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In die leeren Gemächer der Rheider Burg war wenigstens etwas Geräusch und Leben zurückgekehrt, seit Antoine von Epaville aus der nahen Hauptstadt ein paar Handwerker herausgeschickt hatte, welche ihm einige Zimmer in bewohnbaren Stand setzten und mit den mitgebrachten Möbeln einrichteten. Er selbst war die beiden ersten Tage am Morgen herausgekommen, um sein neues Besitztum genau in Augenschein zu nehmen und abends in die Stadt zurückgeritten. Am Nachmittage des dritten Tages hatte ein Diener ein großes Schreiben von der Burg herab dem Hammerbesitzer überbracht, gesiegelt mit einem großen Wappen im Fürstenmantel und mit einer Herzogskrone darüber. Ritterhausen hatte es erbrochen und während Sibylle das Kuvert an sich nahm und das Siegel aufmerksam betrachtete, las der Hammerbesitzer die Depesche mit einem Gesicht, welches sich in immer düstere Falten verzog.
Der Inhalt des Schreibens lautete:
»Mein Herr!
Aus den mit meinem neuen Besitztum mir übergebenen, dazu gehörigen Archivalien und Aktenstücken erhellt in unzweifelhafter Weise:
Daß das in Ihrem Besitz befindliche Hammerwerk nebst allem Zubehör infolge eines Zeitpachtvertrages mit den frühern Eigentümern der Rheider Burg von Ihnen innegehabt wird.
Sie haben diesen Charakter Ihres Besitzrechtes bestritten und für dasselbe die Natur eines Erbpachtverhältnisses in Anspruch genommen.
Jedoch ist der über die letzte Frage mit dem Eigentümer, dem verstorbenen Herrn von Huckarde, geführte Prozeß für Sie in allen Instanzen verloren gegangen.
Die Rechtsnachfolgerin des Herrn von Huckarde, die pfälzische Domänenverwaltung, hat von diesen gegen Sie erstrittenen Urteilen keinen Gebrauch gemacht, sondern Sie im Besitz des Hammers gelassen und von Ihnen nach wie vor den alten Pachtzins entgegengenommen – aus Motiven, über welche die Akten nicht Auskunft geben und über die mir kein Urteil zusteht.
Darauf gestützt haben Sie dann, als die pfälzische Administration aufhörte, bei der ihr nachfolgenden großherzoglich bergischen Verwaltung die Ablösung Ihres Erbpachtverhältnisses beantragt und die letztgenannte Domänenverwaltung ist ohne gründlichere Untersuchung der Sache hierauf eingegangen, hat Ihre Anträge genehmigt und die Ablösungssumme fixiert, die Sie zu zahlen bereits begonnen haben.
Ich habe als Rechtsnachfolger der Domänenadministration jedoch sofort wider dies Ablösungsverfahren Protest erhoben, da es auf durchaus falschen Voraussetzungen beruht.
Indem ich Ihnen dies mitteile, füge ich hinzu, daß ich den lebhaften Wunsch hege, diese Angelegenheit mit Ihnen in friedlicher und summarischer Weise zu ordnen, und wird es mir ein Vergnügen sein, diesen meinen Wunsch Ihnen persönlich zu beweisen, sobald Sie mich besuchen wollen, um über die Erledigung der Sache sich mit mir zu bereden.
Ich bin, mein Herr, mit großer Achtung
der Graf A. von Epaville.«
Der Hammerbesitzer stieß ein paar derbe Flüche aus, nachdem er diesen Brief gelesen und reichte ihn seiner Tochter. Die letztere wechselte die Farbe, als sie das Schreiben überflog.
»Die Sache ist mißlich für uns,« sagte sie, »Dieser Graf von Epaville ist, fürchte ich, kein guter Mensch, und wir werden mit ihm zu keinem Ende kommen, ohne schwere Kosten und große Opfer.«
»Die Einladung, zu ihm zu kommen, hat etwas Spöttisches,« bemerkte Ritterhausen. »Er weiß ja, daß ich mich nicht bewegen kann! Denkt er am Ende, ich würde dich senden?«
»Das ist möglich,« antwortete Sibylle, »aber dann würde er irren, ich würde zu diesem Menschen nicht gehen!«
Ritterhausen schwieg eine Weile, dann sagte er: »Es ist fürs erste und bevor ich irgendeine Antwort erteile, nötig, mit unserm Advokaten zu reden. Schreibe ihm ein paar Zeilen, um ihn zu uns zu bitten.«
Sibylle erhob sich, um den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen und zog sich in ein an den Gartensaal stoßendes Zimmer zurück, ihr kleines Wohnzimmer, wo ihre Blumen, ihre Bücher, ihr Arbeitskorb standen, wohin sie sich flüchtete, wenn sie müde war von der Anstrengung des Tages, von der oft so drückenden Aufgabe, ihren Vater zu unterhalten und zu erheitern. Es war ein hübscher, sauber gehaltener kleiner Raum, an dessen Wänden zwei Kupferstiche hingen, welche Szenen aus Klopstocks »Messias« darstellten; unter diesen Bildern stand eins jener altfränkischen und doch so bequemen Schreibpulte, an denen man einen zylinderförmigen Deckel durch einen Zug auf- und zurollen läßt. Sibylle öffnete dieses Möbel und setzte sich davor nieder; aber statt die Feder zu ergreifen, um den Brief an den Advokaten zu schreiben, stützte sie lange das Haupt auf den Arm und schien sich ihren Gedanken hinzugeben. Dann zog sie eine der Schiebladen auf, und ein kleines Konvolut von Briefen herausnehmend, begann sie langsam zu blättern in diesen zerlesenen, mit einer großen und flüchtigen Handschrift bedeckten Papieren. Mehr und mehr von dieser Lektüre gefesselt, versank sie endlich in ein tiefes Sinnen, die Augen starr auf eine der Seiten heftend.
»In der Tat, Sibylle,« stand auf dieser Seite geschrieben, »es ist eine trostlose Philosophie, aber was hilft es, der Lehrerin, welche uns darin Unterricht erteilt, zu widersprechen? Sie züchtigt diejenigen, welche nicht hören wollen, mit einer grausamen Rute, sie, die boshafte, sarkastische, unerbittliche Wirklichkeit. Glaube ja nicht, daß ich eine Befriedigung darin fände, wenn ich mich ihren Geboten sklavisch unterwürfe; daß ich gern und wie lästige Fesseln abwürfe, was die geistige Atmosphäre, in der wir aufwachsen, mit ihrer frommen Gläubigkeit an Vorstellungen und Anschauungen und Grundsätzen in uns ernährt. Denkst du, ich begriffe nicht die ganze Süßigkeit des Glaubens? Die ganze Glückseligkeit der Tugenden, zu denen man uns ermahnt, als ob es nötig wäre, den Menschen zu etwas zu ermahnen, zu dem er ohnehin schon viel zu viel Neigung hat, zur Indolenz, zu der schwachseligen Ergebung und der Hingabe an höhere Mächte, die so liebenswürdig sind, ihn zu leiten und zu bevormunden und seine Klagen und seine Bitten anzuhören, um immer gerade so viel davon zu erfüllen, wie ihm nützlich und gut ist! O, es ist eine tröstliche, süße Lehre, dieser christliche Fatalismus, und das Leben, das sich mit ihm erfüllt, hat etwas außerordentlich – Bequemes! Es legt sich in die von den rosigen Vorhängen der Mystik umschleierte Wiege des gläubigen Vertrauens; die Schutzengel schaukeln die Wiege, und so träumt es sich süß durchs Dasein hin. Frömmigkeit, Treue, Pietät, Selbstverleugnung um des Nächsten willen, Sanftmut und Friedfertigkeit, profitabler Ankauf von Wechseln auf den Himmel für billige Wohltaten ... o, wie ist all dieser geistige oder moralische Seelensybaritismus so süß, so mit dem Gefühl der Zufriedenheit und innern Ruhe erfüllend!
Es ist nur das eine traurig, daß die Wirklichkeit uns zu bald aus diesen Lotosträumen auferweckt und mit einer Schrift, deren Züge ebensoviele brennende Schmerzen sind, uns andere Lehren ins Herz schreibt. Daß sie uns sagt: dein Los ist Arbeit, ewige, rastlose Arbeit, bei der du alles von dir abwerfen mußt, was dich in deiner Tätigkeit hemmt, wie der arme Schwimmer, der sich mit seiner Arme Anstrengung in den wogenden Fluten oben erhalten muß und von sich abstreift, was ihn behindert, was seine Glieder fesselt. Verdamme mich nicht, Sibylle! Habe Mitleid mit mir! Ich bin ein solcher Schwimmer, und ich habe die letzte Kraft meiner Glieder, den letzten Odem meiner Brust nötig, um mir zu helfen durch die Wellen, in welche das Leben mich hineingeschleudert hat. Daß ich alles, alles, was von meinem vergangenen Leben auf mir lastet, ab und hinter mich werfe, kannst du mir deshalb zürnen? Kannst du mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich die Banden und Fesseln des Gemüts zerreiße, daß ich die Heimat verlasse, und daß ich dich verlasse?
Gewiß, wirst du sagen: es ist treulos von dir; nur ein Mensch ohne Herz und Seele kann so handeln.
Ich muß dein Urteil über mich ergehen lassen. Aber meine Entschlüsse stehen fest. Ich kann nicht anders. Ich will mit meiner Arbeit dem Leben meine Existenz abringen. Zu meiner Existenz gehört die Hoffnung, daß ich das Haus meiner Väter, das Haus meiner Jugend wiedergewinne, und daß du einst darin an meiner Seite lebst. Um dies zu erreichen, sage ich dir jetzt Lebewohl und sage allen den Anschauungen, den Ueberzeugungen, den Verhältnissen Lebewohl, in denen ich aufgewachsen und erzogen bin. Ich werde auf nichts mehr vertrauen wie auf meine Arme. Meine Religion wird sein: hilf dir selbst und Gott wird dir helfen; und so ziehe ich aus, in die fernste Ferne, zu einem Volke, wo mein Bekenntnis das Bekenntnis der ganzen Staatsgesellschaft ist, zu einem Volke, das täglich größer wird, weil es alle Fesseln des Gemüts und der Glaubensseligkeit abgeworfen hat und – arbeitet!«
Sibylle blickte lange auf diese Zeilen, aus denen ein so leidenschaftlicher Geist sprach, welcher aus einer harten und sein Gemüt tief verwundenden Lebenslage sich nicht anders retten zu können geglaubt hatte, als indem er sich dem vollsten Gegensatz dessen in die Arme warf, was die Lebenslust war, in welcher seine Jugend geatmet hatte.
Sibyllens Auge trübte sich dabei.
Sie hätte diese Sprache in einer Lage wie die des Schreibenden entschuldbar gefunden, und ohne diese Ueberzeugungen zu teilen, hätte sie sie verziehen, wenn sie mehr Wärme des Herzens darin gefunden. Sie hätte den Entschluß, sich von der Heimat und von ihr selbst, der Geliebten, loszureißen, mit mehr leidenschaftlichem Schmerz verknüpft sehen mögen, als diese Zeilen aussprachen. Es lag eine kalte, männliche Entschlossenheit darin, die mit einer Bestimmtheit ihren Willen aussprach, welche auf keine vorhergegangenen tiefschmerzlichen, verzweiflungsvollen Kämpfe deutete.
Und dennoch, sagte sie sich, müssen diese Schmerzen in seiner Brust getobt haben. Weshalb sonst wäre er von hier gegangen, ohne mir offen seine Entschlüsse mitzuteilen, ohne mir die Hand zum langen Abschiede zu drücken? Er fürchtete, daß ihn dieser Abschied übermannen würde. Er fürchtete, dem Entschlusse, den er mit solcher heroischen Kälte ausspricht, nicht treu bleiben zu können. Nun, Gott wird darüber entscheiden, die Zukunft wird uns das Urteil sprechen: sie wird zeigen, ob er das Ziel oder ob ich es erringen werde – dasselbe Ziel, welches wir beide erstreben; er durch seine eigene, ganz auf sich selbst gestellte Kraft, ich, indem ich mich in das Walten der Vorsehung ergebe, auf die Lenkung Gottes hoffe und treuen Gemüts an allem festhalte, was er von sich abgeschüttelt hat, treu bis in den Tod auch ihm selber!
Sibylle faltete sich aufrichtend die Blätter vor ihr wieder zusammen und verbarg sie mit einem tiefschmerzlichen Seufzer in der Schieblade ihres Schreibpultes, woraus sie dieselben genommen hatte. Dann nahm sie die Feder, um den Brief an den Rechtsbeistand ihres Vaters zu schreiben. Wäre nur der Vater ohne Schuld bei dieser Angelegenheit, sagte sie dann leise vor sich hin; so aber ahne ich eine Quelle von Widerwärtigkeiten in dieser Eröffnung unsers neuen Nachbars.
Eine halbe Stunde später verließ sie, von ihrem treuen Milo, der gelben Dogge, begleitet, das Haus, um ihren Spaziergang zu machen. Sie schlug den uns bekannten Weg durch den Garten über die Brücke ans jenseitige Ufer des Flusses ein, und hier schritt sie langsam wandernd den Fußsteig an der Berglehne dahin. Die Sorgen, welche auf ihr lagen, hatten sich vermehrt durch den Gedanken an den Deserteur, welchen sie oben in der Rheider Burg in einem Versteck untergebracht hatte, das sie allein kannte, von jener Zeit her, wo sie als Kind so manche Stunde in der alten Burg zugebracht hatte, die einzige Gespielin des jungen Erben, der jetzt in die Welt gegangen und verschollen war. Sibylle wäre heute sowie an den beiden vorigen Tagen gar zu gern hinaufgegangen, bis in das alte Gebäude hinein, um zu hören, wie ihr Schützling, der plötzlich von einem neuen Einwohner überrascht worden, sich beiseite gemacht, und um von dem alten Claus zu erfahren, ob der Deserteur unbemerkt geblieben. Aber die natürliche Scheu, mit dem Grafen Antoine zusammenzutreffen, hielt sie ab, sich in den nähern Umkreis der Burg zu wagen. Doch wagte sie sich vor bis an die alten Steinpfeiler und schlug hier einen schmalen Fußpfad ein, der zur Linken sich durchs Gebüsch wand und sie nach einer Weile Gehens an den Fuß einer Mauer brachte, welche den verwilderten Burggarten umschloß. An dieser Mauer entlang und um eine Ecke derselben schreitend, gelangte sie endlich an ein kleines, von hier in den Wald führendes Gittertor; sie wollte durch dasselbe einen Blick in den Garten werfen, ob sie nicht darin den alten Claus bei seinen Kohlpflanzen und Bohnenbeeten erblickte. Das Gittertor stand offen. Sibylle wagte sich umherschauend einige Schritte in den Garten vor – dann erschrak sie; sie hörte plötzlich einen leichten knirschenden Schritt hinter sich rasch daherkommen.
Als sie sich umwandte, stand der Graf von Epaville hinter ihr. Er hatte einen Gang durch den Wald gemacht und zurückkehrend Sibyllens schlanke Gestalt an der Gartenmauer entlang gehend gesehen; desto rascher war er zugeschritten, um sie nicht sich entschlüpfen zu lassen.
»Ah, Demoiselle Ritterhausen,« rief er jetzt lebhaft aus, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sogleich selbst sich zu mir bemüht haben. Sie haben meinen Brief erhalten, und da Ihr Vater, wie er sagt, zu leidend ist, um einen solchen Gang zu machen, sendet er Sie – in der Tat, er hätte keinen bessern Gesandten abschicken können. Wir werden uns, hoffe ich, aufs beste verständigen!«
»Ihr Brief, Herr Graf,« versetzte Sibylle, die bei dieser Ueberraschung tief errötet war, »Ihr Brief läßt nicht voraussetzen, daß eine Verständigung so leicht sei – wenigstens ist es mir nicht in den Sinn gekommen, zu glauben, ich könne etwas dazu tun!«
»Kommen Sie denn nicht ...?«
»Nein, ich kam nicht deshalb hierher – ich kam nach dem alten Hausmeister zu sehen, dem ich etwas zu sagen habe.«
»Sie wollen dem jungen Hausherrn nicht die Freude gönnen, ihm zu gestehen, daß Sie um seinetwegen kamen und deshalb schieben Sie den alten Hausmeister vor – Ihr Vater wußte recht gut, welchen vortrefflichen Diplomaten er absandte, als er Sie schickte!« antwortete der Graf mit einem Lachen, das eine Ueberhebung und ein Bewußtsein von Ueberlegenheit verriet, wodurch Sibylle sich in hohem Grade verletzt fühlte.
»Wenn Sie es so auslegen, so kann ich Sie nicht daran hindern,« versetzte sie, »ich kann weiter nichts tun, als mich Ihnen empfehlen!«
Und damit machte sie eine Verbeugung, als ob sie, an dem Grafen vorüber, dem Gittertor zuschreiten wolle.
Er stellte sich ihr in den Weg.
»Eigensinniges Mädchen,« sagte er, »so bleiben Sie doch und hören Sie mich an. – Sie sind nicht gekommen, um mit mir zu reden, gut, ich glaube Ihrer Versicherung – aber Sie werden doch erlauben, daß ich um die Ehre bitte, mit Ihnen reden zu dürfen?«
»Und was wollen Sie mir sagen, Herr Graf?« »O gar vieles – so viel, daß Sie dort in der Laube Platz nehmen müssen, um mit Muße anzuhören, was ich Ihnen mitzuteilen habe.«
Und dabei bot er Sibyllen seinen Arm, um sie zu der Laube zu führen, auf welche er gedeutet hatte.
Sie schien diese Bewegung zu übersehen, aber sie schritt herzhaft auf die Laube zu und setzte sich an das Ende der Steinbank, welche darin angebracht war; dann rief sie ihrem Hunde, der sich zu ihren Füßen legte.
»Sie haben da einen sehr achtungswerten Beschützer,« bemerkte Graf Antoine spöttisch, indem er auf dem andern Ende der Bank Platz nahm.
»Einen treuen und sehr jähzornigen Freund,« versetzte Sibylle mit einem etwas schadenfrohen Lächeln. »Und was Sie mir sagen wollten?«
»Was ich Ihnen sagen wollte ... nun, zunächst, daß ich das größte Verlangen habe, zu einem freundschaftlichen Vergleiche mit Ihrem Vater zu kommen. Ich sehe sehr wohl ein, daß es unklug und töricht von mir wäre, meinen ersten Einzug in diese Gegend mit Streitigkeiten und Prozessen zu beginnen. Ich bin fremd hier und bei allen Verhältnissen, bei allen Einrichtungen und Anordnungen, die ich treffen muß, wäre ich hilflos, wenn ich nicht zu dem guten Rate und der Erfahrung derer meine Zuflucht nehmen könnte, welche hier heimisch sind und die Menschen wie die Dinge um mich her kennen. Ich habe aber keine andern Nachbarn in diesem stillen Flußtale als Sie, und so bin ich ganz eigentlich auf Ihr freundliches Entgegenkommen angewiesen ... ich sage Ihnen das ganz aufrichtig, Demoiselle Ritterhausen, damit Sie sehen, wie wenig es meine Absicht ist, mit Ihnen einen Krieg zu beginnen.«
»Ich danke Ihnen für diese Aufrichtigkeit, wenn wir leider auch wenig imstande sein werden, Ihnen eine so vorteilhafte und nützliche Nachbarschaft zu bieten, wie Sie sie bei uns zu finden wünschen, Herr Graf. Mein Vater ist durch seine Krankheit in hohem Grade verstimmt und unzugänglich; er ist kaum noch zu bewegen, seinen eigenen Angelegenheiten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und viel weniger noch geneigt, sich mit denen Fremder zu befassen ...«
»Und Sie, schöne Sibylle?«
»Ich, Herr Graf,« antwortete Sibylle sehr ernst und trocken, »bin ein junges Mädchen, für das es sich sehr wenig schicken würde, von Geschäften reden und darüber Rat erteilen zu wollen.«
»O, so entgehen Sie mir nicht,« fiel lächelnd Graf Antoine ein, »ich weiß sehr wohl, daß Sie die kluge, gewandte und erfahrene Verwalterin des Hammers und aller Angelegenheiten Ihres Vaters, die eigentliche Herrin im Hause sind ...«
Sibylle zuckte die Achseln.
»So hat man Sie sehr falsch berichtet, Herr Graf,« sagte sie.
»Streiten wir nicht darüber, sondern hören Sie mich weiter an. Sie werden wenigstens so viel von den Angelegenheiten Ihres Vaters wissen, um einzusehen, daß seine Lage eine sehr mißliche wäre, wenn ich einen Rechtsstreit mit ihm begönne. Er hat einen Prozeß gegen den ehemaligen Besitzer dieses Guts verloren. Bevor aber dieser Besitzer von diesem erstrittenen Rechte Gebrauch machen und den Hammer als sein Eigentum einziehen konnte, ist derselbe, wie man mir erzählt hat, auf eine höchst merkwürdige und geheimnisvolle Weise zugrunde gegangen. Und dann erhält sich Ihr Vater ganz ruhig in seinem Besitz. Das Gut wird von der Regierung eingezogen, der Hammer aber bleibt Ihrem Vater unter den alten Bedingungen. Wie ist das anders zu erklären, als ... darf ich fortfahren, so offen zu sein, wie ich es bisher war?«
»Ich bitte darum,« versetzte Sibylle, deren Züge bei dieser Auseinandersetzung eine bleichere Farbe angenommen hatten, »fahren Sie fort, Herr Graf!«
»Es ist nicht anders zu erklären als durch die Annahme, daß Ihr Vater Mittel und Wege gefunden und in Anwendung gebracht hat, um die Herren von der frühern Regierung, deren Berufspflicht es war, gegen ihn einzuschreiten und ihm den Hammer zu nehmen, für diese ihre Pflicht blind zu machen.«
»Von Ihrem Standpunkt aus und bei der Art und Weise, wie man jetzt unser Land verwaltet, Herr Graf, mag Ihnen das, was geschehen ist, nicht anders erklärbar scheinen, als durch solche Mittel,« antwortete Sibylle lebhaft. »Aber vielleicht würden Sie Ihre für meinen Vater so kränkende Voraussetzung fallen lassen, wenn Sie die Grundsätze kennten, nach denen man früher dieses Land verwaltet hat; in der guten alten Zeit unserer Kurfürsten, wo man alte langhergebrachte Verhältnisse zu schonen liebte: wo sich die Verwaltung noch als eine Obrigkeit betrachtete, die nicht ohne die höchste Not hart und störend in die persönliche Lage der einzelnen eingriff und mehr beflissen war, die Untertanen bei behaglichem Wohlsein zu lassen, als sie mit der Schärfe des Rechts zu drangsalieren. Heute freilich, wo die Obrigkeit etwas ganz anderes und nebenbei, ich möchte fast sagen eine Maschinerie zum Geldeintreiben geworden ist, wäre es nicht denkbar, daß die Behörde eine Familie in ihrem unvordenklichen Besitze ließe, wenn sie Rechtsmittel in Händen hätte, dieselbe daraus zu vertreiben!«
»Allen Respekt vor Ihrem Advokatentalent, Demoiselle Ritterhausen,« versetzte lächelnd der Graf; »wir wollen über diesen Punkt nicht streiten, er gehört auch kaum zur Sache. Aber Sie werden mir einräumen, daß es für Ihren Vater äußerst fatal werden müßte, wenn die ganze Angelegenheit vor die Gerichte käme. Also, Sie haben ein Interesse und zwar ein sehr dringendes zum Frieden; und was mich angeht, so habe ich ebenfalls ein solches, das freilich weniger dringend und gebieterisch, aber in hohem Grade von meinem Verlangen verstärkt ist, mir Anspruch auf Ihre Dankbarkeit und Ihre Freundschaft zu erwerben!«
»Sie waren es doch, der zuerst die Kriegsbotschaft sandte!« fiel Sibylle trockenen Tones ein.
»Verlangen Sie etwa, daß ich schweigen und, ohne ein Wort des Dankes zu begehren, Ihnen das beste Stück meines neuen Besitztums schenken sollte?«
»Geschenkt verlangt mein Vater gewiß nichts, Herr Graf!«
»Also – handeln wir. Ich lasse Ihnen den Hammer. Ich überlasse es Ihrem Vater, eine anständige jährliche Pachtsumme, wie er selbst sie billig findet, zu fixieren. Dagegen verlange ich nichts als eine recht gute, teilnehmende Nachbarschaft. Sie erlauben mir, mich in allen Angelegenheiten an Sie um Rat, Auskunft und Hilfe zu wenden. Ich komme zu Ihnen als Freund des Hauses, so oft ich mich mit Ihnen zu besprechen das Bedürfnis fühle. Sie kommen von Zeit zu Zeit wohl selber zu mir herauf, um nachzuschauen, was zu tun und zu arrangieren ist ...«
»Man kann freilich nicht günstigere Bedingungen bieten, Herr Graf,« fiel Sibylle wieder mit einer gewissen Bitterkeit ein.
»Also – unterschreiben Sie sie!«
»O dazu habe ich keine Vollmacht!«
»So sagen Sie mir wenigstens, daß Sie, was an Ihnen liegt, den Teil der Bedingungen, der Sie betrifft, gern erfüllen!«
»Sie wollen also die Freundschaft eines jungen Mädchens als Bedingung in einen Geschäftskontrakt aufnehmen?«
»Wenn ich diese Freundschaft als freie Gabe erringen könnte, so wäre sie mir freilich um so teurer.«
»Wenn Sie wirklich daran dachten, mein Herr Graf, so haben Sie in der Tat einen ganz falschen Weg eingeschlagen, diese Freundschaft zu gewinnen. Sie haben damit begonnen, uns eine Kriegserklärung zu machen. Fechten wir nun den Krieg auf ehrliche Weise aus.«
»Sie hatten eben keine Vollmacht, den Frieden anzunehmen; Vollmacht, den Krieg zu beschließen, haben Sie, scheint es!«
»Ich beschließe ihn nicht, ich spreche nur als eine Tatsache aus, daß er jetzt, wo er erklärt ist, besteht.«
»Ich sehe, Sie sind unerbittlich. Aber Sie handeln unrecht, Demoiselle Sibylle. In meinem Herzen ist nichts von feindlicher Stimmung, nichts von Lust am Kriegführen. Es ist nichts darin als das brennendste Verlangen, Ihnen zu gefallen, Sie öfter sehen zu können, Ihnen sagen zu dürfen, wie sehr Sie alle meine Gefühle fesseln.«
»Das ist eine seltsame Sprache von einem Feinde,« antwortete Sibylle mit einem Lächeln der Verachtung um ihren schönen Mund.
»Aber wollen Sie denn gar nicht anhören, daß ich nichts weniger bin als Ihr Feind?«
»Glauben Sie das zu beweisen durch diese Beteuerungen, deren Fortsetzung ich nicht anhören will?«
Sibylle stand auf um zu gehen.
»Welch hartnäckiger Eigensinn in einem unbesonnenen jungen Mädchen,« rief Graf Antoine nun seinerseits gereizt aus. »Wissen Sie denn, was Sie aufs Spiel setzen, indem Sie meine Freundschaft zurückstoßen? Wissen Sie, welche Folgen es für Ihren Vater haben kann, wenn ich mit ihm nach der Strenge des Rechts verfahre? Wenn ich die Aufmerksamkeit der Gerichte auf sein ganzes Verhältnis zu dem Baron Huckarde lenke und man dabei in Untersuchungen über die geheimnisvolle Todesart des alten Mannes eingeht? Wissen Sie, welche Folgen das für Herrn Johann Wilderich Ritterhausen haben kann?«
»Was wollen Sie damit andeuten, Herr Graf?« fragte Sibylle mit todbleichem Gesicht und zitternder Lippe.
»Was brauche ich das zu erklären, da ich in Ihren Zügen lese, daß Sie mich sehr wohl verstanden haben?« versetzte Antoine mit einem fast höhnischen Lachen.
»In meinen Zügen werden Sie nichts lesen als den Ausdruck der Entrüstung,« sagte Sibylle, wandte sich und ging.
Der Graf von Epaville blickte ihr lange schweigend nach. Dann murmelte er vor sich hin: »Das war eine vollständige Niederlage, mon cher Antoine! Welch ein Starrkopf! ... Ich habe niemals geglaubt, mit besserm Winde zu fahren und bin nie vollständiger gescheitert! Jetzt heißt es lavieren, um wieder in den rechten Kurs zu kommen!«
»Im Grunde,« setzte er dann ein wenig verdrossen hinzu, »im Grunde wollte ich, der Teufel holte die ganze Wette, in die ich mich eingelassen habe; es wird verzweifelte Mühe kosten, um sie zu gewinnen. Aber es ist auch der Mühe wert – das Mädchen ist bildschön! Und hoffentlich zeigt sich der Papa zugänglicher, wenn wir nächstens bei diesem alten Sünder die Arbeit beginnen.«