch fühle sich klein, wenn er einen Strom übers Ufer treten sehe und macht- und hilflos der Naturgewalt gegenüberstehe. Was soll man dann von den Thränen eines jungen Mädchens sagen? Ist dieser Strom etwa leichter einzudämmen? Ich war sanft wie ein Lamm, demütig wie ein Hündlein, ich krümmte mich wie ein Wurm – die Flut strömte unaufhaltsam weiter und wunderbar war es, zu sehen, wie das nämliche kleine Taschentuch, nicht größer als meine Handfläche, gedreht, gewendet, zusammengeballt, mißhandelt, doch immer noch seine Schuldigkeit that! Zusammengeballt deckt es gerade ein Auge und deshalb mußte das eine immer nach dem andern betupft werden, was mit einer so taschenspielerartigen Geschwindigkeit geschah, daß man sich der Teilung kaum bewußt wurde, und trotz der Verzweiflung, die mich erfüllte, konnte ich diese fabelhafte Geschicklichkeit nicht ohne Spannung verfolgen.

»Ich muß übrigens zugeben, daß Fräulein von Erlan keine unerlaubten Vorteile aus unsrer beiderseitigen Lage zog und sich, sobald es ihr möglich war, tapfer gefaßt hat. Ohne Bitterkeit oder Empfindlichkeit streckte sie mir dann die Hand hin und setzte sich, nachdem sie vorher Miene gemacht hatte, sich zur Thür hinauszustehlen, auf meine Bitte neben mich.

»Vieles hatte ich gut zu machen, und die leidensvolle Viertelstunde, die meine Böswilligkeit über sie verhängt hatte, mußte durch große Liebenswürdigkeit aufgewogen werden, das fühlte ich. Es galt jetzt, mich anzustrengen, zu plaudern, sie zu zerstreuen, mit einem Worte, den Vorwurf der Herzensroheit von mir abzuwaschen, und ich glaube, mich leidlich aus der Sache gezogen zu haben.

Zeichnung: E. Bayard

»Anfangs unterbrachen heftige Stoßseufzer ihre Worte, sowie reichliches Aufschluchzen, wie es aus bedrängtem Kinderherzen kommt, und von Zeit zu Zeit schimmerte an ihrer Wimper wieder ein Tröpfchen, das die Hilfe des berühmten Taschentuches nötig machte, aber nach und nach zerstreuten sich die letzten Gewitterwolken, die Sonne strahlte wieder, und meine kleine Pflegerin entfaltete eine Lebhaftigkeit, der ich kaum zu folgen vermochte.

Zeichnung: E. Bayard

»Sie steckt einen Scheiterhaufen in Brand, daß man einen Eimer Wasser darauf gießen muß.«

»Sprechen scheint ihr ungeheures Vergnügen zu machen; sie betreibt es rasch, lebhaft, nicht sehr zusammenhängend, wie wenn es ihr um eine heilsame Zungengymnastik zu thun wäre. Fragen, Einfälle, Gedanken, Thatsachen, das kollert in buntem Allerlei durcheinander; ohne viel Federlesens wirft sie einem alles hin, wie man einer Schar Sperlinge eine Handvoll Körner hinwirft: ›Pip! Pip! Jeder nehme was er erwischt!‹ Die Parabel vom Säemann im Evangelium wird ihr wohl nie Kopfschmerzen gemacht haben, und wie viele von ihren Weisheitskörnern unter die Dornen oder auf den Fels fallen, ist sicherlich ihre geringste Sorge.

»Dabei mußt Du nicht an eine alltägliche Klatschbaserei denken. Diese unversiegbare Redelust geht, wenn mich nicht alles täuscht, nur aus einer überströmenden Lebensfülle hervor, und den Ueberschuß von Kraft, für den sie anderwärts keine Verwendung findet, gibt sie hier aus. Freilich genügt dies eine Ventil nicht, im Plaudern geht sie hin und her, neckt und quält ihren Hund, facht das Feuer in einer Stunde zwanzigmal an und stöbert es wieder auseinander, so daß es natürlich halb erlischt und das ganze Zimmer voll Rauch und Qualm ist. Dann entschuldigt sie sich, reißt das Fenster auf und steckt einen Scheiterhaufen in Brand, daß die Flammen an der Kamineinfassung hinaufschlagen und man einen Eimer Wasser darauf gießen muß, um größeres Unheil zu verhüten.

»Wenn sie sitzt, so zieht sie nacheinander beide Beine herauf, türkisch wie ihr Kaffee, und schaukelt mit dem Oberkörper, daß man fortgesetzt für ihr Gleichgewicht zittert, das sie jedoch, die Gerechtigkeit muß man ihr angedeihen lassen, bewundernswert erhält; nur komme ich vom Zusehen etwas außer Atem.

»›Ich finde Sie ein wenig fieberisch,‹ sagte mir kurz darauf mein Doktor. ›Was soll das heißen? Hätten wir zu früh mit der kräftigen Ernährung angefangen und müssen wir wieder Krankenkost als Dämpfer anordnen?‹

»›Dämpfen Sie lieber den Irrwisch!‹ war ich versucht zu antworten.

»Aber schließlich, siehst Du, Jacques, sind vierzehn Stunden Einsamkeit im Tage ein bißchen viel, zumal wenn einem die Beine gebunden sind, da darf man nicht allzu wählerisch sein in Bezug auf die gebotene Unterhaltung.

»Durch unsere äußerst mannigfaltigen Gespräche weiß ich nun auch mit Dingen und Menschen unsrer Umgebung Bescheid.

»Das Gebäude, das ich Dir vielleicht etwas anspruchsvoll als Schloß bezeichnet habe, hält entschieden nicht, was es von außen verspricht, und hat große Verwandtschaft mit einer Theatercoulisse, hinter welchen bekanntlich auch die Enttäuschungen gedeihen. Seine Pracht und Herrlichkeit stammt von Ludwig XIII. her, sein Verfall von der Revolution, was, wie Herr Prud'homme Dir sagen würde, den Beweis liefert, daß das Unglück aus weit dauerhafterem Stoffe als das Glück ist, so oft auch schon das Gegenteil behauptet wurde, während es meiner Ansicht nach nur darauf hindeutet, daß Steine nicht länger als hundert Jahre aufeinander zu bleiben die Güte haben, wenn ihnen niemand unter die Arme greift. Wie dem auch sei, ein Flügel des stolzen Baues, ein großer Glockenturm und zwei niedliche Türmchen, haben schon den Tribut der Vergänglichkeit alles Irdischen bezahlt.

»Uebrigens sind die Türme, als Leute aus der besten Gesellschaft, ohne viel Geräusch und Aufheben eingefallen, einfach wie Menschen, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können und es vorziehen, an der Erde Platz zu nehmen. Der Epheu, den sie mit sich zu Boden gerissen, hat im nächsten Jahre immer weiter gegrünt und gewuchert, und nachdem sie sich überzeugt haben, daß hier von Ausgejätetwerden keine Rede ist, haben Unkraut, Goldlack und wilde Rosen zu blühen angefangen, und die Vögel, die hier sicheren Schutz und fröhliches Duften und Blühen vorfanden, haben sich eingenistet.

»›Geschichte aller alten Mauern!‹ sagst Du nun, ›halte dich doch mit der Beschreibung nicht auf; ein verfallenes Schloß ist wie das andre!‹

»Und willst Du wohl auch behaupten, daß die Eigentümer verfallener Schlösser sich dieser Thatsache gegenüber auch überall gleich verhalten? Glaubst Du vielleicht schon viele Orte gesehen zu haben, wo man sich unter solchen Umständen benimmt, wie in Erlan?

»Wenn die Eidechsen so sehr überhand nehmen, daß ihr Luftschnappen derart vernehmbar wird, daß es an den unheimlichen Ton eines letzten Röchelns gemahnt, und wenn die Steine an windigen Tagen entschieden ins Wackeln geraten, so rafft jeder sein persönliches Eigentum zusammen, faßt auch wohl bei andern beweglichen Gegenständen mit an, und mit philosophischem Gleichmute verpflanzt man sich und seine irdische Habe in einen gastlicheren und etwas vertrauenerweckenderen Teil des Gebäudes.

»Der erste Sturm tritt dann sein Herrenrecht auf den eben verlassenen Flügel an, dieser stürzt zusammen und wird zur Behausung der Eulen und Krähen, während die Auswanderer sich's in Seelenruhe dicht daneben heimisch machen, sich den neuen Räumen anpassen, deren Vor- und Nachteile herausfinden und die ganze Sache so selbstverständlich finden, wie es seiner Zeit ein gallischer Volksstamm fand, sein Lager abzubrechen, wenn ihn nach einem andern Himmelsstriche und nach anderm Wilde gelüstete.

»Auf diese Weise hat man nacheinander den nördlichen mit dem südlichen Turme vertauscht, und den rechten Flügel mit dem Mittelbau, und wenn dieser Mittelbau zu weichen anfängt, was bei der diesjährigen Schneelast durchaus nicht unwahrscheinlich ist, so hat man noch einen linken Flügel, der eine Restauration jüngeren Datums zu genießen gehabt hat, in Aussicht, und dazu noch einen, nein, zwei Türme, die Kapelle und das Wirtschaftsgebäude.

»Das wird hinreichen, selbst den Enkeln des Fräuleins von Erlan ein schützendes Dach zu sichern, jedenfalls aber die Lebenszeit dieser geheimnisvollen, unsichtbaren Tante, die mir noch gänzlich unbekannt ist und die ich nächstens für ein Fabelwesen halten werde, überdauern.

»Wenn das nicht Wahnsinn ist, so ist es entschieden auf die Spitze getriebene Philosophie, und dabei buchstäblich wahr. Fräulein von Erlan scheint dies Verfahren auch ganz natürlich zu finden, und wenn man sie darüber sprechen hört, so meint man, es sei von dem allerunbedeutendsten Platzwechsel die Rede, wie wenn man sich etwa in einem Garten auf die schattige Seite setzt, wenn einem die Sonne lästig wird.

»›Du liebe Zeit, es fiel eben ein – was hätten Sie denn gemacht?‹ fragte sie mich, als sie mich die Augen etwas erstaunt aufreißen sah. ›Wären Sie drin geblieben?‹

»›Nein, ich hätte den Bau wieder hergestellt,‹ erwiderte ich.

»›Ach so! Da wären dann Benedikta und ich die Maurer gewesen und Franzel hätte uns den Kalk angerührt.‹

»›Wer ist denn Franzel?‹

»›Meine Stute, ein gutes, altes Tier, das nur noch mit Holpern wieder in seinen Stall zurückkommt; Sie sollen sie zu sehen kriegen; sie kommt in meinem Herzen gleich nach meinem Hunde.‹

»›Aber müssen Sie sich denn nicht auch sagen,‹ konnte ich nicht umhin, zu bemerken, ›daß es Sünde und Schande ist, einen so schönen Besitz einfach einstürzen zu lassen? Fühlt denn Ihre Frau Tante das nicht?‹

»›Pah!‹ machte sie achselzuckend und mit einem spöttischen Auflachen. ›Die Tante, die weiß, daß die Mauern von Erlan schon noch so lange aushalten, wie sie selbst, und wenn sie die Gewißheit hat, daß ihr zeitlebens ein Dach überm Kopfe bleibt, kümmert sie das Nachher blutwenig!‹

Zeichnung: E. Bayard

»Ich wagte nicht, das Gespräch, das allzu persönlich zu werden drohte, weiter fortzusetzen, und wir begaben uns wieder auf ein allgemeines Gebiet. Aeußerst vergnüglich und humoristisch beschrieb mir mein junges Gegenüber, auf welche Weise sie ihrem Zimmer zu Möbeln verholfen, wie sie sich aus jedem Raume das Brauchbarste und am leichtesten zu Transportierende angeeignet und selbst auf die Betstühle aus der Kapelle ihr Eigentumsrecht geltend gemacht hatte.

»Auf diese Art erklärte sich mir denn auch der halb klösterliche Anstrich des Raumes, der mich beim ersten Erwachen stutzig gemacht hatte.

»Sie nennt sie ihre ›fliegenden Stühle‹ und zog im Verlaufe des Gespräches einen nach dem andern an mein Bett, um mich die alten Betstühle bewundern zu lassen.

»›Sie sind alle ganz gleich, das ist langweilig, nicht wahr?‹ fragte sie, ›aber im Vergleiche mit meinen Sofas sind sie noch äußerst niedlich und reizend. Haben Sie die gestickten Herrschaften auf meinen Kanapees schon angesehen?‹

»Und im Handumdrehen ergriff sie eines der steiflehnigen Gestelle und rollte es mit Donnergepolter durch die Stube bis zu mir, um es dann mit ebenso großer Geschwindigkeit und nicht minderem Lärm wieder an seinen Platz zu befördern.

»Aus all diesem konnte ich jedoch ersehen, daß dies Schloß von innen ebenso verwahrlost und verwüstet ist, wie von außen, und ich frage mich vergebens, welche Räuberbande hier gehaust haben könnte. Nachlässigkeit und Mangel an Sorgfalt hätten dazu doch nicht ausgereicht, und so wenig die Zeit auch den Dingen dieser Welt zum Vorteile gereicht, pflegt sie doch nicht ganze Einrichtungen auf ihrem Rücken davonzuschleppen, zu dem Zwecke muß ihr schon das Elend ein wenig zu Hilfe kommen. Dieser Gedanke war mir außerordentlich peinlich, denn in dem Falle konnte meine Anwesenheit für die beiden Schloßherrinnen eine beträchtliche Last sein, und ich nahm mir schon im stillen vor, über diesen Punkt den Doktor auszuholen und ein offnes Wort mit ihm zu sprechen, als Fräulein von Erlan, die sich nicht schlecht darauf zu verstehen scheint, den Leuten ins Herz zu blicken, mit einem Mal den Stier bei den Hörnern faßte und meinen Gedanken Worte lieh.

»›Ach, nun sind Sie ganz bekümmert, weil Sie uns nicht so reich finden, als Sie geglaubt haben,‹ rief sie. ›Aber seien Sie ohne Sorge! Wenn auch in Erlan die Tische und Stühle, die wir brauchen, nicht auf den Bäumen wachsen, so haben wir doch alle Gemüse, die es nur geben kann, und Hühner und Enten in Menge, und da meine Tante, die ihrem teuren Selbst nichts abgehen läßt, es noch immer fertig gekriegt hat, satt zu werden, so glaube ich, daß sie noch lange nicht auf dem Grunde ihres wollenen Strumpfes angelangt und daß von Hungersnot vorderhand keine Rede ist. Das wäre noch hübscher, wenn Sie sich um so etwas Sorgen machen wollten; es ist doch wahrhaftig nicht Ihre Schuld, daß Sie heute hier sind, und Gefangene zu speisen, ist allerorten Brauch und Sitte.‹

»Diese offne Erklärung war mir allerdings sehr beruhigend, und ich setzte nur noch hinzu, wie leid es mir thue, Fräulein von Erlan aus ihrem kleinen Reiche vertrieben zu haben, und bat sie dringend dasselbe wieder einzunehmen und mich anderswo unterzubringen. Das schlug sie mir jedoch rundweg ab, erwiderte mir, daß ›anderswo‹ bei ihnen ein äußerst zweifelhafter Begriff sei und daß sie durchaus wünsche, mich an der Stätte ihrer bösen That zu belassen, weil dieser Raum sie doppelt an Buße und Reue gemahne.

»Manche Absonderlichkeit meines Tischgerätes ist mir jetzt ebenfalls gründlich erklärt, und ich verstehe nun, wie echtes Sèvresporzellan, ein venetianisches Trinkglas, in dem mein Wein wie flüssiges Gold schimmert, schweres Silbergeschirr, das ich nie ohne eine gewisse Bangigkeit in Fräulein von Erlans Händen erblicke, und eine grobe, gelbliche Serviette, sowie ein Messer um einen halben Franken zu einem Gedecke vereinigt werden konnten, das mich am ersten Tage über alle Maßen befremdete.

»Mit diesem edeln Schneideinstrument quälte ich mich gestern entsetzlich ab, gebrauchte Messer und Heft abwechselnd, und erreichte damit nur, daß ich mir eine Art Hundemocken zurecht machte. Ich war nicht mehr sehr weit von einem Ausbruche heftiger Ungeduld, als Fräulein von Erlan, die mich mit stillem Vergnügen beobachtet hatte, plötzlich bemerkte: ›Es schneidet schlecht, nicht? Ach, wie zornig Sie dreinschauen! Nur Geduld, ich habe etwas, das Ihnen zusagen wird.‹

»Sie lief nach einer Schublade und brachte im Triumph einen kleinen Dolch, der in einer kunstvoll geschnitzten Elfenbeinscheide steckte, aus der sie ihn mit einer äußerst beunruhigenden Raschheit herauszog, wobei der feine bläuliche Stahl blitzte und funkelte.

»›Hier, der schneidet himmlisch!‹ sagte sie. ›Ich gebrauche ihn immer für meine Federn. Wollen Sie ihn haben?‹

»Damit war die Originalität meines Tischgedeckes vervollständigt.

»Du mußt zugeben, daß Du nun ein genaues Bild meiner Zufluchtsstätte und meines Schutzengels hast: die Gespenstertante, mein Doktor, Benedikta, Einer und last not least Fräulein Colette, denn so lautet Fräulein von Erlans Vorname, den sie so liebenswürdig war mir samt allen sich daran knüpfenden Gedanken und Betrachtungen anzuvertrauen.

»›Ein drolliger Name, nicht wahr?‹ sagte sie. ›Col – Colette – zu komisch! Was soll es eigentlich heißen und wo kann der Name herstammen?‹

»›Vermutlich von der Kalenderheiligen.‹

»›Das kann sein! Höchst wahrscheinlich sogar. Das ist mir noch nie eingefallen. Ich habe immer gedacht, man hätte ihn eigens für mich erfunden. Kennen Sie denn diese heilige Colette, wissen Sie etwas von ihr? Sie haben sie vielleicht schon bei Zahnweh angerufen? Es scheint, daß sie darüber große Macht hat und daß es sofort vorübergeht, wenn man sich an sie wendet.‹

»›Ich muß Ihnen gestehen, daß ich keinerlei Beziehungen zu der Heiligen habe,‹ erwiderte ich. ›Einerseits haben mir meine Zähne bisher wenig Veranlassung zu solcher Frömmigkeit gegeben, andrerseits wird mich von nun an Ihr Mißerfolg von jeglicher ausschließlichen Andacht für einzelne Heilige abschrecken, denn so eingebildet bin ich nicht, daß ich auf Erfolg rechnen würde, wo Sie so schmerzlich enttäuscht worden sind.‹

Zeichnung: E. Bayard

»Sie wendete den Kopf ab, ohne mir dadurch die glühende Röte verbergen zu können, die bis unter die Haare sichtbar ward, und sagte nach kurzem Zögern leise: ›Ach! Ich habe den Fehler gemacht, zu Schweres zu verlangen. Daran wird's wohl liegen!‹

»Sie hatte offenbar Angst, mich durch ihr Mißgeschick abzuschrecken oder zum Zweifel und Unglauben zu veranlassen, und halb, um ihre fromme Einfalt zu schonen, halb, weil ich fürchtete, sie verletzt zu haben, setzte ich, das Gespräch abschließend, hinzu: ›Sicher ist, daß man an nichts verzweifeln soll, und vielleicht ist Ihnen das ersehnte Glück näher, als Sie glauben.‹«


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