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Der Graf von Epaville begab sich nach einer Weile in die Burg zurück. Er schlenderte langsam über den Hof, durch das Hauptportal in der Mitte, durch den untern Korridor mit den spitzbogigen Fenstern und den Hirschgeweihen und die Haupttreppe hinauf, welche in den obern Stock führte. Hier lief ein Gang von derselben Größe wie der untere Korridor, gerade über diesem, an der Seite des Gebäudes entlang, die nach dem Hofe zulag; auf der andern Seite, von wo man die Aussicht in das Flußtal und auf den Rheider Hammer hatte, befanden sich die Wohngemächer; weite, leere Räume, mit Decken, welche von stukkaturverzierten Balken getragen wurden, mit Wänden, deren untere Verkleidung aus hohen Lambris von gebohntem Eichenholz bestand, während darüber sich Tapeten mit altmodischen Mustern zeigten, hier und da stückweise von den Mauern gelöst und niederhängend, an andern Orten durch viereckige hellere Stellen den Platz andeutend, den ehemals Bilder oder Spiegel in diesen öden und ausgeräumten Gemächern eingenommen hatten. Es hatte viel Mühe gekostet, den alten Staub und Schmutz, die Spinnengewebe und den Wurmfraß so weit fortzuschaffen und wegzuwaschen, um einige dieser Räume notdürftig bewohnbar machen zu können. Der neue Eigentümer hatte dazu eine Wagenladung neuer Möbel herüberbringen lassen. Das elegante Gerät, alles neu und glänzend von Politur, alles im neuesten Geschmack á la Josefine, das heißt nach dem übelbegriffenen Muster der römischen Antike, nahm sich freilich merkwürdig genug in dieser verblichenen, altergeschwärzten Umgebung aus.
Es waren hauptsächlich zwei Gemächer, welche Graf Antoine sich hatte so mit den nötigen Dingen ausstatten lassen, um, wenn ihn der Dienst nicht in die Nähe des Großherzogs berief, für einige Tage die Burg bewohnen und sich dadurch mit allen Verhältnissen seiner neuen Besitzung, die ihm ein großes Interesse abgewonnen zu haben schien, bekannt machen zu können. Diese Gemächer waren die beiden letzten im rechten Teile des Gebäudes, der an den größern der zwei Türme stieß, von denen wir sagten, daß sie das alte Gebäude flankierten. Sie waren am besten erhalten, obwohl auch sie melancholisch und düster genug aussahen und vielleicht nur noch mehr so jetzt durch den Gegensatz zu den blanken neuen Möbeln.
Es war heute die erste Nacht, welche Graf Antoine in dem Schlosse zubringen wollte, denn an den vorhergehenden Tagen war er abends in die Stadt zurückgeritten. Der Tag war ihm rasch verflossen; er hatte ein Paar Arbeiter in den Zimmern beschäftigt, welche die nötigsten Verbesserungen vornehmen, hier einem nicht mehr schließenden Schlosse nachhelfen, dort ein Stück des Bewurfs flicken, hier ein nicht mehr verschließbares Fenster und dort eine windschief gewordene Tür einrichten mußten. Graf Antoine hatte zugesehen, seine Anweisungen erteilt, war dann lange draußen gewesen und hatte seinen Hausmeister, den hinkenden Claus Fettzünsler, auf den Feldern umhergeschleppt und sich von ihm über die Aecker, Wiesen und Grundstücke, die zum Hause gehörten, berichten lassen, über ihre Fruchtbarkeit, die Art der Benutzung und ihre Pachterträgnisse.
Dann hatte er die Begegnung mit Sibyllen gehabt. Als er darauf seine Gemächer wieder betrat, fand er, daß hier bereits der Abend zu dämmern begann. Nach einer Weile zogen deshalb die Arbeiter ab; darauf kam Franz, der Reitknecht, der Graf Antoine begleitet, um in dem Wohnzimmer Lichter anzuzünden, und stieg dann wieder in den untern Stock hinab. Graf Antoine befand sich allein oben in dem weitläufigen Gebäude, und obwohl er zum Zeitvertreib sich an die Lektüre von allerlei Akten und Papieren machte, die er in dem Winkel einer Kammer auf der Erde liegend gefunden und worin er das Archiv seiner Besitzung entdeckt hatte, so wurde ihm in dieser Oede und Einsamkeit doch, je weiter der Abend vorrückte, desto eigentümlicher und unheimlicher zumute. Um ihn her herrschte eine beängstigende Stille, die nur unterbrochen wurde durch allerlei leise und unerklärliche Geräusche; bald ein kaum vernehmbares Rieseln, als ob hinter den alten Tapeten Kalk sich abbröckele und niedersinke; bald ein Aechzen, als ob das Holzwerk leise aus dem Leim gehe; bald ein Knarren – es war gerade so, als ob die vernichtende Zeit in all den dunkeln Räumen mit hagerm Finger sachte und so unhörbar wie möglich an ihrem zerstörerischen Werke arbeitete. Es schien Graf Antoine beinahe eine Erleichterung, als sich draußen nach und nach ein Wehen des Windes vernehmbar machte, welches die alten Fenster schüttelte, daß die Scheiben in ihren lockern Bleiumfassungen zu klirren begannen. Es war doch ein erklärbares, ein natürliches Geräusch!
Graf Antoine stand auf, nachdem er eine lange Weile über seinen Akten gesessen hatte und begann in dem Raume auf und ab zu schreiten, den die zwei Wachskerzen auf seinem Tische nur sehr unvollständig beleuchteten.
» Sang de Dieu! Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei,« sagte er dabei, »besonders wenn er keine erheiterndere Beschäftigung hat, als diese alten Schuldklagen und Gefälleregister durchzulesen. Während des Hockens über den alten vergangenen Geschichten ist mir immer gewesen, als müßte ich an meine eigene vergangene Geschichte denken, und die Beschäftigung damit fehlte mir nur noch, um diesen Abend heiter zu machen!«
Graf Antoine begann eine Weise aus der Oper »Le maréchal ferrant« zu pfeifen, die damals in Paris an der Tagesordnung war, und dann sagte er lächelnd vor sich hin: »Es wäre eigentlich, wenn ich einmal stürbe, ein hübscher Witwensitz für meine teuere Henriette, dies alte Kastell – in der Tat für eine trauernde Gattin, die der Welt absterben will, wie geschaffen! Wir könnten es ja durch letztwillige Verfügung dazu erheben, zum Wittum der Douarièren von Epaville! Die gute kleine Henriette! Welchen hübschen Stoff würde sie haben, ihren süßen Gatten zu lästern, wenn ich ihr diesen Streich spielte und sie zwänge, den Rest ihres Lebens in dieser ländlichen Abgeschiedenheit zwischen Eulen und Fledermäusen zuzubringen!«
Malborough s'en va-t-en guerre,
Qui suit quand il reviendra –
pfiff der Graf dann eine Weile, und nachdem er mit diesem schönen Liede sich eine kleine Viertelstunde vertrieben hatte, fuhr er in seinem Selbstgespräche fort: »Der Teufel weiß es, mir ist, als sollte ich heute durchaus melancholisch gemacht werden; es kommen mir lauter unnütze, trübselige Gedanken. Man ist doch nicht just geraden Weges durchs Leben gegangen, einer flachen Heerstraße nach und so geradeaus wie bei einem Jagdrennen auf eine Kirchturmspitze zu. Nein, eine Kirchturmspitze ist wahrhaftig nicht mein Lebensziel gewesen. Ich habe mich durchgeschlagen, wie es eben ging, um manchen Stein des Anstoßes herum, und manche Wendung habe ich machen müssen; bin bald bergauf und bald bergab gestiegen. Und doch ist's mir eben, als ob ich meine ganze Lebenslaufbahn auf einmal übersehen müßte; als ob sie eine schnurgerade Chaussee wäre, daß man zurück bis ans letzte Ende schauen könnte und zahlreich wie die Pappelbäume rechts und links die dummen Streiche, die man gemacht hat. Fort damit! ... was soll mir diese höchst überflüssige Gedächtnisschärfe. Wer nicht geraden Weges durchs Leben gehen konnte, weil sein Lebenslauf nun einmal vom Schicksal in die Krümme geführt wurde, der sollte auch nicht weiter rückwärts sehen können als bis an die nächste Ecke, um welche er laviert ist. Es wäre weit behaglicher. Aber – ma foi – war denn das nicht gerade so, als ob jemand im andern Zimmer nieste?!«
Der Graf nahm ein Licht, schritt damit in das zweite der eingerichteten Gemächer, das er zu seinem Schlafzimmer bestimmt hatte und kam bald nachher daraus zurück.
»Ich werde hier noch lernen, Gespenster zu sehen,« sagte er dabei. Trotzdem schritt er durch die entgegengesetzte Tür wieder hinaus und begab sich auf den Korridor. Hier rief er an der nach unten führenden Treppe seinem Reitknecht, der gleich darauf erschien und von seinem Herrn den Befehl erhielt, ihm den Wein und die kalten Speisen heraufzubringen, welche das Nachtmahl des Grafen zu bilden bestimmt waren.
Nachdem Franz, der Reitknecht, sich dieses Auftrags entledigt und während er seinen Gebieter bei dessen Souper bediente, fragte ihn dieser: »Wo ist eigentlich dein Nachtquartier? Ich glaube, in einer Kammer, just unter meinem Schlafzimmer?«
»Nicht doch, Herr Graf,« versetzte der Reitknecht, »ich habe mein Bett in einem Entresolkämmerchen über dem Pferdestall im Nebenbau aufschlagen lassen.«
»Davon weiß ich nichts!«
»Ich dachte, es sei nicht gut, wenn niemand in der Nähe der Tiere sei. Man weiß nie, was sie überkommen und ihnen zustoßen kann in der Nacht.«
»Für heute mag's so bleiben,« versetzte Graf Antoine, nicht ganz befriedigt von dieser Antwort; »morgen wünsche ich dich in meiner Nähe zu haben. Im Falle ich dich brauche, werde ich dann auf den Boden klopfen – Klingelzüge gibt es ja hier nicht – du hättest, nebenbei gesagt, daran denken können, daß so etwas mit herausgebracht und eingerichtet worden wäre.«
Der Graf hatte sein Nachtmahl beendigt.
»Du kannst die Speisen und Teller forttragen, den Wein läßt du hier!«
Der Reitknecht tat, wie ihm befohlen und verließ seinen Herrn, welcher jetzt wieder im Zimmer auf und nieder schritt und von Zeit zu Zeit der Flasche zusprach, die auf dem Tische geblieben war. Da der Graf beim Auskleiden keine Bedienung verlangte, so konnte Franz sich jetzt in seine Gemächer zurückziehen. Aber Franz mochte es entweder dazu noch zu früh halten oder den Aufenthalt in dem verfallenen alten Kastell auch unheimlich finden – er zog vor, sich in die Wohnstube des Hausmeisters Claus zu begeben, wo wenigstens ein lustiges Feuer im Kamin brannte und Claus Fettzünsler, bei seinen häuslichen Beschäftigungen auf und ab hinkend, zuweilen durch einen trockenen Witz die Stimmung erheiterte.
Dazu kam, daß ihn in dieses Gelaß ein sehr appetitlicher Geruch von schmorendem Speck lockte. Claus bereitete sich sein Abendmahl, bestehend aus einem großen Pfannkuchen.
Franz schob sich einen Stuhl ans Kamin und betrachtete eine Weile still Fettzünslers Hantieren mit seinem Küchenapparat. Die Flamme auf dem Herd gab dazu die einzige Beleuchtung ab; sie erhellte mit ihrem unsteten hin und her flackernden Scheine die geschwärzten Wände des Raumes höchst unvollständig, und der Hausmeister bildete mit seinem grotesken Kopfe und seiner hinkenden Gestalt in dieser Beleuchtung eine desto abenteuerlichere Figur.
»Es wär' Zeit, daß Ihr einmal Eure Kammer etwas aufputzen ließet, Meister Claus,« sagte Franz nach einer Weile. »Die Wände sehen verdammt schwarz aus!«
»Nun, ich hoffe, Euer Herr wird's schon in Ordnung bringen – er scheint ja den Narren gefressen zu haben an der Rheider Burg, und ich denke, wir werden Wunder erleben, was er alles daraus machen lassen wird. Das Bensberger Schloß wird nichts dagegen sein – wenn man ihn reden hört!«
»Verlaßt Euch darauf nicht zuviel,« antwortete Franz, pfiffig lächelnd.
»Kostet viel Geld, das Bauen und Renovieren,« bemerkte Claus mit einem spähenden Blick in seines Gesellschafters Züge.
»Viel Geld, ja, und wir haben eben noch viele andere Manieren, es los zu werden!«
»Nun, wenn es nur da ist!« warf Claus ein.
»Da ist es wohl – es bleibt aber nicht lange!«
»Also da ist es? Man sollt's kaum meinen,« warf Claus ein. »Die Rheider Burg liegt ihm doch am Herzen, just so, als ob's sein erstes und einziges Stück Grund und Boden wäre, was jemals sein gewesen!«
»Nun, das mag sich auch wohl so verhalten. Er hätte eigentlich Erbe sein sollen von dem Lande, welches seinem Onkel, dem Herzog von Anglure, gehört. Es liegt ein gut Stück Weges von hier, hab' ich mir sagen lassen, weiter ins Westfälische hinein. Was nun aber dazwischen gekommen ist, daraus hab' ich nicht klug werden können; so viel ist gewiß, unser Herr ist mit dem Onkel-Herzog über den Fuß gespannt und mit der Erbschaft ist's nichts. Nun sind da noch Güter im Lüttichschen oder da herum gelegen, die auch der Familie gehören, mit denen ist unser Graf abgefunden worden. Er hat aber bald so viel Schulden darauf gemacht, daß die Gläubiger sie ihm haben unter Sequester legen lassen, und damit ist's denn jetzt auch nichts mehr. Nun war der Graf ehemals im Dienst bei den Schiffssoldaten oder in der Marine, wie man's nennt; wie er nun wieder so blank gewesen ist als wie zuvor, hat er verlangt, wieder in den Dienst einzutreten und bei dem Großadmiral darum petitioniert. Der Großadmiral aber hat groß Gefallen an ihm gefunden und ihn zu seinem Adjutanten gemacht und so sind wir denn hierher gekommen und haben denn auch wieder flott zu leben.«
Claus Fettzünsler schien diese Erzählung in einem feinen Gemüte still zu überlegen, denn er antwortete lange nicht, bis er endlich sagte: »Es ist kurios, wie solche vornehme Herren immer wieder auf die Beine kommen. Unser Herrgott hat offenbar mehr Zeit oder mehr Lust und Liebe, für sie zu sorgen als für geringere Leute! Ist von unsereinem mal ein Mensch zugrunde gerichtet, so bleibt er's sein Leben lang!«
Franz antwortete auf diese ketzerische Bemerkung Claus Fettzünslers nicht; er beobachtete, wie der Hausmeister seinen fertig gewordenen Pfannkuchen in dem hölzernen Deckel, der ihm zum Wenden des schmorenden Gebäcks gedient hatte, auf den Tisch stellte und, nachdem er sich einen Krug mit Bier aus einem Eckschranke geholt, seine Abendmahlzeit begann.
»Meister Claus,« sagte Franz, ihm zuschauend, »wenn Ihr diesen ganzen Pfannkuchen verspeisen wollt, so müßt Ihr einen ausgezeichneten Magen haben!«
»Den ganzen Pfannkuchen? Dazu müßte man ja ein Haifisch sein.«
»Und wozu backt Ihr Euch denn solch ein Ungeheuer?«
»Wozu – nun es ißt schon einer mit!«
»Einer – wer ist das?«
Claus zeigte ein mysteriöses Lächeln in seinen Zügen.
»Wer ist das! Das ist viel gefragt, Herr Franz! Es essen eben auch andere Leute, als die man sieht.«
»Das verstehe ich nicht,« sagte Franz.
»Meint Ihr denn, solch ein altes Kastell wie dieses hätte nicht seinen rechtschaffenen Hausgeist ...«
»Der Pfannkuchen verspeist?«
Claus Fettzünsler lächelte wieder mit seinem ganzen verkniffenen Gesichte.
»Habt Ihr nie von dem Huzelmännchen oder vom Klabautermann gehört?«
»Wahrhaftig, niemals,« entgegnete Franz.
»Ihr Leute von der andern Rheinseite habt doch alle keinen Glauben und keine Religion!«
Franz schüttelte den Kopf, »Es ist eine kuriose Einquartierung,« erwiderte er. »Wie führt sie sich denn auf, wenn sie keine Verköstigung erhält?«
»Dann rumort sie und wirft mir die Töpfe an den Kopf.«
»Das möcht' ich einmal sehen,« sagte Franz lachend.
»Es ist nicht zu sehen!«
»Auch die geworfenen Töpfe nicht?«
Claus antwortete auf diese skeptische Frage nicht, aber er begann Franz Gespenstergeschichten höchst merkwürdiger Art zu erzählen, welche der Reitknecht mit entschiedenem Unglauben und sehr höhnischen Randglossen aufnahm, ohne doch fort und zu Bette kommen zu können, solange des Hausmeisters Vorrat an solchen Erzählungen vorhielt. Und Fettzünsler wußte ihrer gar viele, er war nicht umsonst des Lügenschusters Jugendkamerad und des Spielmanns Freund – so kam es, daß es sehr spät wurde, bis Franz seine Ruhestätte über dem Stalle seiner Pflegebefohlenen aufsuchte, und in direkter Verbindung damit stand der Umstand, daß er am andern Morgen sehr spät erwachte.
Franz erhob sich dafür um desto rascher, und nachdem er einen Blick in den Stall auf seine Pferde geworfen, die ihm ungeduldig entgegen wieherten, eilte er hinauf in die Zimmer seines Herrn zu kommen, da er befürchtete, wegen seiner Versäumnis gescholten zu werden.
Zu seiner Ueberraschung fand er, als er das Wohngemach betrat, sowohl die äußere Tür wie die, welche in das Schlafzimmer des Grafen führte, offenstehend, seinen Herrn aber trotzdem noch schlafend. So wenigstens schien es Franz bei seinem ersten Eintreten und nach einem Blick durch die Schlafkammertür. Der Graf lag jedoch nicht in, sondern auf dem Bette, als ob er aufgestanden wäre und sich dann rücklings wieder auf das Lager geworfen hätte – seine nackten Füße hingen herab und berührten den vor dem Bette ausgebreiteten Teppich.
Franz trat jetzt über die Schwelle des Schlafgemachs und zugleich stieß er einen leisen Schrei der Ueberraschung und des Schreckens aus – er fand alles ringsumher in einer seltsamen Unordnung. Mehrere Kleidungsstücke seines Herrn lagen auf dem Boden umhergestreut; der Stuhl, der vor dem Bette gestanden, war umgeworfen; ein silberner Leuchter lag in eine Ecke des Zimmers gerollt, eine tief niedergebrannte Wachskerze auf dem Teppich vor dem Bett – und während Franz im Nu diese beängstigenden Beobachtungen machte, beharrte sein Gebieter in einer Regungslosigkeit, die etwas Entsetzliches hatte. Der Reitknecht trat einen Schritt näher, er trat dicht an das Bett, er zitterte an allen Gliedern – er rief plötzlich, wie seiner Angst Luft zu machen, laut, ganz überlaut: »Herr Graf – Herr Graf –!«
Aber der Graf von Epaville antwortete und rührte sich nicht, und als der Reitknecht nach seinem rechten Arme griff, fühlte er durch das Hemde hindurch eine starre Eiseskälte.
Der Graf von Epaville war eine Leiche.
Franz gehorchte dem ersten Impulse, welcher ihn bei dieser schaurigen Entdeckung überkam. Er wandte sich und floh. Er stürzte durch das Wohnzimmer, durch die vordern leeren Räume auf den Gang, die Treppe hinunter, in das Zimmer des Hausmeisters.
Claus hatte sich eben erst erhoben und war damit beschäftigt, seine alte Manchesterjacke überzuziehen, als Franz mit dem Rufe über seine Schwelle stürzte: »Um Gottes willen, Hausmeister ... der Graf ... kommt einmal herauf ... der Graf ist tot!«
»Alle vierzehn heiligen Nothelfer stehen uns bei!« stammelte Claus bis ins Mark erschrocken.
»Kommt, kommt mit herauf und seht es selber,« versetzte der Reitknecht, der sich an den Türpfosten hielt, als wenn seine Knie ihn nicht mehr trügen.
Claus eilte trotz seines Hinkens mit einer wunderbaren Schnelligkeit in großen Sätzen hüpfend an ihm vorüber und über den Korridor der Treppe zu. Franz hatte Mühe, neben ihm zu bleiben. So kamen sie in das Schlafzimmer, wo Claus sich keuchend und atemlos über die Leiche beugte und die Hand auf das schwarze Haupthaar des Grafen legend, den abgewandten Kopf desselben zu sich herumdrehte.
»Ganz blauschwarz im Gesicht!« sagte er entsetzt. »Der ist erdrosselt!«
»Aber da ist auch Blut ... ach, du lieber Gott, eine ganze Lache Blut,« rief Franz jetzt aus, indem er auf den Teil des Hemdes und des Plumeaus deutete, die unter der Leiche, an deren linker Seite lagen – die Leiche lag auf der Seite des Herzens und hatte eine tiefe Wunde an dieser Seite der Brust.
Die beiden Männer standen eine Weile sprachlos sich anstarrend.
»Wer hat das getan?!« rief Claus nach einer Pause aus.
»Wer hat das getan?!« wiederholte der totenbleiche Reitknecht.
»Das ist eine üble Geschichte,« stammelte Claus, und der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn, »eine üble Geschichte für uns beide!«
»Wir sind ja aber doch so unschuldig ...«
»Unschuldig – aber wenn man einen von uns in Verdacht zieht?«
»Das verhüte Gott! Lieber nehm' ich Reißaus!«
»Dann seid Ihr erst recht verloren!«
»Was sollen wir tun?« jammerte Franz.
»Was wir tun müssen. Sattelt Ihr das beste von euern Pferden und zeigt es in Düsseldorf an. Ich laufe derweile hinab ins nächste Dorf zu unserm Maire. – Ist etwas gestohlen?« fuhr Claus fort, sich umschauend.
»Ich glaube nicht,« entgegnete Franz, der Richtung seiner Blicke folgend. »Da hängt die goldene Uhr über dem Kopfkissen. Und hier,« fuhr er fort, ein Kleidungsstück vom Boden aufnehmend und die Taschen desselben untersuchend, »hier ist seine Brieftasche und sein Geldbeutel ...«
»Als« ein Räuber ist's nicht gewesen!«
»Nein, ein Räuber nicht!«
»Desto besser für uns,« rief Claus aus. »Nun legt den Rock wieder hin, just so, wie er lag – die Herren vom Gericht wollen alles unberührt wissen, wie es liegt und steht – machen wir uns auf den Weg!«
Beide verließen das Schlafzimmer und eilten, unten im Korridor angekommen, auseinander, der Hausmeister in seine Stube, um die Schlüssel zu holen, womit er während seiner Abwesenheit die Haustür absperren wollte, der Reitknecht, um zu den Pferden zu kommen und seinem Gaul den Sattel überzuwerfen.
Wenige Minuten nachher sprengte Franz im gestreckten Galopp den Weg in die Hauptstadt dahin. Er erreichte sie in kaum einer Stunde Zeit. Vor der Residenz Murats, dem Jägerhofe, warf er die Zügel einem Soldaten der Wache zu, eilte ins Innere und stürmte trotz Portier und Lakaien bis in die Vorzimmer des Großherzogs. Hier machte Franz mit seiner Schreckenskunde einen solchen Lärm, daß einer von Murats diensttuenden Adjutanten ihn sofort und ohne Anmeldung in das Kabinett führte, wo der Großherzog eben frühstückte, während Graf Beugnot ihm gegenübersaß, um ihm möglichst kurz und möglichst kurzweilig allerlei an und für sich sehr trockene Geschäftsvorträge zu halten.
Der Adjutant entschuldigte in raschen Worten die Unterbrechung, indem er erzählte, was geschehen. Murat sprang im höchsten Grade überrascht auf, ließ Franz vortreten und überstürzte ihn mit einer solchen Menge Fragen, daß dieser kaum hinreichenden Atem und hinreichende Zungengeläufigkeit fand, auf alles zu antworten.
»Mille tonnerres!« rief der Großherzog dann aus, »ich habe geglaubt, hier in einem Lande von lauter frommen Schafen zu sein, die sich wenig darum kümmern, ob die Hunde, welche sie hüten, deutsch oder französisch bellen. Dies sieht anders aus! Man weiß, wie nahe mir Epaville stand! Man ermordet ihn, sobald er sich außerhalb des schützenden Bereiches des Hofes wagt!«
»Hoheit,« fiel Graf Beugnot kopfschüttelnd ein, »ich ahne unter diesem mysteriösen Verbrechen etwas anderes als politische Beweggründe ...«
»Und was ahnen Sie, Beugnot?«
»Es sind, wie ich unlängst vernommen habe, bereits früher unaufgehellt gebliebene Dinge in dieser Rheider Burg oder in ihrer Nachbarschaft vorgefallen. Aber ich glaube, es wäre zweckmäßig, Ew. Hoheit geruhten, zuerst diesen Mann zu entfernen und dann den Grafen Nesselrode herzubescheiden ...«
»Sie haben recht,« fiel Murat ein, und sich zu dem Adjutanten wendend, fuhr er fort: »Ich wünsche Nesselrode zu sprechen. Lassen Sie den Reitknecht bewachen.«
Franz mußte auf einen Wink des Adjutanten diesem folgen und wurde von ihm im Vorzimmer einer Ordonnanz übergeben, die den Befehl erhielt, ihn auf die Schloßwache zu führen, wo man ihm erlaubte, die wachthabende Truppenabteilung mit seiner Geschichte zu unterhalten, aber nicht, sich aus dem Bereich der Wachtstube zu entfernen.
Zwei Stunden später jedoch wurde Franz aus seiner Haft bereits wieder erlöst. Er erhielt den Befehl, den Großherzog zu begleiten, der sich eben zu Pferde setzen wollte, um, gefolgt von Beugnot und einem vertrauten Beamten der Polizei, sich selbst an den Ort des Verbrechens zu begeben.