Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Unters Militär!

Die stille Frau hatte sich erhoben und war zum Zimmer hinausgewankt. Der Vogt raufte sich in seiner Verzweiflung das Haar, während Schilling ihn stumm beobachtete und im Anblick dieses Kummers nach und nach die Befriedigung fand, die ihm über sein eigenes innerliches Entsetztsein hinweghalf. Denn Schilling war zwar das allmächtige Faktotum seines Vorgesetzten und lenkte ihn in allen amtlichen Geschäften, wie der Herr die Wasserbäche. Das hinderte aber nicht, daß Schilling seinen Vogt mit denselben Augen betrachtete wie alle übrigen Mitgeschöpfe, welche mit ihm die Luft dieses stillen und abgeschiedenen Tales voll idyllischer Ruhe und Frieden atmeten, nämlich mit entschiedener Mißgunst und Schadenfreude. Ja, er war eine boshafte, schadenfrohe Seele, der Amtsbote von Elsen. Dafür war er ein armer, vielgeplagter Schelm. Er mußte hinaus in Wetter und Wind. Er mußte den Bauern Ladungen, Strafurteile, Mahnzettel und andere angenehme Eröffnungen bringen, bei welchen der Gelassenste und Sanftmütigste den Boten, so unschuldig dieser daran ist, doch mit aller Intensität seines Begehrungsvermögens zum Henker wünscht. Er war der Vermittler aller Drangsale, welche eine arme Bevölkerung heimsuchten, und es schien, er hatte früh instinktartig gefühlt, daß dies ein entsetzlicher Lebensberuf sein würde, wenn man ihn mit Teilnahme und Wohlwollen für die Betroffenen ausübte. Die Sache erleichterte sich nur dann ganz bedeutend, wenn man sich dabei ein gewisses Behagen anlernte und sorgfältig die zarten Keime der Schadenfreude ausbildete und großzog, welche in jedem Menschen liegen, und die auch Schilling gar nicht ungewöhnlich tief versteckt in seiner Brust vorfand. Er hatte auch gar keine Mühe mit der Entwicklung so glücklicher Anlagen; sie wuchsen von selber, sie wuchsen mit jedem Tage, an welchem er müde, durchnäßt und hungrig in seine Hütte zurückkehrte; mit jedem Tage, an welchem er aus Ungeduld über seines Vogts unbehilfliche, endlos schleppende, nie zum Ende kommende Behandlung der einfachsten Geschäfte, die ihn warten, stehen, rennen und mit Warten, Stehen, Rennen immer aufs neue beginnen ließ, hätte aus der Haut fahren mögen; mit jedem Tage, an welchem er sich den bittern Erfahrungssatz wiederholte, daß ein armer, von einem Jammersold zehrender Unterbeamter zu dem Leben eines Hundes verdammt sei.

Schilling also beruhigte sich jetzt alsbald über seine eigene Sorge, indem er schadenfroh die Verzweiflung seines Vorgesetzten beobachtete. Er überließ diesen darauf sich selber und wandte Hubert seine Aufmerksamkeit zu. »Mache der Herr Student, daß er fortkommt,« sagte er, »je eher, desto besser!«

Hubert blickte eine Weile auf den Vogt, als ob er eine Meinungsäußerung von diesem erwarte. Der Vogt aber war so tief in seine eigene Ratlosigkeit versunken, daß er sicherlich nicht daran dachte, mit seinem Rat jemand anderm beizustehen – er beschäftigte sich in diesem Augenblick damit, in erschrecklicher Trostlosigkeit mit beiden flachen Händen unaufhörlich auf seine Knie zu schlagen.

»Ich muß zuerst mit Marie reden«, sagte Hubert nach einer Pause; »wo ist sie? Führen Sie mich zu ihr!«

Als Hubert in die Wohnstube eintrat, stand Marie auf; mit bleichen Zügen, die ihre innere Bewegung verrieten, aber unbefangenen Blicks trat sie ihm entgegen und reichte ihm lebhaft ihre Rechte.

»Ich habe von meiner Mutter gehört,« sagte sie, »was Sie für mich getan haben. Ich danke Ihnen aus voller Seele dafür – mein ganzes Leben hindurch wird die Dankbarkeit für Ihre Hochherzigkeit nicht in mir erlöschen.«

Hubert schüttelte einen Augenblick schweigend die Hand, welche ihm mit so warmem Druck entgegenkam. »Ich wollte, die Gefahr wäre größer gewesen«, antwortete er dann: »ich würde Ihnen zuliebe größern Gefahren trotzen als dieser, die mich freilich zu einer weitern Flucht zwingt, sobald wir uns gegenseitig ausgesprochen und darüber verständigt haben ... daß ...«

»Nun daß ...«

Marie blickte fragend zu ihm auf. Sie begegnete einem Blicke, der sie plötzlich über und über erröten machte. Rasch entzog sie ihm die Hand, welche er noch immer gefaßt hielt, und trat ein paar Schritte zurück.

Huberts Verlegenheit stieg. Es ging ihm eine Ahnung auf, daß er Mariens Herzlichkeit vollständig mißverstanden.

Stotternd sagte er endlich: »Glauben Sie nicht, Marie, daß ich Vorteile aus unserer Lage ziehen will, die Sie ... vielleicht nicht ... mir einräumen wollen ... ich habe wirklich nicht im entferntesten gedacht ...«

Marie wandte sich ab und nahm rasch ihren vorigen Platz hinter dem kleinen Nähtische wieder ein, hinter welchem sie gesessen, als ob sie etwas wie einen Schutz dahinter suche.

»Wie könnt' ich von Ihnen etwas Unehrenhaftes glauben,« sagte sie dann, »ich meine, wir haben uns verstanden und können dies Gespräch fallen lassen.«

Die stille Frau hatte unterdes die beiden jungen Leute aufmerksam beobachtet und offenbar nicht verstanden.

»Meine Tochter«, sagte sie leise, »hat, wie ich fürchte, eine andere Neigung. Es kann aber niemals etwas daraus werden. Sie wird es bald einsehen und sich besinnen. Lassen Sie ihr Zeit dazu. Mir werden Sie willkommen und lieb sein. Sie sind erzogen von einem guten und redlichen Manne. Ich vertraue Ihnen. Aber Ihres Bleibens ist nicht länger hier, Sie müssen sich retten.«

»Also auch Sie, die so mutig den Feind in die Flucht geschlagen, Sie glauben noch an Gefahr? – Gut denn; aber ich gehe nicht eher, als bis ich auch Marien in Sicherheit weiß!«

Die stille Frau schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Nun wohl, ich will Sie beruhigen über Marie. Ich will sie zu jemand bringen, unter dessen Dach ihr kein Haar gekrümmt werden wird. Zu einem Ehrenmanne, an dessen festen Schloßmauern die Stirn des Gewaltigen sich brechen wird. Noch in der kommenden Nacht werde ich mein Kind in seine Obhut bringen. Er wird mir seinen Schutz nicht versagen,«

»Gott gebe es«, antwortete Hubert; »aber es ist ein wunderliches Land hier, wo die Menschen sich hinter feste Mauern flüchten müssen, weil die, welche die Macht haben, bei ihren Leidenschaften sich weder um Gesetz noch Recht scheinen kümmern zu brauchen. Es ist wahrhaftig schade, daß auf diesen öden und rauhen Bergkuppen nicht die alte heilige Feme mehr in voller Blüte steht; solch einem Herrn wie diesem Philipp wünscht man von ganzer Seele den Weidenstrick um den Hals. Man begreift aber auch, warum diese kurze und handliche Manier, Ruhe und Frieden zu stiften, just hier im Lande erfunden wurde! – Wollen Sie mir nicht den Namen des Mannes anvertrauen, zu dem Sie Marien bringen werden?«

Die Frau des Vogts schüttelte mit dem Kopfe. »Sie soll dort in Sicherheit und in Ruhe sein vor allem, was sie bedrängen kann«, entgegnete sie. »Ich will seinen Namen niemand nennen. Es ist ein Herr, den Sie ohnehin nicht kennen. Ich war einst als junges Mädchen ein Jahr lang in seinem Hause. Meine Eltern hatten mich dahin gegeben, damit ich das Hauswesen lerne. Seitdem ist er mir gewogen geblieben. Er ist auch gütig gegen Marie gesinnt; er hat mehreremal bei uns vorgesprochen, wenn ihn sein Weg in diese Gegend führte ... Er hat ebenfalls Leid und Kummer um sein Kind getragen, in frühem Jahren, und hat viel erlebt und ist rauh geworden und hart, daß die Menschen ihn fürchten. Aber ich weiß, daß er gut ist. Er wird mich nicht zurückweisen in meinem Elend!«

»So bleibt mir nichts übrig als zu gehen«, sagte Hubert.

»Zögern Sie jetzt nicht länger zu fliehen«, sagte die Frau des Vogts. Die Zeit drängt. Lassen Sie von Schilling sich führen; er wird Ihnen den Weg zeigen, um die nächste Grenze zu erreichen. Kommen Sie, ich will es Schilling selbst auftragen.«

Rasch hatte Hubert sich reisefertig gemacht und stand schon auf dem Flur, und Schilling trat neben ihn, um den Wegweiser zu machen.

Sie gingen über den Kirchhof, dann rechts um die alte Kirche herum, eine Stiege hinab und durch eine lange Dorfgasse.

»Nehmen wir einen Weg,« bemerkte Hubert, »der uns nicht durch die Dudenrodische Hovesaat führt... Gott weiß es, daß ich ein unschuldiger Mensch bin, aber ich habe es hier in wenigen Tagen schon dahin gebracht, daß ich zweier Herren Länder vermeiden muß.«

Sie schritten weiter. Als sie dem Ausgange des Dorfes nahe waren, fragte Hubert: »Wie weit werde ich zu gehen haben, bis ich an die Grenze komme?«

»Eine starke Stunde, das heißt, wenn Sie so weit kommen«, fiel Schilling ein, indem er sich umwandte und stehen blieb.

Auch Hubert wandte sich; er vernahm in diesem Augenblick den Hufschlag eines galoppierenden Pferdes, das hinter ihnen drein die Dorfgasse herunterkam.

Es war ein Reiter in blauer Uniform, der sich näherte und um den allerlei gelbes Schnür- und Riemenwerk flatterte, als er in voller Hast dahergesprengt kam.

»Das wird doch mir nicht gelten?« rief Hubert erschrocken aus.

Schilling schob mit einer schnellen, unvermuteten Bewegung seinen Arm unter den Huberts, erfaßte diesen und sagte: »Wir werden es ja sehen – der Mann winkt und danach scheint es beinaheso ...«

»Alle Teufel, so lassen Sie mich doch –«

»Damit ich um meinen Dienst bin, wenn ich Sie durchbrennen lasse!«, versetzte Schilling kühl: »daraus wird nichts – nur still gestanden!«

Hubert wollte ihn gewaltsam von sich schleudern, aber Schillings Hand war wie eine eiserne Klammer.

»Nur ruhig!« sagte er mit einer höhnischen Kaltblütigkeit.

»Ein schöner Führer, den man mir mitgegeben hat«, dachte Hubert und war versucht, zornig in des Vogts Redensart: die Frau ist zu dumm! einzustimmen, als der blaue Reiter auf schweißbedecktem Pferde neben ihnen hielt.

»Ist das der Student?« fuhr er Schilling an. »Ja, Herr Kammerhusar – das ist er; er wollte durchgehen, ich habe ihn festgehalten.«

»Brav von ihm,« fuhr der Husar fort, »jetzt kann er helfen, ihn eskortieren.«

»Wohin?«

»Nach Ruppenstein! Er soll unters Militär. Vorwärts!«

Der Mann wandte sein Pferd und zog zugleich ein Pistol aus der Satteltasche hervor, dessen Hahn er spannte. »Vorwärts, vorwärts!« wiederholte er dann barsch.

Hubert begriff zu gut, daß ihm Einwände und Worte hier nicht helfen würden; so schritt er jetzt voran, den Weg, den er gekommen, zurück. Ungefähr eine Viertelstunde vor dem Dorfe begegnete ihm eine schwerfällige alte Karosse, mit einem Kutscher in abgetragener Livree, mit zwei alten, mühsam den schlechten Weg daherkeuchenden Rappen bespannt. In dem Wagen saß eine seltsam und altfränkisch aufgeputzte Dame mit hoher gepuderter Frisur, die sich beim Anblick des Gefangenen aus dem Wagenschlag vorbeugte und mit ihren kleinen blinzelnden Augen neugierig auf den Studenten blickte.

Schilling und der Kammerhusar grüßten sie ehrerbietig, was die Dame mit einer Art stolzer Herablassung erwiderte.

»Wer ist die alte Person?« fragte Hubert, der bis jetzt keinen seiner Begleiter einer Anrede gewürdigt hatte.

»Das ist die Mamsellen-Mutter vom Schloß,« versetzte Schilling, »die besorgt unserer Erlaucht das ganze Hauswesen und hat einen großen Stein bei ihm im Brett. Jetzt wird sie die Mamsell Marie abholen; hab' mir's gedacht, daß es das Ende von der Geschichte sein würde.«

Hubert antwortete nicht. Er fühlte einen dämonischen Zorn, einen unsäglichen Groll in sich aufsteigen, in welchem er etwas wie einen Mord hätte begehen können. Seine jugendfrische offene Natur hatte noch nicht gelernt, sich wie eine feige und sklavische Welt um ihn her fügsam mit dem schreiendsten Unrecht zu vertragen. Der Gewalt gegenüber zuckte in ihm jeder Nerv im Drange nach Vergeltung durch Gewalt. Er dachte an Franz von Ardey; er dachte sich an die Stelle dieses Menschen, der so ruhig sich in die Herrschaft eines bösen Weibes zu fügen schien ... er, in dessen Lage, hätte lieber seine Knechte bewaffnet, alles Gesindel der Gegend angeworben, die Zigeunerdörfer aufgewiegelt und mit ihnen dieses Ruppenstein überfallen, niedergebrannt, vom Erdboden vertilgt, den »Tollen« an langsamem Feuer geröstet, und dann den Karl Moor in den fernen Gebirgen, die mit ihren rauhen baumlosen Kuppen im Osten und Süden vor ihm den Horizont schlossen, gespielt.

Hubert hatte einmal den Karl Moor von einer wandernden Schauspieltruppe aufführen sehen. Er hatte darüber gespottet. Das Stück war ihm vorgekommen wie ein Zerrbild. Er hatte nirgends eine Welt gesehen, wohin es paßte; nirgends Menschen in Fleisch und Blut erblickt, an welche die Ausgeburten des Poeten ihn erinnert hätten. Heute begriff er den Karl Moor und begriff den Poeten!

Noch eine Weile und Ruppenstein lag vor dem Gefangenen und seinen Häschern. Die alten, aus Bruchstein aufgeführten Häuser des Städtleins zogen sich einen Berghang hinan, der in der Mitte zwischen zwei tief in die Bergwände eingeschnittenen Schluchten lag; wenn etwas in dem dürftigen Neste hätte die Habgier eines Feindes oder einer Bande, wie wir vorhin Hubert eine in seinen zornigen Gedanken organisieren sahen, reizen können, so würden jene Schluchten ein Verteidigungsmittel von großem Wert gewesen sein. Jenseits des Orts, auf der halben Höhe des Berges, erhob sich ein massiver mächtiger Steinbau, das Schloß Ruppenstein, die Residenz Philipps des Tollen. Es stand so breit, stolz und selbstbewußt da, als sei der Eckstein der Gerechtigkeit selber hineingemauert, als bärgen sich moralische Schätze in seinem Innern, mehr als irdische im Turme des Rhampsinit, als sei jeder Tag seiner ruhmvollen Geschichte bezeichnet mit einem neuen Verdienst um das Glück derer, die sich vertrauend im Schatten seiner Mauern da unten angesiedelt; als ruhe auf jeder seiner Zinnen das Andenken an eine glorreiche Tat des Geschlechts, das sie aufgebaut; eine Tat des Sieges und des Schutzes für das Wohl und den geistigen Frieden der Menschen. So sah es aus, Schloß Ruppenstein, von weitem.

Nach der Talseite hin, von welcher Hubert kam, war das Städtlein mit einer verfallenden, aber hohen, hier und da neugeflickten Mauer geschützt. In der Mitte hob sich ein alter Torbau mit verwitterten Zinnen und verwitterten Wappen. Ein Soldat in grauer Uniform und mit dunkelgrünen Aufschlägen ging mit geschulterter Muskete davor auf und ab. Der Kammerhusar ritt an ihm vorüber, durch das Tor, und hielt vor einem Häuschen still, das an der innern Torseite links angebaut war. Es war die Wachtstube. Hubert wurde hier dem Gefreiten übergeben, der mit drei Mann den Posten inne hatte. Der Kammerhusar ritt weiter, um seinen Fang im Schlosse zu melden und die weitern Befehle des Gebieters einzuholen. Schilling trabte hinter ihm drein, vielleicht um eine Gelegenheit zu erspähen, dem Herrn seine geleisteten Dienste rühmen zu lassen.

Hubert warf sich ermüdet auf die Pritsche im Hintergrunde des kleinen, dunkeln, räucherigen Nachtlokals, um unterdes mit Muße über sein Schicksal nachzudenken. Wenn es wahr war, was der Kammerherr gesagt, daß er unter das Militär gesteckt werden sollte – und die Ablieferung in die Hände der Torwache schien dafür zu sprechen – so mußte dieses Schicksal trübselig sein. Wie unglücklich sahen die vier alten, magern, verwitterten Menschen in den knappen, erstickenden, abgetragenen Monturen aus, die in dieser Höhle eine von einer giftigen Tabaksorte verpestete Atmosphäre atmeten! Mt ihnen in Reihe und Glied gestellt, mit ihnen gedrillt, gescholten, mißhandelt zu werden, aus jeder Anrede eines Unteroffiziers die offizielle Versicherung heraushören zu müssen, daß man als ehrlos und für jede Beleidigung wie vogelfrei betrachtet werde ... es war ein schauriger Gedanke, und es gehörte des Studenten unerschütterlicher Mut, seine elastische Geisteskraft dazu, in dieser Lage nicht zu verzagen.


 << zurück weiter >>